Am Ende eines übervollen Lebens

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Am Ende eines übervollen Lebens

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Allerletzte Zusammenfassung von Charlottes Sprüchen,
die posthum zu ihrem 90. Geburtstag
von
Peter
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zurück zu Charlotte

„Ich habe einen Charakter wie Samt und Seide –
mit ein paar Hornissen dazwischen.“

Ausgegebenem Anlass sagte Charlotte

Befindlichkeiten:

Fangen wir anspruchsvoll  – oder gar ketzerisch? – an: „Der Mensch denkt – Charlotte lenkt.“

Sehr typisch sagt sie anlässlich Lektüre: „Ich muss ein Buch in den Bauch nehmen. Anders kann ich gar nicht lesen.“

Anlässlich etwas mühsamen Wachwerdens sagt sie: „Ich schwimme mit meinem Gehirn noch in der Glibbermasse.“

Anlässlich schöner Selbsterkenntnis sagt sie: „Ich habe Spontanellen im Blut. Das ist eine Gesundheit, keine Krankheit.“

Ich weiß keinen Anlass für dieses Bekenntnis: „Ich habe lauter bunte Ostereier im Kopf. Die vielen Menschen, alle so bunt, und so schwer einzuordnen.“

Wir haben sehr viel vor. Aus solchem Anlass sagt sie: „Mein Geist ist begierig, das jeweils Anstehende mit Würde, Freude und gezieltem Verstand zu bewältigen.“

Nachts sagt sie: „Ich friere.“  Wenig später:  „Die vielen Decken. Das ist alles zu warm.“  Meine Vorhaltungen bezüglich des Widerspruchs pariert sie mit: „Kannst du mal sehen, wie vielschichtig ich bin.“

Anlässlich Hörschwierigkeiten sage ich: „Du verstehst nichts im Fernsehen, du verstehst schlecht am Telefon.“ „Ich verstehe alles.“ Ich lasse nicht locker, was sie besonders gut leiden kann: „Woran kanns liegen?“ Mit einer schwer zu deutenden Geste erwidert sie: „An den Zwischenräumen…“

Aus Anlass einer Begegnung mit einem unangenehmen Betrunkenen in der Kaufingerstraße: „Er hat Zahnlücken und wagt, mich anzusprechen.“

Aus Anlass einer Autoreparatur, die unsere Mobilität stark einschränkt, sagt sie: „Wie sind uffemissen und annewiesen.“ (Es kann sein, dass dies ein Ausspruch des Herausgebers ist.)

Manchmal war der Mittelmeerraum nicht nur rundweg angenehm: „Dieses Klima hier macht aus einem Mitteleuropäer, der Temperaturunterscheide kennt, einen Menschen, der er gar nicht ist.“

Je älter sie wurde, desto weniger gerne reiste sie. So summiert sie am Ende einer Reise: „Ich bin eingeweiht worden in den Anfang vom Ende meiner Existenz.“

Bei einer Kur sagt Frau Trautsch – wer immer das gewesen sein mag – zu ihr: „Und nun erzählen Sie uns eine Geschichte aus Ihrem Leben. Sie hatten ein so abwechslungsreiches Leben.“ Sie aber sagt: „Nein. Ich bin hier, um gesund zu werden. Das strengt mich alles zu sehr an.“

Anlässlich Identitätsproblemen sagt sie: „Ich bin jemand, den ich gar nicht kenne.“

Wer wagt bei ähnlichem Anlass eine Antwort?: „Bin ich eine, die eine ist?“

Anlässlich Depressionsneigung spricht sie von einem „schwarzen Horizont“.

Hier münden alle Befindlichkeiten: „Mich kann nur die Liebe retten.“

Aussprüche – einfach so und fast ohne Kommentar

„Ich habe einen Charakter wie Samt und Seide – mit ein paar Hornissen dazwischen.“

„Es ist zu dunkel, um dich zu verstehen.

„Seelische Schokolade.“

„Ich bin immer großzügig, wenn ich was loswerden will.“

„Ich bin in Mitleid ausgebildet.“

Die Adventszeit für Charlotte „lauter Goldstaub“.

„Erich Engel, – ein Name aus einer Zeit, als ich noch wollte.“

„Ich brauche morgens Zeit, damit mein Geist sich einschaukeln kann.“

„Ich habe so ein ambivalentes Aufsteh-Unbehagen.“

Weiß nicht recht, was, aber: “… das hat rationale Gründe von großer Albernheit.“

„Mir fehlt nur eins: die Osterhasensymphonie.“

„Ich bin in einen Furien-Zustand geraten.“

„Aber doch nicht mit mir, Mensch! Du Affe!“

„Die Erinnerung tut meinem Herzen im Magen weh.“

„Ich möchte jetzt kein Trauerweiden-Gespräch führen.“

„Ich kriege das alles nicht unter das Herz meines Hutes.“

„Ich will nach Haus. Ich will den Rauch von unserer Hofpfisterei steigen sehen.“

„Wir sind eine Quelle.“

Liebe – zuerst die Schattenseiten

Im Bewusstsein eigener Gefährdung sagt sie: „Zünde mir nicht das Herz an.“

Anlässlich einiger Geduldsproben sagt sie: „Ich habe keine Antwort erwartet. Aber ich wollte es mit dir besprechen.“

Anlässlich meines Stöhnens über die berufliche Belastung lautet ihre Hilfestellung: „Ich mache dir Dampf in deine Willensseele.“

Der Anlass ist mein Versuch, sie zu massieren: „Du hast kein Feingefühl für meine Muskulatur.“

Wenn wir nahe beisammen waren, hätte ihr wohl mein Atemstillstand gut getan: „Deinen gebrauchten Atem pfefferst du mir ins Gesicht.“

Aus Anlass unterdrückter Liebe sagt sie: „Du siehst aus wie ein Spießer, der im Gehirn Rechthaberei hat.“

„Du bist nur mit Komiker-Vorzeichen zu genießen.“

Ich bekenne, dass mir das Folgende auch manchmal durch den Kopf gegangen ist: „Du willst, dass es so ist, damit du es komisch finden kannst.“

Gegen diesen Ausspruch ist eigentlich nichts einzuwenden: “Du redest, wie du seelisch willst.“

Ich wiederhole einen Ausspruch von ihr, wohl unkorrekt: „Du hast gesagt: Mir ist es lieber, du bist ein Schwein, als dass ich dich nicht hätte.“ Sie sagt: „Nee, das war konstruktiver.“

Anlässlich gestörter Harmonien sagt sie – es bezieht sich auf meine KOMÖDIE VON DER WELT IN ERWARTUNG DES MENSCHEN, in der von sehr großen Zeiträumen immer wieder die Rede ist: „Ich werde heute im Laufe des Tages verschwinden und komme erst in 3,9 Milliarden Jahren wieder zurück. Ich rufe dich aber zwischendurch mal an.“

Aber Liebe waltete ja nicht nur zwischen ihr und mir. So sagt sie zu Dorothee Horn vom WDR Köln: „Im Januar ziehen Sie dann mal den Wintermantel an und kommen zu uns nach München.“

Aber auch das wäre noch Liebe: „Wenn die Veilchen sprießen … Mein Bruder …“ „Was hat dein Bruder mit Veilchen zu tun?“ „Weiß ich nicht. Er muss sich wohl bei Veilchen aufgehalten haben, sonst wäre mir das nicht eingefallen.“

Anlässlich Zusammenlebensnöten hegt sie die so verständliche Illusion einiger Allgemeingültigkeit: „Ich habe nebenan ein möbliertes Zimmer.“

Anlässlich vollendeten Frühstücks will ich an den Schreibtisch gehen und sage: „Ich gehe jetzt ans Leben.“ Da sagt sie: „Das Leben sitzt hier.“

Anlässlich meiner Unempfindlichkeit sagt sie: „Die Schimpfe geht auf dir nieder wie warmer Regen.“

Ich pflegte beim ersten Frühstück, als sie noch im Bett lag, mich quer über das Fußende zu legen und mit der Hand ihr Knie zu greifen. Anlässlich solcher Vorhabens sagt sie: „Gib mir mein Digitalis, bevor du dich an meinem Knie ergötzest.“

Ich sage in Hannover zu Charlotte: „Ich weiß nicht, ob du nicht verpflichtet bist, nett zu mir zu sein.“ Der Satz gefällt ihr so gut, dass sie sagt: „Das könnte mich sogar veranlassen, nett zu dir zu sein.“

Aus Anlass gewisser Unbegreiflichkeiten sage ich zu ihr: „Charlotte, ich glaube, du spinnst.“ Sie erwidert entschieden: „Nein, ich weiß, dass ich spinne!“

Ab jetzt werden die Sprüche immer liebevoller: „Du redest Quatsch. Aber ich liebe dich.“

„Du bist ein Kompaktikum.“ – ”Du bist ein Stabilikum.“

Anlässlich Schmiegens sagt sie: „Es ist wunderbar, dass ich an deiner warmen Seite eine Station gefunden habe.“

Aus Anlass gewisser Leichtherzigkeiten von mir sagt sie: „Ich habe einen Clown geheiratet. Aber das ist vielleicht nicht das Schlechteste.”

Ich las, dass Bismarck bis zu neun Eier zum Frühstück aß. Zugleich – und deswegen steht das hier – zugleich las sie in einem völlig anderen Buch, dass Zuckmayr bis zu 16 Eier zum Frühstück aß.

Was will ich mehr?: „Was Besseres als dich konnte ich auf dem Männermarkt nicht finden.“

Noch mehr?: „Du bist die Summe meiner Liebhaber.“

Das hat mich denn doch sehr erstaunt: „Du bist ein schöner Mensch.“

Sie möchte meinen Bauch aufschneiden, wie beim Wolf im Märchen, und sich hineinverkriechen vor der Fülle des Anstürmenden. Nur ab und zu möchte sie hinausschauen.

Anfechtbar mag diese Satzkonstruktion sein, als fehle das Verbum. Wenn ich aber nachgrabe, hat er eine Riesendimension, ausgesprochen anlässlich einer Versöhnung nach hässlichem Streit: „Was wir tun, ist unsere Seele.“

Wortschöpfungen – auch gering kommentiert

„Roseninnig“

Sie nennt uns „Schlafschlemmer“.

Sie schreit auf. Ich frage: „War das Wonne oder Schmerz?“ Sie sagt: „Schmerzwonne.“

Das kam aus Bereichen zwischen Tag und Traum. Da ist sie eine „Tartargeburt“.

„Alles Flachkäse.“

Endlich mal ein neues Schimpfwort: „Vollkornidiot!“

„Pfingstrosenkavalier.“

Ich sage, skeptisch beschwichtigend: „Alles ein bisschen viel.“ Sie sagt: „Ja, aber es hat schon viel Vieleres gegeben.“

Häusliches

Als wir beim Notar den Hauskauf Aretinstraße 6 besiegelt haben, bekennt sie im Fahrstuhl nach unten, dass sie dem Notar die Handgelenke hinhalten und sagen wollte: „Nehmen Sie mich gleich fest. Das ist ja gar nicht zu schaffen.“

Anlässlich Wohlbefindens seufzt sie: „Wir haben es so schön hier, dass wir gar nicht dazu kommen, es schön zu finden.“

Anlässlich Sonnenuntergangs sagt sie: „Wie kann man bei so einem Abendhimmel die Vorhänge zuziehen?“

Ein Zinnengel wäre an der Wand zu befestigen: „Engel rumliegen lassen wäre keine gute Sache.“

Anlässlich Abreisens bei Sonne ist sie sehr erstaunt, einen Regenschirm mitnehmen zu sollen.

Andere würden sagen: Wir brauchen mal wieder frische Bettwäsche. Sie sagt: „Die Bettwäsche macht einen müden Eindruck.“

Bei der Morgenmahlzeit sagt sie: „Unser Frühstück strömt einen gemischten Geruchssalat aus.“

Sie reicht mir das Honigbehältnis hin: „Hier ist überall kein Honig mehr drin.“

Als die Getränke nicht mehr so recht schmecken wollten: „Grüner Tee schmeckt wie Heu.”  „Und schwarzer?“ „Wie Stroh.“

Ich will ein bisschen helfen: „Hast du schon mal Hagebutte mit Süßstoff probiert?“  Sie sagt: „Nein, aber ich weiß wie das schmeckt: Das schmeckt wie Hagebutte mit Süßstoff.“

„Die Sachen aus dem Reformhaus schmecken alle ohne Sünde.“

Weisheiten

„Auch ein blindes Huhn legt mal ein Ei.“

„Ich bin im Geiste, in meinem Charlottensein auf der Suche nach etwas.“

Anlässlich Einkaufens von Pfirsichen, sie anfassen und sich sagen lassen: „Wenn das Jeder macht?“ Und antworten: „Ich bin nicht Jeder. Jeder darf das natürlich nicht.“

Anlässlich der Empörung über den schlechten Zustand der Welt: „Sie lügen alle!“ „Wer?“ will ich wissen. Sagt sie: „Alle. Ich kann dir jetzt im Einzelnen keinen Namen nennen.“

Gebet in Jena, als sich abzeichnete, dass der Beruf verloren gehen könnte: „Herr, forme mich, aber lass es nicht schwer werden.“

Und das ist ein wunderbares Traumgespinst, das dem Dadaismus alle Ehre gemacht hätte: „Nur Mut! Nur du fußt den Anfangslauf der Zeit selber.“

Was für ein Imperativ!: „Geist, gehe bitte nicht baden!“

Und der Dank am Ende eines übervollen Lebens: „Gott hat mich in einen goldenen Rahmen gefasst.“

© Charlotte

Claudia erzählt
wie Charlotte das Theater schließlich aufgeben musste

Zum 85. Geburtstag – gelesen von Peter und Charlotte am 30. Mai 1997
Zum 80. Geburtstag – gelesen von Peter und Charlotte am 30. Mai 1992