Peter, Teresa, Togliattis Tomaten und das Tonbandgerät

von
Claudia Podehl

Italiano

Peter war ein nur scheinbar gelassener Mensch. Hinter der ruhigen Maske verbarg sich ein äußerst aufmerksamer Beobachter. Sogar als 80jähriger, als er eigentlich alle Aufmerksamkeit darauf hätte richten müssen, wohin er seine Füße setzte, lief er als Hans-Guck-in-die-Luft rum, stürzte, wenn er allein war; wenn wir dabei waren, mussten wir ihn andauernd warnen: Vorsicht Stufe, Vorsicht, Stoplerstein, Vorsicht Stolperloch!

Stets neugierig beobachtend bemerkte er so, dass Flamingos das Knie nach hinten biegen, und wenn ich in tiefster italienischer Provinz in einem Supermarkt den Erwerb von Bettwäsche im Sonderangebot erwog, guckte er mir über die Schultern und lachte los: Na sowas: „Kaiser Fritz“ auf italienischer Bettwäsche!!! Hahaha. – Tatsächlich hieß die Bettwäsche so. Nur war ich natürlich eher mit der Qualität der Ware beschäftigt, während er las. Er las einfach alles. Buchstabierte alles, selbst als der schlampige Augenarzt vergessen hatte, sein Altersschielen auszugleichen, und das genaue Hinschauen ihm Schwindel und Kopfschmerz verursachte, konnte er es einfach nicht lassen, weiter alle Buchstaben wo und in welcher Sprache auch immer aufzusaugen.

Was er dann sah und entdeckte und als in einer seiner Geschichten für verbratungswürdig erachtete, wurde sofort festgehalten. Das ging soweit, dass er in früheren Zeiten beim Autofahren anhielt, einen Stift und ein kleines Büchlein hervorholte, um das Beobachtete, eine Pointe, eine Formulierung festzuhalten. Stets trug er die für solche Aufzeichnungen notwendigen Utensilien bei sich.

Dann kam die Revolution: ein kleines batteriebetriebenes Tonbandgerät, das er in die Brusttasche seines Hemdes stecken konnte. In unserer eher untechnologischen Familie war das zunächst ein wahrer Luxus.

Das ging dann so: Peter erfuhr von gerade aus Spanien zurückgekehrten Bekannten, dass die Orientierung diesem Land schwierig sei, weil es fast nirgendwo Wegweiser gab. Dann wurde das Tonbandgerät hervorgeholt und Peter sprach laut: „In Spanien gibt es zu wenig Wegweiser, deshalb verfahren sich die Deutschen dort andauernd.“

Wenig später: „Jakopp und Elisabett könnten auf ihre Reise nach Spanien ihre eigenen Wegweiser mitnehmen.“

Jakopp und Elisabett waren das ungleiche Paar Jörg Wiesbeck, fast 2 Meter groß, und Charlotte, 1 Meter 55. Für die beiden wurden viele skurrile Geschichten erfunden, einige sehr poetische Filme gedreht, auch die sind im Archiv liegen geblieben. Peter verstand sich nun mal einfach nicht auf die Kommerzialisierung seiner Kreativität.

Jakopp und Elisabett tanzen Charleston

Selbstverständlich landeten auf dem Tonbandgerät auch die Stilblüten unserer bei den Großeltern Deutsch lernenden Töchter: die 3jährige Lavinia, die das deutsche Wort “Funschklacke” erfand, und später die etwas ältere Irina, die aufgeregt in die Küche in München stürmte: “Komme Kucke Katze!!”

Peters für seine Umwelt unerwartetes lautes Lossprechen erregte natürlich jedes mal erstaunte Aufmerksamkeit.

In den Stunden am Schreibtisch spielte er die etwas krakelig anzuhörenden Aufzeichnungen mehrmals vor und zurück und schrieb sie auf. Das womöglich viel spätere Lesen in seinen unzähligen Aufzeichnungen und Tagebüchern war oftmals mit Geschmunzel oder gar Gelächter verbunden.

Nach Charlottes Tod begaben wir uns auf fünf schöne große weite Weltreisen. Die erste nach New York, dann mit meiner italienischen Schwägerin Teresa und ihrem Mann Paolo nach Kuba und nach China. Danach auch noch nach Argentinien und Südafrika.

Nach ein paar Tagen sehr ungewöhnlicher Kulisse, Leben, Musik und auch herzhaftem Gestank in Havanna im Februar 2002 wurde der zweite und dritte Teil des in Entwicklung begriffenen “Stadtromans” vollkommen umgekrempelt. Während wir uns in den warmen grünen Wellen am Strand von Vajadero tummelten, blieb Peter also unter der Kokospalme liegen und rührte sich nicht mehr. Weites himmelblaues Hemd, knielange Hosen, beides selbstverständlich mit vielen Taschen, in die man Brieftasche, Brillen, Schreibwerkzeuge und Tonbandgerät verstauen konnte, die Hände auf dem Bauch gefaltet schmunzelte er angesichts der unerwarteten neuen Perspektive von Ferdinand und Susanne als Weltumrunder vor sich hin.

Spinnen unter Palmen in der Südsee

Dann setzte er sich plötzlich auf und fragte, wie lange die Inkubationszeit eines Schnupfens dauere. Teresa antwortete höchst erstaunt und stolz zugleich, dass sie es genau wisse: 48 Stunden.

Peter hielt auf dem Tonbandgerät fest: „Teresa sagt, ein Schnupfen hat eine Inkubation von 48 Stunden.“ Teresa verstand nur „Teresa“ und freute sich ungemein, auf dem ihre stete Neugier erweckenden Tonbandgerät gelandet zu sein.

Im Stadtroman wird nämlich der wider all sein Erwarten zum plötzlichen Untertauchen gezwungene Bankangestellte Ferdinand von seinem unangenehmen und vollkommen verrotzten Gegenüber im Hofbräuhaus in München angeniest (13 anklicken), weshalb er dann 48 Stunden später ebenfalls die Nase sehr voll bekommt, einen Arzt aufsuchen muss und in der Arztpraxis dann einige erstaunliche Abenteuer erlebt.

Auf dem Flug nach Havanna hatte sich Teresa über Peters plötzliches, ins spätabendliche Gedöse der Fluggäste einbrechendes lautes Lossprechen (er war mittlerweile etwas schwerhörig geworden) doch etwas gewundert.

Auch wenn er bei uns in Mandela weilte und an einem der dicken Familien- oder Freundetreffen und -essen auf der großen Wiese teilnahm, fielen ihm aus der Beobachtung der ihm fast unverständlich redenden Kommensalen irgendwelche Ideen ein, die er sofort – und laut – auf Band sprechen musste. Alle drehten sich angesichts der ungewohnten Laute um. Teresa: Haha, wir haben uns ja da mittlerweile dran gewöhnt.

Viele Jahre lang machten wir im September in Sardiniens wenig bekanntem Süden mit Peter und Charlotte Ferien. Das ist Giannis Heimat. Wir wohnten hoch oben in einer sehr einfachen Wohnung mit göttlich schönem Blick über die weite runde Bucht von Porto Pino. “Nachts tauchen die Sternschnuppen aus der reich bestückten Sternenkuppel über uns in die Bucht von Porto Pino”, hielt Peter auf dem Tonband fest. Solch romantische Formulierungen stammten von Charlotte.

Gianni fuhr morgens meist schon vor 7 Uhr langsam runter, begrüßte Flamingos und Reiher, die in der Lagune frühstückten, und zum Dorf auf der anderen Seite des weiten Tals hinauf, um einzukaufen. Zunächst frühstückte er mit Capuccino und Cornetto in einer Bar und setzte er sich dann im duftenden Brotladen auf eine Bank und wartete zusammen mit den sardischen Omas mit langem Rock und Kopftuch darauf, dass das ofenheiße Brot zum Verkauf hereingebracht wurde. Die redeten dann im mir unverständlichen Sardisch über Gott und die alte Welt aus Giannis Kindheit.

Auf dem Weg zurück fuhr er zu einem uralten Bauern, der am Straßenrand Tomaten und sonstiges Gemüse von seinem Acker anbot. Gianni musste allerdings aufs Feld und die Tomaten selbst ernten, und der Alte wog sie dann auf einer Hängewaage. Wehe, wenn er weniger als 3 Kilo kaufte. Das lohnte sich ja schließlich nicht! Einkaufen bei ihm ging allerdings nicht Ruckzuck, denn auch er musste erst noch ein wenig mit dem Signor Fenu über Gott und die Welt palavern. Seine Tomaten waren gut und saftig, und in Kürze kauften alle unsere Bekannten bei ihm ein. Sarden bedenken alle Menschen ziemlich rasch mit einem Spitznamen, weshalb er ebenso rasch nur noch ‘Togliatti’ (sprich: Toljatti) genannt wurde.

Wer ist denn Togliatti?, fragte Peter. – Na, das war der schon fast legendäre charismatische Chef der kommunistischen Partei in Italien in den 50er Jahren. – Aha? – Der alte Bauer posaunt halt immer und überall herum, dass er Kommunist ist und predigt seine Parolen von der Gleichheit aller Menschen.

Das landete sofort auf dem Tonbandgerät: “Der Tomatenverkäufer in Porto Pino wird “Togliatti” genannt, weil er Kommunist ist.” – Pause – “Togliatti war der Chef der KPI in den 50er Jahren.” – Pause – “Sarden verpassen allen Leuten schnell Spitznamen.”

Was Togliatti so alles zum Besten gab, war jedes mal Anlass zu unseren Gesprächen beim Mittagstisch auf der schönen Terrasse: Togliatti und die Beamten im Dorfrathaus, Togliatti und die Nato (am Ende des langen Strandes beginnt noch heute das riesige Natogelände von Capo Teulada, wo oftmals heftig geböllert wurde), Togliatti und der Priester in der Dorfkirche von S. Anna Arresi und so weiter.

Eines Tages wollte Peter wissen, ob denn diese so leckeren Tomaten teuer seien. Nein, sagte Gianni, bei Togliatti kostet alles 1000 Lire das Kilo  – also etwa eine Mark. Da wunderte sich Peter, und Gianni erklärte, der Mann sei Analphabet und könne auch nicht rechnen. – Wie? Nicht lesen und nicht schreiben? – Nein, der Mann ist über 80, und damals gabs wahrscheinlich noch gar keine Schule hier. Und wenns eine gab, dann hätte er ja immerhin 4 oder 5 km zu Fuß dorthin laufen müssen. Lies doch mal ‘Padre padrone’! Das war hier so.

Für den lese- und schreibwütigen Peter schwer fassbar: Und rechnen kann er auch nicht? – Nein, kann er nicht. 1 Kilo Tomaten 1000 Lire, 2 Kilo 2000 Lire, 3 Kilo 3000 Lire, das geht. Aber 1 Kilo 1200 Lire, 2 Kilo kann er dann eben nicht ausrechnen. Und zweieinhalb Kilo erst recht nicht.

Peter aufs Tonband: „Bei Togliatti kostet alles 1000 Lire, weil er nicht rechnen kann.“

Ich esse noch immer gerne Paprika. Gianni fragte also Togliatti nach Peperoni. Nein, hat er nicht angebaut. Im Jahr danach kam Gianni erst später nach Sardinien, weshalb also ich bei ihm einkaufte. Man hatte mir bereits berichtet, dass er Peperoni angebaut habe, die seien aber solo per il Signor Fenu. Wunderbar, denke ich, endlich erntefrische saftige Peperoni. – Ich bin die moglie von Signor Fenu, ob ich denn so 2 Kilo Peperoni haben könnte. – No, die sind solo per il Signor Fenu. – Nichts zu machen. Frauen waren ihm wohl grundsätzlich nicht ganz geheuer, und ich konnte – was natürlich besonders schlimm war – praktisch kein Sardisch verstehen, geschweige denn sprechen. Jedenfalls bekam ich nicht eine einzige Paprikaschote und musste wohl oder übel Giannis Ankunft abwarten.

Peter aufs Tonbandgerät: “Togliatti hat Paprika angebaut, aber nur für den Signor Fenu. Claudia wollte welche kaufen, bekam aber keine, obwohl sie mehrmals beteuerte, sie sei die Frau von Signor Fenu.”

Der Strand von Porto Pino. Links oben außerhalb des Bildes die Terrasse, auf der wir über Togliattis Tomaten sprachen – und natürlich auch aßen.

Eine weitere Sardiniengeschichte, die auf Peters Tonbandgerät landete, waren die sardischen Witze. Oder besser, meine recht traumatische Begegnung mit denselben. Wir verbrachten eine der heißen Nächte unseres ersten gemeinsamen Sardinienaufenthalts im August unter der Laube eines unserer Freunde. Man hatte gegessen und getrunken, etwa 40 Leute. Das war für Peter und Charlotte schon aufregend genug, denn die italienische Art gemeinsamer Essen – um nicht zu sagen: Fressen – war ihnen zunächst vollkommen unverständlich, wenn auch recht interessant. 

Rasch gewöhnten sie sich jedoch daran, sich nur einfach hinzusetzen und der Gaumenereignisse zu harren, die da kommen würden. In unübersichtlicher Zusammensetzung oder Reihenfolge landeten dann auf ihren Tellern neben den bekannten italienischen Leckereien Pasta mit Seeigelfleisch, oder Thunfischrogen, oder Wildschweisugo, Schnecken in Anissoße, oder in Tomatensoße, Tintenfischsalat, Meeräschen gekocht, gegrillt, gebraten, in Tomatensauce, Sardellen mit Fenchel, Pinienkernen und Rosinen, in Öl eingelegte Distelstengel, Hasenbraten, Miesmuscheln mit Knoblauch und Petersilie, sardische Käsestückchen, darunter auch aus einer Form voller kleiner Würmer, die hochsprangen wie Fische aus dem Wasser, dazu die kräftigen Landweine der Umgebung, geschälte eiskalte Kaktusfrüchte, hausgemachter Myrtenschnaps zum Verdauen, oder sardische Grappa, Fil’eferru genannt, “Eisendraht”, heiße Quarktaschen mit Honig. Alle Sardinnen überschlugen sich in ihrer Gastfreundschaft für die neuen “Deutschen”, die all diese Gaumenfreuden ja nicht kennen konnten.

Peter aufs Tonbandgerät: “Eine Grundschullehrerin mit schriller Stimme stolpert, eine Riesenschale mit leergegessenen Schneckenhäusern in Tomatensoße landet auf Claudias Bluse. Ein sehr lauter rhythmischer Chor aller Anwesenden geht los, gefolgt von Applaus, und dann bekommt Claudia ein sauberes T-Shirt geliehen.”

Dass dieser Chor alles andere als salonfähig war, habe ich lieber nicht übersetzt. 

An diesem ersten Abend waren sie nun müde und fuhren nach hause. Langsam wurde die Nachthitze erträglicher und Filippo begann, den Anwesenden in jeder Altersklasse rundherum Witze zu erzählen. Das waren sehr lange Geschichten, die mit viel Mimik und Gestik ein Stück weit auf Sardisch und dann gleich noch einmal auf Italienisch vorgetragen wurden, weshalb ich den Ablauf der Geschichte recht gut verstand und mich köstlich amüsierte. Wenn dann nach 10 Minuten aufmerksamem Zuhören, allgemeinem Gekicher und Gegluckse schließlich die Pointe kam, war das sehr schnell hingeschmissener engster sardischer Dialekt. Alle rund um mich herum, vom Dreikäsehoch bis zum hageren 80jährigen Urgroßvater, lachten sich schief, ich saß da, geduldig auf eine wie auch immer holprige Übersetzung wartend. Nur, wenn sich die ersten vom Lachkrampf erholt hatten, wandten sie sich mir zu: Claudia, hast du verstanden? – Nein. – Zweites allgemeines Riesengelächter: Huhu, haha, Claudia hat nicht verstanden!! Haha, huhu! – Begossener Pudel. – Filippo seinerseits geriet in Erklärungsnot und wurde jedes mal knallrot, was ihn allerdings nicht davon abhielt, gleich den nächsten Witz mit ebensolcher gesichtsrötender Pointe zu erzählen.

Peter: “Filippo erzählt eine Nacht lang phantasievolle Witze, aber die Pointe kommt immer auf Sardisch, weshalb Claudia nicht eine einzige davon versteht. Sie bekommt auch keine Übersetzung, denn Filippo sagt immer: Lass dir das von deinem Mann erklären.”

Die Pointen habe ich nie erfahren und die Geschichten mittlerweile alle vergessen.

Aber Filippo und seine Frau Erminia, die uns damals und viele Jahre lang die schöne Wohnung vermieteten, erzählen noch heute lachend und glucksend diese Geschichte von mir, und alle Sarden lachen sich darüber natürlich wieder schief.

Filippo und Erminia im Budapester Jugendstilmuseum Magyar Szecessiò Háza

Johannesburg