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Iphigene in Deutschland
Komödienfetzen
von
Peter Podehl
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Iphigenie ist die älteste Tochter von Klythämnestra und Agamemnon, aus dem Geschlecht des Tantalus. Der war von den Göttern zu ewigem Leiden verdammt, weil er sie hatte verkohlen wollen. Und nun werden sich alle seine Nachkommen gegenseitig ermorden, oftmals aus reiner Wut und Unwissen um die wahren Begebenheiten. Zuletzt hat Klythemnestra zusammen mit ihrem Liebhaber ihren Gatten Agamemnon getötet, weil sie glaubt, er habe ihre gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Diana geopfert, um sich aus dem Fluch zu befreien. Orest, Iphigenies Bruder, bringt daraufhin die Mutter und ihren Geliebten um, um den Vater zu rächen. Das sind die letzten beiden Opfer einer langen Reihe von Familienmord und -totschlag.
Auf diesen Stoff wollte Peter Podehl eine Komödie aufbauen. Hm? 🤔
Aber der kann sowas:
Er wendet das Blatt! Think different, 180-Grad-Kehrtwende.
Seine Komödie spielt hinter den Kulissen, hinter der Bühne, auf der gerade Goethes “Iphigenie auf Tauris” zum Besten gegeben wird, in den beiden (Herren- und Damen-) Theatergardroben.
Da läuft ein ganz anderes Stück.
In einer ersten Schreibmaschinenfassung des ersten Aktes treten folgende Figuren auf:
Irene Grundmann (Grundmann war der Nachname meiner Großmutter), Garderobiere
Daniel Schrötter, Garderobier
Meierlich, alter Garderobier
Marialene, Schauspielerin
Die die Iphigenie spielt (Gisela Linden)
Der den Thoas spielt (Anton Goslich)
Der den Orest spielt (Winfried Stassen)
Der den Pylades spielt (Stefan Sieber)
Der den Arkas spielt (Raimund Wohlzogen).
Die die Iphigenie spielt, kommt schnaubend von der Bühne und lässt alsbald ihren Priesterinnenhabitus und auch gleich das Gewand fallen.
Der den Arkas spielt, des Königs von Tauris, Thoas’, Vertrauter, hat getrunken und lallt, aber sobald er ins Scheinwerferlicht tritt, ist er voll da und weiß das Publikum so zu überzeugen, dass niemand die (unsichtbare aber durchaus vorhandene) Fahne bemerkt.
Der den Orest spielt, spielt immer Theater, auch hinter der Bühne, da heischt er um Aufmerksamkeit mit allen möglichen aussagekräftigen Zitaten aus allen Rollen, die er je gespielt hat.
Zwischendurch fahren die beiden Garderobiers, Daniel in der Herren- und Irene in der Damengardrobe, mehrmals den Lautsprecher von der Bühne hoch. Sie müssen schließlich wissen, wie weit das Drama fortgeschritten ist, denn bald kommt wieder der Pylades dran, Orests Cousin, Freund und Helfer.
Da durchfluten fünfhebige Goethesche Jamben die Garderoben.
Es ist alles doch nur Theater.
Und es gibt Komödienstoff genug.
Ich möchte Goethe danken, denn in seinem Drama – wohlgemerkt Drama, nicht mehr Tragödie – hat eine Frau das Ruder in der Hand, Iphigenie. Kraft ihres Amtes als Priesterin der Diana wird sie weiteres Morden unterbinden und sogar ihren Bruder Orest vor den blutrünstigen Furien retten können.
“Das ewig Weibliche zieht uns hinan”. (Was natürlich der Schluss vom Faust wäre, aber so höre ich Goethes Herz schlagen.)
In Podehls Komödienkonzeption gibt es auch tragische Parallelen zwischen Irene/Iphigenie und Daniel/Orest. Beide sind Vertriebene aus Schlesien.
Die ersten Aufzeichnungen zur Komödie stammen von Ende der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts, aus der ersten Nachkriegszeit, als Peter und Charlotte am Weimarer Nationaltheater engagiert waren. Da erlebten sie täglich Backstage-Atmosphären aller Art. Sehr inspirierend für Peter, der aufs Spielen gar nicht so scharf war als vielmehr aufs Schreiben.
Irene ist eine ruhige umsichtige 39jährige. Daniel hat Blut an den Händen, er hat im Krieg zwar immer in die Luft geschossen, wollte aber dann in Liegnitz angesichts der Ausweglosigkeit mit seiner Frau Selbstmord begehen, als “die Russen” anrollten, vor denen damals alle berechtigte Angst hatten. Nur: für Daniel gab es keine Kugel mehr.
Eine solche reale Geschichte kenne ich von einem Schlesier, der öfters in unserem Haus in Babelsberg auftauchte. Da war ich vielleicht 5 oder 6 Jahre alt. Er nahm uns mit zum Baden in einem der vielen kleinen Seen, setzte mich auf seine Schultern und schwamm hinaus. Ich sollte so die Angst vor dem tiefen Wasser verlieren. Das hat erstmal nicht geklappt. Einige Jahre später, als wir bereits “in den Westen gegangen” waren, hat er sich dann doch erschossen. Die Gespenster der Vergangenheit – Geschichten, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können.
Wie ich meinen Vater kenne, dürfte Daniel in dieser nur fetzenweise vorhandenen Komödie zuletzt mit einer Zukunftsperspektive zur Ruhe kommen. In Irenes Armen.
Und dann gibt es noch
dieses geheimnisvolle
Bild von Erwin Hahs.
Mit dem doppelten
Titel links unten:
Eupa Orest
Orest Ok, das wäre der gerettete Bruder der Iphigenie.
Eupa und Ro, die beiden Titelfiguren aus dem Stück Eupa und Ro, das Peter zusammen mit Erwin geschrieben hat. Erwin malte hierzu wunderschöne Bühnenbilder.

Eupa und Orest sind sich in ihrer inneren Zerrissenheit ähnlich, ja, ich würde sagen, sie überschneiden sich in vieler Hinsicht. Gut also, dass dieses Bild so doppelt betitelt ist. Auch in Peter Podehls allererstem Theaterstück “Kommen und Gehen” ist der männliche Protagonist nach dem Krieg, nach Ende seines Soldatenlebens, nicht in der Lage, sofort in die Rolle des liebenden Ehemanns und in Kürze womöglich Vaters zu schlüpfen, so zu tun, als ob gar nichts gewesen wäre.
Erwin und Peter haben in den trotz aller Wunden hoffnungsvollen ersten Nachkriegsjahren viel gemeinsam gesponnen und entwickelt. Sogar ein Werk mit dem Titel “Kampf um den Erdball” rumorte in ihnen. Da sollten die Prozesse gegen Oppenheimer und Galilei gegenübergestellt, ineinander verflochten werden. Solche Gedanken knistern und krachen. Keine leichten Stoffe.
Aber kehren wir zur heitern Iphigenie-Backstage zurück. Zum Theater. Ich habe in den unordentlichen und stinkigen Papieren gewühlt, insbesondere nach einem Schluss gesucht, die Frage eben, worauf die ganze Komödie abzielt.
Fand ich nicht.
Ich fand die Spuren eines Scheiterns.
Zum ersten Akt gibt es eine Menge handschriftlicher Fassungen, und eine schreibmaschinengeschriebene. Die enthält viele Korrekturen und Streichungen, die Anmerkung, dass 138 Zeilen zu streichen wären. Eine Verschlankung, die diesem Akt sicher gut getan hätte.
Dann gibt es mehrere feierliche Deckblätter für den zweiten und den dritten Akt, aber mehr auch nicht. Nur Unmengen nummerierter und umnummerierter Aufzeichnungen, Gedanken, Fetzen, Überlegungen, über Jahrzehnte gesammelt, die nicht unbedingt komödienhaft sind.
Hm? 🤔
1951 verließen Peter und Charlotte das Weimarer Nationaltheater. Ich war gerade 3 Jahre alt. Damit waren diese von Frieren, Entbehrungen und Essensmarken (ohne die gab’s nur einfach nichts zu Essen), aber auch von unstillbarem Hunger nach Kultur gezeichneten magischen Theaterjahre vorbei. Charlotte hätte nie mehr so intensiv Theater spielen können. Es war das Ende ihrer beruflichen Karriere und der Beginn von Peters als Geschichtenschreiber und Regisseur.
Verloren gingen auch einige Voraussetzungen für das Fortschreiben dieser Komödie. Die Vertriebenen waren kein soooo aktuelles Thema mehr, man dachte an Aufbau, weshalb man Daniel und auch Irene dann ein anderes Schicksal hätte andichten müssen. Und es fehlte am laufenden Anschauungsunterricht der Theatergarderoben. “Iphigenie auf Tauris” wurde in den Theatern immer seltener gespielt. Damit wurden auch die komödiantischen Parallelen zwischen den beiden Stücken nicht mehr unmittelbar erkennbar.
So what?
Peter murkst rum, wie er oft selber von sich sagte, wenn er nicht weiter wusste. Die zündende Idee, der Click, ist offensichtlich ausgeblieben. Das schlägt sich in allen zum Teil sehr reichhaltigen Aufzeichnungen bis in die 70er Jahre nieder. Viele gute Ansätze, ein paar sprühende Ideen, aber das Ganze fügt sich nicht zusammen.
Wenn geneigter Leser so eine zündende Idee hat, die sicher irgendwo rumfliegt, möge er sich bei mir melden.
Claudia Podehl
©
P.S.
Ich wollte noch einige Auszüge aus Peters umfangreichem Papierwust hinzufügen, aber das Papier stinkt dermaßen, dass mir davon schlecht wird. Allen Ernstes. Ich habe alles in einer Plastiktüte fest verschlossen in die Tiefkühlbox gesteckt. Dort soll “Iphigenie in Deutschland” mindestens 14 Tage bleiben, dann soll der Papiermoder abgetötet sein, so heißt es.
Also bitte Geduld.