Charlottes Sprüche – zum 80. Geburtstag

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Aus gegebenem Anlass sagte Charlotte

Die gesammelten Aphorismen ihrer spontanen Art

Herausgegeben von ihrem Ehemann Pepo

Diese 1. Abteilung erscheint
zu ihrem 80. Geburtstag
am 30. Mai 1992
in München

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Auftakt

Anlässlich der Anhörung des Bach’schen Präludio C-Dur, des ersten aus dem Wohltemperierten Clavier, erster Teil, das wir täglich morgens dreimal zu spielen pflegten – oder auch zu spielen versäumten – sagt sie: „Heute hat die Musik vor der Tür eines Engels gestanden und um Einlass gebeten; und die Tür ist ein wenig aufgegangen und die Musik ist beim Engel eingetreten.“

Morgendliches

Aus Anlass eines beliebigen Erwachens sagt sie: „Frühmorgens muss ich mich immer erst in den Frohsinn des Tages einrasten.“

Aus Anlass der erfragten Uhrzeit: 1 Uhr 15 sagt sie: „So jung ist der Tag noch.“

Anlässlich eines vergeblichen Schlafversuchs nach dem Frühstück sagt sie: „Dadurch, dass ich mir was in den Wanst einverleibt habe, ist natürlich schon der Tag im Körper.“

Persönliches Charlottiges

Anlässlich gymnastischer Übungen sagt sie: „Ich öffne die Poren meiner Seele, fahre meine Antennen aus. Ich empfange, ich nehme wahr: die Welt, die Erde, den Kosmos.“

Anlässlich vieler Arbeit sagt sie: „Ich bin ein Fleiß.“

Aus Anlass kritischer Blicke in den Spiegel sagt sie: „Ich habe ein paar Knitterfalten in die Fresse gekriegt.“

Aus Anlass großer Inanspruchnahme sagt sie: „Ich hatte seelisch alle Hände voll zu tun.“

Aus Anlass emotionalen Überdrucks sagt sie: „Wenn mir vor Angst das Herz aus dem Kopf springt.“

Anlässlich beachtlichen Wohlbefindens sagt sie: „Wenn ich nur wüsste, warum ich so aufgedreht bin? Vielleicht, weil ich weiß, dass es so ist, wie es ist.“

Aus Anlass großer Eigennot sagt sie: „Mein Herz ist ein zerknautschter Scheuerlappen.“

Anlässlich von Betrachtungen über das Altern sagt sie: „Kein Mensch bleibt verschont vom Verfallsdatum.“

Aus Anlass einer leisen Kritik an ihrem rabiaten Ton sagt sie einsichtig: „Ich bin auch warm angezogen.“

Aus gegebenem Anlass sagt sie: „Ich habe nachmittags so gar kein Interesse an mir.“

Aus Anlass sehr langwieriger Plastiktütenauswahl sagt sie: „Meine Umweltfürsorge geht parallel mit meinem Geiz.“

Aus Anlass fälliger Selbsteinschätzung sagt sie: „Ich bin sehr sprunghaft und habe auch sonst noch gute Eigenschaften.“

Aus Anlass eines Trittes auf meinen Fuß sagt sie nicht etwa ‚Entschuldige‘, sondern: „Wieso stellst du deinen Fuß dahin, wo ich hintrete?“

Aus Anlass ihres Liebesbegehrens sagt sie: „Ich kann mit sieben Männern auf einen Streich fertigwerden, aber nicht unbemannt.“

Anlässlich vieler Erfahrungen sagt sie: „Mein Staat ist meine Familie.“

Aus Anlass schöner Geschichten von Lavinia sagt sie: „Dieses Kindes wegen werde ich alles tun, dass ich nicht sterbe.“

Aus Anlass der Nöte, in die Thomas auf seinem beruflichen Weg geriet, sagt sie: „Mein Herz ist erschöpft und trägt einen Mantel aus Trauer.“

Anlässlich meines Bekenntnisses ihr gegenüber: „Du bist meine feste Burg“ sagt sie: „Merkwürdig. Und ich komme mir so wacklig vor.“

Aus Anlass eines gewissen Hungers sagt sie: „Mir ist jetzt so, als ob mir nach etwas wäre.“

Anlässlich einigen Weltschmerzes sagt sie: „Das man so ins Unreine lebt …“

Aus Anlass mancher Leiden sagt sie: „Wir sind auf der Welt, um zerschlissen zu werden.“

Aus Anlass großer Not sagt eine innere Stimme zu ihr: „Frankiere dich.“ Es dauert, bis ihr die Übersetzung ins Bewusstsein kommt: „Befreie dich.“

Energetisches

Aus Anlass leiser Kritik an ihrer Redeweise sagt sie: „Ich spreche immer mit einer kleinen Platzpatrone.“

Aus gegebenem Anlass nennt sie sich eine „hochdampfgefüllte Lokomotive.“

Anlässlich meines Hinweises auf ihre etwas barsche Redeweise sagt sie: „Ich habe einen etwas aggressiven Ton am Leibe, aber das entspricht meiner Energie, an der du, an meiner Schulte liegend, labsalst.“

Aus Anlass meines Satzes: „Ich bin ein Intellektueller, der seit vierzig Jahren mit einem Dynamo verheiratet ist,“ sagt sie: „Nimm dich in acht, heute bin ich Doppeldynamo.“

Topographisches

Anlässlich eines Genfbesuches sagt sie: „Ich hatte an Genf eine andere Erinnerung. Damals war der See rechts.“

Aus gegebenem Anlass sagt sie: „Wir sind mal wo langgefahren und haben was gesucht.“

Aus Anlass eines Spaziergangs auf der Hochleite sagt sie: „Wenn man diesen Weg langgeht, kriegt man Sehnsucht.“ Ich frage: „Wonach?“ Sagt sie: „Diesen Weg langzugehen.“

Anlässlich von Ausflugsüberlegungen sagt sie: „Und dann können wir auch noch dahin fahren, wo wir schon einmal waren.“

Literarisches

Aus gegebenem Anlass sagt sie: „Proust einverleiben wie einen Topfenpalatschinken.“

Aus Anlass der Feststellung, dass Hans Urs von Balthasar bei Claudel anstatt ‚Wollust‘ das zahmere ‚Wonne‘ gewählt hat, sagt sie: „Geizkragen.“

Aus Anlass der Lektüre einer Heinrich-Heine-Biografie sagt sie: „Er war ein durchflochtener Mensch.“

Gesundheitliches

Aus Anlass verschiedener Unpässlichkeiten sagt sie Verschiedenes: „Mir ist im Magen so, wie mir nicht sein sollte.“  „Ich habe was im Magen… Nein, nicht im Magen – in den Hohlräumen der Seele.“  „Kopfschmerz bis auf die Augen runter. Ich kann nicht richtig kucken, ich kann nicht richtig denken, aber ich rede ziemlich viel.“   „Magengeschwürdruckherzschmerzen.“

Aus Anlass mangelhafter Belüftung sagt sie: „Ich brauche Sauerstoff.”

Aus Anlass einer Konvaleszenz sagt sie: „Weil ich anfange, wieder leise in mir selbst Station zu nehmen.“

Aus Anlass schwerer Erkrankung sagt sie: „Nachts kommt immer die Stunde, wo ich Notdampf ablassen muss.“

Anlässlich eines Ausgangs zu einem Spaziergang in Köln sagt sie: „Der Sauerstoff des Kölner Grüngürtels soll meine Knie umwedeln.“

Aus Anlass sehr heftigen Rückgratwehs sagt sie: „Ich würde meinem Ischiasnerv gerne einen in die Fresse hauen.“

Aus Anlass einer Empfindung von Vergnügen sagt sie am Abend des ersten Ferientages: „Wieso sind wir noch nicht erhohlt?“

Aus dem Eheleben

Anlässlich ihrer Frage nach der Art meiner Liebe, sage ich: „Ein Fels.“ Auf meine Gegenfrage antwortet sie: „Ein Sturzbach.“

Aus Anlass meiner Aktivitäten am frühen Morgen sagt sie, die immer etwas länger für den Einstieg in den Tag brauchte: „Du bist ein Wachling.“

Aus Anlass meiner Schreibpläne für DIE KOMMÖDIE DER WELT IN ERWARTUNG DER MENSCHEN sagt sie: „Das geht nur, wenn es die Leichtigkeit einer Vogelfeder hat.“

Aus Anlass einer Auseinandersetzung frage ich sie: „Wie stehst du zu mir?“ „Fremd,“ sagt sie. Einige Stunden später, so registriert es das Tagebuch, sagt sie: „Du bist ein Segen.“

In Erinnerung an unsere Frühzeit, wo ich sehr eloquent eine schöne, gemeinsamberufliche Zukunft malte, sagt sie: „Ich bin dir auf den wundervollen Leim gegangen.“

Anlässlich eines Bergurlaubs sagt sie: „Bis das Höhenklima durch deine seelische Speckschwarte durch ist.“

Anlässlich meines gelegentlich penetranten Beharrungsvermögens sagt sie: „Du stehst hier in Zeitlupe.“

Aus tief empfundenen Anlass sagt sie zu mir: „Du warst bestimmt mal meine Mutter. Sonst wäre meine Sehnsucht, in deinen Leib zu kriechen, nicht so groß.“

Aus gegebenem Anlass schimpft sie mich aus, mitten in der Nacht. Als ich, aus dem Schlaf kommend, sie auf die Nachtzeit hinweise, sagt sie: „Ich kann dich nur nachts ausschimpfen – tagsüber komme ich nicht dazu.“

Aus Anlass einer Anschauung meiner Person aus einiger Entfernung sagt sie: „Du hast in deiner Haltung ein bisschen was von zerknittertem Zeitungspapier.“

Aus Anlass einer Anschauung meines Gesichts aus nächster Nähe sagt sie: „Du siehst aus, wie ein Kartoffelpuffer, der sich mal rasieren müsste.“

Anlässlich von Klage über meine Gesundheitszustand sagt sie: „Wieso bist du schon wieder krank? Du hast doch gerade eine Operation hinter dir!“

Aus Anlass guten Schlafens an meiner Seite nennt sie mich ihre „Schlafsäule“.

Aus gegebenem Anlass nennt sie mich „Seelenlügner“.

Aus nicht mehr rekonstruierbarem  Anlass sagt sie zu mir den untergründigen Satz: „Dein Unvermögen, meine Süchte zu erfüllen.“

Aus Anlass der Feststellung, dass ich ihr den Rücken mit nicht ganz sauberen Händen einreibe, sagt sie: „Ich wasche mich, damit ich was Feines bin, und du schmierst mir Käse auf den Rücken.“

Aus Anlass gewisser Albernheiten von mir sagt sie: „Lass deinen Selbstdarstellungstrieb in der Besenkammer!“

Anlässlich einer meiner Aufzählungen von bedrohlichen Schwierigkeiten sagt sie: „Hörst du auf! Du hast immer einen Hammer im Mund!“

Aus gegebenem Anlass sagt sie zu mir: „In mir breitet sich ein sanfter, flockiger, leichter Teppich aus lauter Liebe zu dir aus.“

Aus Anlass einiger Unzufriedenheit mit mir sagt sie: „Du bist ein alter konservativer Grundknochen.“

Anlässlich einer Schlaflosigkeit steht sie auf, kommt aber bald wieder, legt sich eng an meine Seite und sagt: „Mein Geiz, dein Fleisch zu entbehren, ist zu groß.“

Aus Anlass meiner Belästigung mit dem Iro-Atlas der Astronomie sagt sie: „Mir wäre es lieb, wenn du mein armes Gehirn nicht auch noch mit dem Saturn vollpacken würdest.“

Das sagt sie – aus welchem Anlass wohl -: „Mein geliebter – liebter – liebter Peter…!“

Sprachliches

Aus Anlass des ihr völlig nebulös erscheinenden Wortes Merchandising sagt sie: „Meisendurching“.

Aus verschiedenen Anlässen erfindet sie diese Worte:  „Augengriff“   „Anlieben“ und „anliebenswert“  „Torpedo mobile“.

Aus Anlass einer Verärgerung zieht sie zwei Worte zusammen: „So was Blöses!“

Aus Anlass einer Liebeserklärung und eingedenk der Regel, dass englische Frageformen mit to do gebildet werden, sagt sie: „Love you do me?“

Marginales

Aus Anlass des Bildzeitungsaufschreis „Halbwüchsiger vergewaltigt Frau in Kirche!“ sagt sie: „Der arme Junge!“

Anlässlich eines Aufstiegs auf den Jägerkamp sagt sie: „Ich atme die Steine ein – mit Wohlgenuss.“

Aus Anlass eines Kampfes mit dem Kurzzeitgedächtnis sagt sie: „Das Schlimme ist – jetzt weiß ich nicht mehr, was das Schlimme ist.“

Aus gegebenem Anlass sagt sie: „Es ist so schönes Wetter – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Anlässlich einer Diskussion um Prinzipientreue sagt sie: „Die festen Säulen sind da, um sie bewegen zu können.“

Aus Anlass von bedeutsamen Ärgernissen mit Mitmenschen sagt sie: „Wer mich verliert, verliert viel, denn ich kenne meinen Wert.“

Anlässlich von Planungsüberlegungen sagt sie: „Und wenn man sich umschaut auf das, was man alles bedenken muss, kriegt man ja die Augen nicht mehr leer.“

Aus Anlass von Trostbedürftigkeit sagt sie: „Ich kann rausgehen und meine Tanne streicheln.“

Anlässlich eines gerade beendeten Telefongesprächs sagt sie: „Hazel ist nach Dänemark gefahren.“ Ich sage: „Du meinst Holland.“ „Ja,“ sagt sie. Sage ich: „Sag doch Holland, es erleichtert die Verständigung.“ Sagt sie: “Wenn mir Holland eingefallen wäre, hätte ich ja Holland statt Dänemark gesagt.“

Aus Anlass einer mir etwas zu kräftig ausgefallenen Kritik an irgendwelchen Drittpersonen sage ich: „Was bellst du denn so?!“ Sagt sie: „Ich will, dass du mitbellst.“

Anlässlich eines Sonnenbades sagt sie: „Die Sonne lüstert einem in den Wanst hinein.“

Anlässlich der Notwendigkeit, die Gegenwart unleidlicher Menschen zu ertragen, sagt sie: „In deren Gen ist bereits der Hornochse einprogrammiert.“

Aus nicht mehr nachvollziehbarem Anlass sagt sie: „Das Blut des Geistes.“

Aus Anlass der Enkelbemerkung: „Charlotte, du hast deinen Morgenrock linksrum an,“ sagt sie: „Ach, deshalb habe ich die Taschen nicht gefunden.“

Aus Anlass einer gründlichen Badezimmerreinigung sagt sie: „Ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe. Es kommt mir vor, als habe ich dem Haus die Zähne geputzt.“

Aus Anlass eines bestimmten Bedarfs sagt sie: „Gib mir mal das da, was da irgendwo liegt.“

Anlässlich einer Aufzählung ihrer Verdienste um das Haus in der Aretinstraße sagt sie: „Als erstes habe ich es gesehnt.“

Theaterliches

Aus Anlass von Überlegungen beim Schwimmen in Porto Pino (Sardinien) sagt sie beim Abtrocknen: „Ich hatte ein sehr erfolgreiches Leben als Schauspielerin auf vielen Bühnen. Aber mein zweites Leben mit der elfköpfigen Familie ist mindestens so erfolgreich.“

Anlässlich eines Konzertbesuchs sagt sie vom Dirigenten Sandor Veigh: „Er hat den Rücken eines Maikäfers.“

Anlässlich einer Vorstellung des Spanischen Nationalballetts sagt sie: „Die haben Stolz in den Beinen.“

Anlässlich der Lektüre ihres Kontoauszugs sagt sie: „Ich habe so wahnsinnig gerne Theater gespielt, und jetzt kriege ich auch noch eine Rente dafür!“

Gebet

Aus Anlass einer Fürbitte für die Familie sagt sie: „Umkleide sie mit einem Mantel aus lauter Liebe.“

© Charlotte

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