Henriette Gusič – Teil 2

Sofia, am Donnerstag, den 25.9.1947

Wurde Henriette Gusič vergewaltigt?’ Wichtig: Das Fragezeichen, ganz wichtig.

In einem nach dem gestrigen Tag vollkommen unwirklichen Zustand ging ich von zu Hause zum Theater. Ich absolviere das meistens ziemlich flott, weil ich nicht angestarrt werden oder gar Autogramme geben möchte. Ich wollte Ordnung wiederherstellen: Ich bin nicht mehr krankgeschrieben und möchte die Blanche probieren. Deshalb achtete ich auch nicht auf die Schlagzeile der Robotničesko delo mit der schrecklichen Frage, ob ich denn vergewaltigt worden sei. Ich musste auch klarstellen, wie Jon denn nun zu der Besetzung stand. Sein letztes Wort war ja, dass er gar nicht sicher sei, ob ich die richtige Besetzung bin. Ganz ernst habe ich das allerdings nicht genommen.

Kaum hatte ich das Theater betreten, hatte ich das Gefühl, in ein Irrenhaus geraten zu sein. Schon in der Pförtnerloge beim Bühneneingang rumorte es. Der Pförtner begrüßte mich auffallend aufgekratzt, bei ihm standen zwei Frauen, Putzfrauen wahrscheinlich, die schrecklich losprusteten, als sie mich sahen. Warum denn nur? Als ich den ersten Flur langging, lugte aus einer Tür eine kleine Ballettratte. Als sie mich erkannte, stürzte sie auf den Flur und ging vor mir her, aber rückwärts, Auge in Auge mit mir, sehr anmutig, lässt sich nicht leugnen. Dann nahm sie meine beiden Handgelenke, rückte, dauernd rückwärts weitergehend, nahe an mich ran und flüsterte mit – ja, sehr geilem Gesichtsausdruck: „Wirklich vergewaltigt, Henriette Gusič?“ Was sollte ich sagen? „Blöde Zimtzicke…“ Was Besseres fiel mir im Moment nicht ein. Sie hüpfte lachend auf dem langen Flur davon.

Als nächstes begegnete ich dem widerlichen Volksschauspieler, Pardon: verdienten Volksschauspieler Antonin Bulgari, der nur ins Ensemble geraten war, weil diese proletarische Revolution stattgefunden hat. „Na, wie wars?“ schrie er mich an. „Was?“ musste ich fragen. „Wie hat er dich denn vergewaltigt?“ – „Waaas?“ – „Hättet euch mehr Zeit nehmen sollen, – wärs nicht gewalttätig geworden.“ Er stank entsetzlich nach Alkohol und rülpste. Viel mehr hatte er nicht zu bieten. Kein Regisseur wollte mit ihm arbeiten.

Die Slanska huschte in Kostüm und Maske vorbei und rief. „Du Ärmste! Da nimmt man dir die Rolle weg und dann auch noch das.“ Was? Sie verschwand in ihrer Garderobe. Mir fiel ein, dass heute Haupt- oder Generalprobe von GROSSE TATEN war.

Ich war glücklich, in die Probebühne schlüpfen zu können. Ich war wie meistens früh dran. Da stand nur Jon und fragte: „Wie konnte denn das passieren?“ – „Was denn bloß, verdammt nochmal?!“ – „Hast du nicht die Robotničesko delo gelesen?“ – „Nein. Was steht denn da drin?“ Er zeigte mir das Blatt. Auf dunkelgrauem Grund stand da in weißer, beachtlich großer Schrift: ‚Wurde Henriette Gusič vergewaltigt?’ Ich war erstmal platt: „Was soll das?“ – „Stimmt nicht?“ – „Natürlich nicht. Sehe ich so aus? Und vor allem: Sieht Doktor Capet so aus?“ – „Also der ist der Kutscher aus dem Landwirtschaftsgürtel?“ – „Ja… Bitte, was steht da?“ Was stand da? Dass Professor Doktor Fabricius Capet bei seiner Verhaftung wegen staatsfeindlicher Umtriebe von den ausführenden Milizionären in eindeutiger Umarmung mit der Schauspielerin Henriette Gusič angetroffen wurde und manches darauf schließen lässt, dass sie kurz zuvor vergewaltigt worden sei. Es sei zwar nicht abzuwägen, was die Milizionäre wirklich gesehen haben, daher das Fragezeichen, aber die Wahrscheinlichkeit sei groß. ‚Wir berichten in der morgigen Ausgabe ausführlicher.’

„Du gehst augenblicklich in die Redaktion und stellst richtig.“ – „Muss das sein?“ – „Du kannst die, die du geliebt hast, nicht so ans Messer liefern.“ – „Das stimmt. Ich gehe.“

Ich wusste, wie schwer ihm das fiel. Ich muss ein gutes Wort für Jon einlegen: Ich wünsche ihm die wunderbarste Frau der Welt, nicht diese verzickte Henriette Gusič, die ja nur Probleme hat und macht. „Ich komme mit. Wenn die einen Skandal anzetteln können, dann kann ich das schon lange.“ Ich merkte Jon an, wie wunderbar er das fand, dass ich mitkomme.

Auf dem Gang begegneten wir Kubelik, kam mit Assistenten arg verschwitzt und zerknittert aus dem Zuschauerraum – ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Jon sprach ihn an: „Herr Intendant -“ Er glaubte mir sagen zu müssen: „Verehrte Henriette Gusič, ich war unterrichtet, aber ich konnte es nicht verhindern, glauben Sie mir…“

In der Redaktion war es nicht allzu schwierig, mit ein wenig Durchfragen an einen zuständigen Redakteur zu geraten, der ganz offensichtlich einigermaßen verlegen war: „Verehrte Henriette Gusič…“ Ich machte keinerlei Umstände: „Ihr berichtet in der morgigen Ausgabe nicht ausführlicher, sondern kein Wort mehr, oder es knallt! Henriette Gusič könnt ihr nicht als Sensationshure missbrauchen und einen ehrbaren Doktor der Medizin nicht als Wüstling!“

Jon blieb glücklicherweise sachlicher und fragte nach der Herkunft der Meldung. „Pressebüro der Partei,“ war die lakonische Antwort. „Habt ihr mal eben die Telefonnummer?“ – „Ich würde da nicht anrufen.“ – „Warum nicht?“ – „Kommt mal mit in mein Zimmer.“ Wir gingen in einen recht unansehnlichen Verschlag. Der Pressemann fuhr fort: „Darf ich mal eben ein bisschen Grundsätzliches verzapfen, auf die Gefahr hin, mich zum Staatsfeind zu stilisieren und in der Hoffnung, dass dieser Verschlag hier nicht verwanzt ist? Wir haben ihn ziemlich genau abgesucht. Ich setze Vertrauen und Verschwiegenheit bei euch voraus. Dem Professor Capet droht ein Schauprozess vor einem Gericht der Securitate. Man will die Stimmung gegen ihn aufheizen. Der Staatsanwalt braucht Futter. Man setzt Gerüchte in die Welt: Hat er die populäre Schauspielerin vergewaltigt? Morgen kommt wahrscheinlich die Meldung, er habe Staatsgelder veruntreut. Auch mit Fragezeichen, damit man immer den Rückzieher machen kann. Aber wir alle wissen, dass Dementis nie so wirksam sind wie die vorangegangenen Lügengeschichten, die sie dann dementieren. Aus Dementis macht der Layouter keine Schlagzeilen. Die verschwinden unter Vermischtes. Und die Schlagzeilen berichten wieder über die Kartoffelernte und die Übererfüllung des Plansolls in den Industrie-Kombinaten. So – jetzt habe ich mich ganz schön entblößt vor euch.“ – „Keine Sorge,“ sagte ich, „wir Theaterleute sind ein treues Volk und werden keinen Entblößten denunzieren!“

Schöner Abgang, nicht wahr? Ich lese schon die morgige Schlagzeile: ‚Varos wird den Plan vorzeitig übererfüllen…’ oder so was. Oder ‚Weltpremiere GROSSE TATEN’

„Jon,“ sagte ich auf der Straße, „wir haben oder hatten einige Mühe miteinander. Ich danke dir sehr für deinen heutigen Beistand. Spiele ich denn nun die Blanche bei dir?“ Wie antwortet er, typisch Jon, knapp trocken: „Wer denn sonst?“

Überall hängen und kleben Zettel: ‚Generalprobe GROSSE TATEN, Freitag, 26.9.1947 – 11 Uhr nicht öffentlich!, kein Zutritt, auch nicht für Angehörige des Hauses.’

Am Abend WIDERSPENSTIGE. Die Humorpfützen in Bulgarien sind noch nicht völlig ausgetrocknet. Als ich zum Theater komme, stehen da fünf oder sechs Männer an einem Zeitungskasten mit der Schlagzeile ‚Wurde Henriette Gusič vergewaltigt?’ Sie halten ein langes Transparent hoch, auf dem steht ‚Nein! Nein! Nein! Nein!’ Erst im Theater, auf dem Weg zur Garderobe wird mir klar, dass ich gemeint bin, dass sie auf ihre sehr witzige Weise geantwortet haben. Kaum Jemand kann sich vorstellen, dass Henriette Gusič vergewaltigt worden ist.

Mitten im Stück habe ich zu sagen: „Nein, meiner Treu!“, vierter Aufzug, fünfte Szene. Kurz davor höre ich aus dem Zuschauerraum ein Gemurmel von einigen Männerstimmen: „Wurde Henriette Gusič vergewaltigt?“ – „Nein, meiner Treu!“ sage ich und muss lachen und falle aus der Rolle. Da rufts noch einmal lauter aus dem Zuschauerraum: „Wurde Henriette Gusič vergewaltigt?“ – „Nein, meiner Treu!“ schreie ich. Jetzt lachen alle und applaudieren. Ich schaue ins Publikum und erkenne das Transparent mit dem ‚Nein’ quer durch den Zuschauerraum. Mein Gruß mit der Hand an der Stirn fällt vielleicht ein bisschen zu militärisch aus, wollte ich gar nicht. War aber angesichts der Tatsache, dass plötzlich sechs Milizionäre im Zuschauerraum standen, gar nicht so schlecht. Die Milizionäre sind natürlich überfordert: sollen sie eingreifen und wenn ja, wie? Ist das ein Aufstand? Eine Revolution? Ich spiele weiter, als sei nichts geschehen, die Milizionäre verdrücken sich. Es wird die liebenswürdigste Huldigung bleiben, die ich in meiner Karriere je erlebt habe. Ich habe Hoffnung für den Geist Bulgariens.

Dass ich dergleichen meinem Liebsten Fabricius nicht erzählen kann… Ich bin so gespannt, was er zu meinem Körpergeruch sagen wird. (Mutwille der Liebenden!) Nein, das ist nicht einfach saurer Schweiß. Ich habe das seit der Pubertät. Eine ganz eigene Mischung, die Jon übrigens mit größtem Genuss abschnüffelte. Da, wo der Mensch Hund wird. In Bulgarien gibt es derzeit nur schlechte Seifen. Ich lasse mir welche von meiner Schwester aus England schicken; sparsam anzuwenden, nicht meinen spezifischen Körpergeruch zudeckeln.

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Sofia, am Freitag, den 26.9.1947

Premiere GROSSE TATEN war keine Katastrophe, aber sie war schrecklich. Wenn das die Zukunft unseres Theaters ist, dann gnade uns Gott! Es kommt das Wort, das Theater nie nie nie sein darf: langweilig! Das, was ich schon beim Lesen festgestellt habe und bei meinen wenigen Proben: Das ist kein Theaterstück – es ist langweiligster Leitartikel. Ein klein wenig Respekt für Kubelik: Er muss sich wahnsinnig angestrengt haben, seine Spielerschar zu motivieren. Nein, sie waren nicht motiviert, aber sie haben funktioniert. Das sei Kubelik als Verdienst hoch angerechnet, als habe er das Theater erfunden und nicht die alten Griechen…

In der Pause näherte ich mich der großen Entourage um den Ministerpräsidenten, ganz ohne Absicht, beachtliche Mannsbilder von Bodyguards. Er durchbrach den Kreis und kam auf mich zu: „Ich vermisse Sie da unten auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten.“ Ich war vielleicht eine Spur zu schnippisch: „Ich kann nicht Alles spielen.“ – „Ich bin weit davon entfernt, Sie überfordern zu wollen, verehrte Henriette Gusič. Aber wenn ich auf die Bühne schaue und sehe die Slanska in der Hauptrolle, dann sehe ich nur die Hälfte dessen, was Sie ganz gewiss uns in aller Fülle angeboten hätten. Sie spielt nur das halbe Stück.“ Vielleicht ganz gut, dass unser Skandal nicht in höchste Regierungskreise vorgedrungen ist, Dimitroff schien nichts zu wissen. „Ich hatte gerade erst die Premiere von der Widerspenstigen,“ sagte ich. „Das weiß ich doch. Aber wenn man ein wenig genauer vorausdisponierte, wäre vielleicht Beides gegangen, und die GROSSEN TATEN hätten mit Ihnen einen triumphalen Erfolg eingefahren.“ Ich schaute ihn von unten skeptisch an. Er hakte sofort ein: „Vergessen Sies, verehrte Henriette Gusič. Ich will mir nicht anmaßen, in die Dispositionen des Bulgarischen Staatstheaters einzugreifen. Der – wie heißt er? – Slatan macht das gewiss recht ordentlich.“ – „Ich wünsche einen recht angenehmen zweiten Teil des Theaterabends. Gute Nacht, oberster Boss.“

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Sofia, am Samstag, den 27.9.1047

In den guten schönen, ganz tiefen Morgenschlaf hinein dieses entsetzliche Klingeln: Securitate zur Hausdurchsuchung. Grobe, ungebildete Kerle durchwühlen meinen Schreibtisch und schmeißen alles durcheinander. Ich war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Der Gedanke an Fabricius hielt mich zurück. Zum Glück, so denke ich.

Ziemlich offensichtlich suchen sie Schriftstücke, die mit Fabricius’ defekter Schreibmaschine getippt sind. Da finden sie nichts bei mir. Nichts mehr. Der anonyme Brief ist weg. Aber, saust es mir durchs Gemüte: Das Kochbuch! Sie gehen gar nicht in die Küche, wo ich es sorgfältig aufbewahre. Trotzdem ein sehr heißer Schreck. Atemlos verfolge ich die Kerle durch die Wohnung: Nein, ganz so simpel sind sie nicht, dass sie nicht auch einen Blick in die Küche werfen, aber ein als Kochbuch getarntes Tagebuch scheint ihnen unwahrscheinlich. Je weniger Chancen sie haben, etwas zu finden, desto rabiater werden sie, desto wütender schmeißen sie alles durcheinander. Ich unterstelle, dass sie unter Erfolgsdruck stehen, dass sie nicht mit leeren Händen zur Dienststelle zurückkehren dürfen. Aber da kann ich ihnen nicht helfen. Schließlich ziehen sie ab. Dann höre ich noch, dass sie als Nächstes Hausdurchsuchung bei Jon machen wollen. Was soll ich tun? Kann ich was tun? Ich habe kein Telefon, das wird besser mit Fabricius. Ich muss Jon seinem Schicksal überlassen. Es ist nicht anzunehmen, dass er Briefe von Professor Capet hat, die auf dessen defekter Schreibmaschine mit dem springenden a getippt sind. Umso wütender werden sie rumwühlen.

Am Nachmittag kommt Jon. Mit erstaunlicher Zurückhaltung bleibt er im Treppenhaus stehen und schaut nur in die Wohnung. Er will mir mitteilen, dass die Securitate bei ihm eine Hausdurchsuchung gemacht hat. Es könnte gut ein, dass die mich auch auf ihrer Liste haben. Ich kläre ihn auf. Ja, und dann gibt es nicht mehr viel zu reden. Mit kleiner Verlegenheit, die wiederum sehr liebenswert ist, verabschiedet sich Jon.

Jede Nacht um ½ 2 oder etwas früher explodiert krachend die Angstbombe in meinem Herzen: Fabricius ermordet in den Kellern der Securitate, keine Leiche zu finden. Jon will sich rächen und quält mich, das Theater geht mir verloren – die Wohnung auch. Ich werde gezwungen, im Landwirtschaftsgürtel zu leben in einem ganz miesen Quartier.

Ich wehre mich so gut ich kann. Aber eine im Herzen platzende Bombe ist zu nah, ist zu nah an allem, was einen Menschen ausmacht: Kehle, Magen, Darm, Leber. Alles wird erschüttert und krempelt sich um. Ich muss aufstehen und herumwandern und die Nähe zum großen Fenster meiden, das sorgfältig geschlossen ist.

Geht weg? Ja, nach einer Stunde lässt es nach, nach zwei Stunden status quo ante, bereit für die nächste Explosion.

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Sofia, am Sonntag, den 28.9.1947

Gestern ein Brief in der Post, von der Staatsanwaltschaft III, hier aus Sofia. Ich möchte doch bitte am Montag, den 29.9.1947 vormittags dort erscheinen. Man habe im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Professor Doktor Capet Einiges zu besprechen. Hat meinen heutigen Sonntag nicht erheitert. Was tun? Hingehen um Fabricius’ willen. Ihm helfen, dringendste Aufgabe.

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Sofia, am Montag, den 29.9.1947

Alles, was ich über den heutigen Tag hinschreibe, ist explosiv, mehr als alles Bisherige. Der Gang zum Staatsanwalt, das entsetzlich düstere Gebäude, das Treppenhaus, das Dienstzimmer. Ich musste kaum warten. Im Grunde war es sehr gut: Ich erfuhr Dinge, die ich sonst gar nicht gewusst hätte. Ich traue mich zu sagen: Ich konnte mir eine Strategie für meine Zeugenaussage zurechtlegen. Oh Gott, das sind alles so fern liegende Ausdrücke und überhaupt Sachen. Wer bin ich, dass ich da durchmuss? Wo ist Shakespeare, wo die dahinschwindende Blanche? Sie galoppieren davon! Nein, auf Abruf sind sie vorhanden.

Der Staatsanwalt, vor dem sich mein Fabricius morgen verantworten muss – wofür??? – ist kein Unsympath! Was bewegt einen Menschen wie ihn, Schauprozesse zu veranstalten? Zwei Sekunden habe ich spekuliert, ob er mich aus Sympathie ins Ministerium bestellt hat. Sollte das nicht der Fall sein, wird er sich schrecklich wundern: Henriette Gusič wird von der Volksrepublik der Liebe reden und im Gefängnis landen oder im Freispruch des Geliebten! Das Letztere ist sehr unwahrscheinlich, und kann dennoch geschehen. Die Seele muss damit rechnen! Ja, sie muss davon ausgehen. Ich kann mich an keine Rolle erinnern, die mich so in Spannung versetzt hätte. Ja, und aufpassen, dass das nicht zu einer Rolle degradiert wird. Das ist blutigster Ernst! Wort ‚Blutig’ weg? Nein. Ob ich heute schlafen kann, weiß ich nicht…
Der Inhalt des anonymen Briefes ist der Hauptanklagepunkt, wie nicht anders zu erwarten. Staatsfeindliche Umtriebe, die, wären sie an die Öffentlichkeit gelangt, die Revolution erstickt hätten. Da darf ich nicht ‚Na und?’ fragen. Da muss ich sagen: Alles Liebe! Und es wird einige Mühe kosten, das zu beweisen! Nur die Liebe kann mir helfen, Oh Gott lass mich die richtigen Vokabeln finden! Dass ich sie jetzt schon parat hätte, – das wäre wunderbar, aber sie müssen morgen aus der Situation wachsen. Was habe ich da für eine Premiere vor mir. Und keinerlei Probenzeit hinter mir. Das kann doch nur schiefgehen!…

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Sofia, am Dienstag, den 30.9.1947

Das völlig Unglaubliche, Unwahrscheinliche, schier Unfassbare ist eingetreten: Freispruch für Professor Doktor Maurizius Capet ohne Wenn und Aber. Mein Anteil an diesem Freispruch: groß.

Ganz sanft höre ich seinen Atem aus dem Schlafzimmer. Nein, kein Schnarchen.

Ich zögere, den heutigen Tag zu beschreiben. Es gibt keinen dergleichen Tag in meinem bisherigen Leben. Es wird keinen dergleichen Tag in meinem künftigen Leben geben. (Aber man weiß ja nie.) Ich war morgens pünktlich wie immer, zu dieser Vormittagsvorstellung. Ich hatte sogar einigermaßen gut geschlafen. Obwohl doch so viel auf dem Spiel stand. Und es weiß Gott kein Theater war. Ich muss zugestehen, dass ich kaum in der Lage sein werde, den Prozessablauf einigermaßen linear zu beschreiben. Es wird Vieles durcheinander geraten. Seis drum: Ich kann den Tag nicht auslassen.

Ich saß mit einigen anderen Zeugen auf der Zeugenbank. Ich kannte nur die Sprechstundenhilfe. Wir begrüßten einander herzlich. Ich tauschte mit Fabricius einen tiefen Blick.

Die Verlesung der Anklageschrift, sehr ausführlich, dem Dr. Capet alle Schuld zuweisend, Volksverhetzung, Herabsetzung der bulgarischen Volksrepublik, der Sowjetunion, des Sozialismus allgemein, bourgeoise Eitelkeiten und Selbsttäuschungen, keinerlei Respekt vor dem neuen Staat der Volksrepublik Bulgarien und ihrer Justiz. Wie sollte da einer herausfinden? Maurizius schon gar nicht. Er saß in der Falle. Der Brief selbst wurde nicht verlesen, umso ausführlicher sein Inhalt ausgebreitet.

Plötzlich – nie werde ich in der Lage sein, den Ursprung dieses Ausbruchs nachzuvollziehen – schreie ich ganz spontan und laut: „Aber das ist ein Liebesbrief!“ Der Richter haut mit einem hölzernen Hämmerchen auf eine Unterlage und schreit „Ruhe!“ Der Staatsanwalt fühlt sich in seinem Redefluss unterbrochen: „Der Saal schweige! Was soll der Brief sein?“ – „Ein Liebesbrief!“ schreie ich noch einmal, triumphierend, sehr laut. Der Staatsanwalt fährt fort: „Das wäre zu beweisen! Der Beruf der Frau Zeugin ist von Natur aus mit der Phantasie befasst. Sie ist Schauspielerin. Aber wir sind hier nicht im Theater, sondern in einem Saal der bulgarischen Justiz. Und wenn ich alle Phantasie auslasse, dann lese ich nur wüste Beschimpfungen, übles Gekeife gegen unseren geliebten Staat Bulgarien und seine Institutionen. Was könnte das mit Liebe zu tun haben?!“ Ich lege einen Schalter um. „Der Herr Staatsanwalt ist auf schlüpfriges Terrain verführt worden. Der Liebe wird man nicht Herr mit Paragraphen, nur mit dem Herzen, nur mit Gegenliebe.“ – „Einspruch, Einspruch!“ keifte der Staatsanwalt. „Was soll die Liebe zu tun haben mit all den Anschuldigungen, die der Brief enthält!? Es stürzt hier eine Dimension in die Debatte, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Fall zu tun hat. Hohes Gericht, ich bitte um Beendigung dieser Diskussion!“

Aber der Richter ist unerwarteterweise auf meiner Seite. Alles, fast alles habe ich in Gedanken durchexerziert. Vergeblich nach Beiständen im Geiste gesucht. Nun sollte es der Richter sein? „Die Diskussion,“ sagte er, „muss zu Ende geführt werden. Ist das ein Liebesbrief? Wenn ja, – nach welchen Paragraphen wäre zu urteilen?“ Das klang ja schon beinah wie die pure Ironie. Aber er sah ganz nüchtern aus. Und er verfolgte diese Spur weiter: „Natürlich ist im Gesetzestext der Volksdemokratie Bulgarien auch dieser Fall vorgesehen, der Gesetzestext ist unangreifbar vollkommen. Also: – “ Der Staatsanwalt polterte los: „Was also?, hohes Gericht? Der Briefinhalt steht für alle Gesetzesüberschreitungen der Republik! Ihn zu einem Liebesbrief zu deklarieren, ist der blanke Hohn! Eine Verdrehung und Verfälschung der Tatsachen!“

Zum ersten Mal rührte sich etwas im Publikum: ein Murren, ein Widerspruch. Der Richter rief „Ruhe!“ und haute mit seinem Hämmerchen zu. Stand er doch nicht auf meiner Seite? Doch: er tat nur seine Pflicht und verkündete: „Ich verpflichte den Staatsanwalt, die Paragraphen der Liebe in sein Plädoyer einzubeziehen.“ Irgendetwas stimmte nicht. Es gab doch wohl keine solche Paragraphen. Was wurde hier gespielt? Der Richter wandte sich an mich: „Frau Zeugin, bitte schildern Sie alle Umstände, die Ihrer Meinung nach dieses Dokument zu einem Liebesbrief machen.“ Blops! Da stand ich ganz nackt unter so vielen Leuten mit meiner Liebe und musste reden: „Hohes Gericht!, ich bin weit davon entfernt, hier etwas verdrehen oder gar verfälschen zu wollen. Die Fakten sprechen für sich.“ Der Richter beugte sich vor: „Ich wäre begierig, etwas von den Fakten zu hören.“ Ich holte tief Luft und redete los: „Der Doktor Capet liebt mich, und ich erhöre ihn nicht, was ihn verständlicherweise sehr missmutig macht. Und Missmut treibt unter Umständen seltsame Blüten. Doktor Capet möchte mich beschimpfen. Er möchte meine Gegenliebe provozieren. Er will, dass ich ihm entgegenkomme. Aber ich bin spröde.“ Mein Blick schweifte über das Publikum und ich spielte ‚süßes Erschrecken’: „Oh, ich breite hier Intimitäten aus, die wahrlich nichts in diesem Gerichtssaal zu suchen haben.“ – „Doch,“ beharrte der Richter, „genau das ist es, was diesem Prozess einige Glaubwürdigkeit geben kann. Fahren Sie fort und scheuen Sie sich nicht, die Öffentlichkeit mit einigen intimen Details vertraut zu machen.“ Nein, das war nicht auf Geil gebügelte falsche Sachlichkeit. Ich kam mir vor wie in einem Traum. War das Bulgarien? War ich in einem Schauprozess, der meinen Liebsten, der er noch gar nicht war, zu verdonnern versuchte? Ich musste alle meine Kräfte zusammennehmen, um einigermaßen folgerichtig zu argumentieren. Wer bin ich? Was tue ich? Was kann ich tun?

Ich legte Zärtlichkeit in meine Stimme: „Da schreibst du mir einen Liebesbrief und sollst dafür ins Gefängnis.“ Der Staatsanwalt drehte und wand sich: „Wollen Sie bitte beweisen, wieso dieses abgefeimte Pamphlet ein Liebesbrief sein soll?“ Ich konterte heftig: „Wir zerstören, was wir lieben.“ Der Staatsanwalt war sehr verblüfft: „Wie bitte? Was? Im Gegenteil: Wir zerstören, was wir hassen. Das wäre ein Leitspruch von einigem Sinn. Genau genommen sogar sozialistisch. Ich werde ihn dem Genossen Dimitroff vorschlagen. Aber doch nicht: was wir lieben!…“ Unbeirrt fuhr ich fort: „Doch, Genosse Staatsanwalt! Das fängt mit der Entjungferung an, die bekanntlich einigermaßen weh tut. Und hört mit der siebenten Schwangerschaft auf, jedenfalls im erweiterten Landwirtschaftsgürtel. Näher dran an der großen Stadt gibt es weniger Schwangerschaften, zwei oder drei. Und jede ist eine Gefangenschaft von neun Monaten ohne Bewährung. Und sie tun alle sehr weh, der Frau jedenfalls. So sorgt die Natur dafür, dass die Männer zerstören, was sie lieben.“ Der Staatsanwalt wusste zu argumentieren: „Die Schmerzen sind unangenehme Begleiterscheinungen, aber… Das hat doch nichts mit Liebe zu tun!“ – „Herr Staatsanwalt, Ihnen fehlt es an Erfahrung in Sachen Liebe. Da steht Ihnen noch etwas bevor. Sie mögen gut sein im Bett, aber Liebe ist mehr. Da täuschen Sie sich und alle Frauen, auf die Sie zu liegen kommen.“

Das brachte mir einen Lacher, als wenn wir ein Lustspiel aufführten. Ich blieb aber auf der Hut, denn es ging ja in Wirklichkeit um Leben und Tod. Und dieser Staatsanwalt war ziemlich sicher ein unangenehmer Zeitgenosse. Nur weiter! Ich war wunderbar in Fahrt: „Doktor Fabricius Capet wollte, dass ich im Beruf geschädigt werde, dass ich stolpere und stürze.“ Er rief laut: „Nein!“ – „Doch, Fabri,“ erwiderte ich ruhig. „Das weißt du nicht, aber es ist so.“ Ein Kosename, nachdem wir zwei Küsse getauscht haben: Fabri. Ich fuhr fort: „Ich nehme zu seinen Gunsten an, dass er mich nicht liegen lassen wollte, sondern aufheben und stützen und helfen aus lauter Liebe!… Aber dem geht eben Zerstören voraus.“ Eine erste Resignation machte sich beim Staatsanwalt bemerkbar: „Hohes Gericht, das ist nicht mehr der Prozess der Staatsanwaltschaft. Es ist der Prozess der Henriette Gusič, die ihren Liebsten aus dem Gefängnis paukt.“ Der Richter bestätigte hocherfreut: „So ist es, und das ist gut.“ – „Wo soll das hinführen?“ rief der Staatsanwalt. Eine laute Männerstimme kam aus dem Publikum: „Zum Freispruch!“ und bekam beachtlichen Applaus.

Ich erkannte Maria im Publikum, die auch applaudierte, und rief: „Maria, wer mir heute hier applaudiert, muss damit rechnen, morgen verfolgt zu werden. Habe ich Recht, Herr Staatsanwalt?“ Der wurde ganz verlegen. Vorsicht!: Ein verlegener Staatsanwalt könnte tückisch werden. Bis hin: auch noch nach dem Prozess.

Er wollte retten, was zu retten ist: „Hohes Gericht, ich fordere ab sofort einen ordnungsgemäßen Ablauf des Prozesses. Keinesfalls kann am Ende dieses Prozesses ein Freispruch stehen, noch dazu gefordert von der Belastungszeugin! Dazu ist der Straftatbestand zu gewichtig.“ Ich schrie recht willkürlich: „Es lebe die Volksdemokratie der Liebe, Bulgarien!“ Das landete im Publikum. Schreie ertönten wie „Hoch! Hoch! Hoch!“ Der Richter klopfte wieder mit seinem Hämmerchen: „Ruhe! Herr Staatsanwalt, ich habe wie Sie den festen Vorsatz, dass wir diesen Prozess zu einem fairen Ende führen. Und das könnte durchaus ein Freispruch sein.“ Applaus und zustimmendes Gejohle der Menge antwortet. „Ruhe!“ schreit der Richter und benutzt sein Hämmerchen. „Hohes Gericht!,“ ruft der Staatsanwalt, „noch einmal fordere ich einen fairen und gerechten Prozess!“ – „Höhö!“ ruft die Menge. „Es lebe die Volksdemokratie der Liebe Bulgarien!“ – „Nein,“ schreit der Staatsanwalt. „Jeder Prozess muss seine Ordnung haben.“ Eine hohe Männerstimme fordert: „Die Ordnung der Liebe!“ Applaus. „Die gibt es gar nicht!“ schreit der Staatsanwalt. „Hohes Gericht,“ fordert einer, „du musst diesen Mann freisprechen! Und dafür sorgen, dass dieser Staatsanwalt da abgelöst und in die tiefste Provinz versetzt wird.“ Der Staatsanwalt japste: „Hohes Gericht, ein weiteres Mal fordere ich, dass die Prozessordnung eingehalten wird!“

Ich bin gar nicht mehr in der Lage, den Ablauf der Diskussion festzuhalten. Es entwickelte sich ein derartiges Durcheinander an Stimmen und Rufen und Schreien. Der Richter benutzte sein Hämmerchen und forderte schließlich: „Herr Staatsanwalt, Ihr Plädoyer!“ Das wiederhole ich hier nicht noch einmal. Schließlich war der Brief an mich gerichtet. Es waren die bekannten Vorwürfe an den Briefsschreiber, seine unpatriotische Haltung, seine Aufhetzung zum Antisozialismus, seine Gefährlichkeit für die Bevölkerung. Und dass er schließlich mit den höchsten Strafen zu bedenken sei. Ganz erstaunlich war die Ruhe im Saal, während der Staatsanwalt plädierte: keine sichtbar ablesbare Stellungnahme zu den Worten des Staatsjuristen, die doch vermutlich manchen Widerspruch auslösten. Aber Stille.

Der Richter blieb ganz ruhig, ließ sich keine Stellungnahme anmerken, klopfte mit dem Hämmerchen und rief: „Das Plädoyer der Verteidigung, bitte.“

Der junge Rechtsanwalt schlug sich wacker, man merkte ihm allerdings an, dass die Materie ihm einigermaßen fremd blieb. Wäre es nur auf ihn angekommen, hätte Fabricius einigermaßen schlecht dagestanden. Vielleicht tue ich ihm Unrecht, denn nach seinem Plädoyer schien mir die Stimmung im Publikum umzuschlagen, zu Fabricius’ Gunsten. Der junge Mann hat also offenbar die Menschen zu rühren vermocht. Der Richter verkündete: „Ich nehme die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung zur Kenntnis und verkünde nun das Urteil.“ – „Pst! Ruhe! Das Urteil!…“ Es trat schließlich eine beachtliche Ruhe ein. Der Richter verkündete: „Dem Angeklagten Professor Doktor med. Fabricius Capet konnten die Beschuldigungen der Anklageschrift nicht einwandfrei genug für eine Verurteilung nachgewiesen werden. Er muss deshalb als unschuldig in jedem der Anklagepunkte freigesprochen werden. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse. Ende der Sitzung.“ Und er hieb mit solcher Wucht auf die Unterlage, dass das Hämmerchen kaputt ging, was ein Gejohle der Zuschauer auslöste. Und nochmals Rufe wie „Es lebe die Volksdemokratie der Liebe, Bulgarien!“ Ich rief noch einmal: „Wer jetzt die Volksdemokratie schlecht macht, der macht die Liebe schlecht!“

Mit einem Satz sprang Fabricius über die Absperrung und stürzte in meine Arme. Viele, viele kamen und gratulierten ihm und mir, umarmten uns, auch wildfremde Leute, der Jubel und Trubel nahm kein Ende.

Der Richter versuchte mit dem Rest seines Hämmerchens für Ruhe zu sorgen, er musste dabei selbst lachen: „Der Saal ist zu räumen! Bitte sehr!“ Langsam begann die Menge, sich zu den Ausgängen zu bewegen, heftig diskutierend, fast alle Äußerungen waren auf Seiten des Richters und des Angeklagten, der ja nun frei war.

„Wohin?“ hörte ich Fabricius über ein paar Köpfe hinweg rufen: „Zu mir! Ins Hochhaus!“ antwortete ich.

Dieses plötzliche Alleinsein. Fast unerträglich die Spannung der zwei einsamen Menschen im großen Zimmer. Zwei einsame Menschen in einem großen Zimmer. Bewegungslos. Kaum hörbar knistert Textil. Ich bin gut angezogen. Und Atmen ist hörbar. Das Ende einer Liebe ist ebenso rätselhaft wie ihr Anfang. Wir waren nun fällig. Waren das Tangoschritte, mit denen ich ihn aufs Bett zog? Es ist so egal. Ich zog, ich schob, ich drückte, ich drängte, er folgte geschmeidig. Der Sturz in die Kissen der Liebe im Bett. Ist die Liebe ein Sturz? Die Liebe ist ein Sturz. Was denn sonst?

Ich schreibe unter den Flügeln seines Schlafes. Männer können das: Nach solcher Liebe einschlafen, ich könnte das nicht. Aber es schreibt sich wunderbar. Und der Tag war ja so rammelvoll. Habe ich was ausgelassen? Sicher.

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Sofia, am Mittwoch, den 1.10.1947

Was denn? Das soll der Tag sein, nachdem Fabricius freigesprochen wurde? Wir sind uns in die Haare geraten. Wir haben nichts Ordentliches gegessen, beleidigt haben wir einander. Versöhnung kam über meine Äußerung: „Ich will in das Gehege deiner Liebe zurück.“ – „Das ist aber ein schöner Satz, Henriette,“ sagte Fabricius. „Sag mal: das mit dem Zerstören, was wir lieben, – stimmt das denn immer?“ Ich bekannte: „Das weiß ich nicht. Es war jedenfalls gestern die große Entlastung. Und – ja, da stimmt schon was. Denk an Entjungferung und Schwangerschaft.“ – „Bei Schwangeren denke ich oft: Was die Männer da den Frauen antun! Und sie tun das ohne im geringsten zu leiden.“ – „Weiß nicht, ob das stimmt. Nur: Entschuldigungen gibt es nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht, weil ich ja auch mal Kinder haben wollte.“ – „Wo sind die geblieben?“ – „Der Gynäkologe verbot mir, noch Kinder zu kriegen. Kannst du damit leben?“ – „Ja.“ Ganz einfach sagte er: Ja. Gut. Er kann damit leben. Wie schnell sich sowas Heikles erledigen lässt.

Ich horchte auf: Jemand machte sich an der Wohnungstür zu schaffen. „Was ist?“ fragte Fabriciuis. Die Wohnungstür ging auf, Maria schlüpfte rein. Ich wunderte und freute mich: „Maria? Wieso kommst du denn heute noch mal am Nachmittag?“ Maria legte den Finger auf die Lippen und lauschte nach draußen. Dann machte sie die Tür noch mal auf und ließ Mladen rein. „Mladen?“ sagte ich erfreut. „Fabri, das ist der Bruder von Maria. Durch ihn bin ich zu dir ins Gefängnis gekommen. Was will er hier?“ Maria sagte: „Wollt ihr bitte hier Platz nehmen? Wir – müssen etwas besprechen.“ Wir setzten uns um den Tisch, Fabricius und ich doch einigermaßen erstaunt. „Um was geht es?“ fragte ich. Maria wandte sich an ihren Bruder: „Willst du sprechen?“ Mladen holte tief Luft und sagte: „Ja. Es handelt sich um Folgendes: Gestern in dem Prozess – ist etwas passiert, was uns sehr nachdenklich gemacht hat.“ – „Man hat meinen Fabri freigesprochen,“ sagte ich erfreut. „Ja,“ sagte Mladen, „aber unter Umständen, die möglicherweise sehr böse Konsequenzen haben könnten.“ Ich fuhr auf: „Was heißt böse Konsequenzen?“ Mladen bat: „Frau Gusič, bleiben Sie ruhig. Da wurde etwas öffentlich in Gang gesetzt, das wahrhaftig nicht die Öffentlichkeit interessieren sollte. Nämlich die politische Einstellung von Professor Capet, die ja bis dahin nur der Securitate bekannt war. Gestern wurde das plötzlich zu einer Sache vor einer großen Menschenmenge. Sie johlten und freuten sich über den Freispruch.“ – „Was wäre daran schlimm?“ fragte ich, weil ich so gar nicht dahinterkam, was Mladen wollte. „Sehr einfach,“ sagte er, „seit gestern ist Professor Capet einer, der die Opposition stützt. Das bedeutet aber auch, dass die Securitate ihn besonders ins Visier nehmen wird.“

„Es gibt,“ sagte Fabri, “keinerlei Vorkommnisse, die mich sonst diffamieren würden. Es liegt nichts gegen mich vor.“ – „Der anonyme Brief genügt.“ – „Eine meiner größten Dummheiten, mit der ich mir die Liebe der Henriette Gusič erkauft habe.“ Ich konnte nichts anderes tun, als ihm um den Hals fallen und ihn küssen. Maria meldete sich zu Wort: „Ihr könnt nicht so weiterleben wie bisher.“ Ich fragte: „Warum? Was ist passiert? Wir werden heiraten. Oder, Fabri?“ Er bestätigte sofort: „Natürlich.“ Ich fuhr fort: „Fabricius wird Dozent an der Uni sein und seine Praxis betreiben. Ich werde am Theater spielen. Können wir nicht als unbescholtene Bürger hier leben?“ – „Daran hegen wir gewisse Zweifel,“ sagte Mladen. „Wieso?“ fragte Fabricius ein wenig schroff. Mladen wusste Antwort: „Weil ihr gezeichnet seid, seit gestern. Das wäscht sich nicht so leicht ab. Professor Capets Freispruch war ziemlich fragwürdig.“ – „Wieso?“ fragte ich beinah schon empört, weil mir schien, dass mein Anteil daran herabgesetzt wurde. Mladen erklärte: „Weil dieser Staatsanwalt gedemütigt wurde und das bestimmt nicht auf sich sitzen lassen wird. Der will Rache.“ – „Das klingt ja schrecklich,“ sagte ich. Maria beeilte sich zu erklären: „Das klingt nicht nur schrecklich, das wird höchstwahrscheinlich auch schrecklich.“ Fabricius war auch ein wenig empört: „So. Nun mal in aller Ruhe: Was sollen wir tun? Was können wir tun?“ Mladen rückte mit dem Geheimnis raus: „Ihr könnt euch der Opposition anschließen und in ihr tätig werden.“ Ich war denn doch sehr irritiert: „Ja, aber…“ – „Ihr würdet alle Schritte, die sie gegen euch unternehmen wollen, rechtzeitig erfahren und könntet etwas dagegen unternehmen.“ – „Was denn?“ fragte ich, „so mit Pistole und so?“ Mladen lachte: „Nein! Die Opposition in der Volksrepublik Bulgarien befindet sich im Aufbau und muss ganz vorsichtig handeln. Nichts darf nach außen dringen. Äußerste Geheimhaltung.“ Ich wandte ein: „Also, dafür bin ich nicht die richtige Frau. Nein, das kann ich nicht. Das ist eine Rolle–, die…„ Maria machte geltend: „Henriette Gusič, Sie haben ganz andere Rollen auf der Bühne des Staatstheaters gespielt.“ – „Ja, auf dem Theater, aber doch nicht so im politischen Leben…“ Fabricius mahnte: „Wir müssen das sehr genau abwägen und überlegen. Ihr erwartet keine Entscheidung in diesem Augenblick?“ Mladen beschwichtigte: „Nein. Wir alle, die wir hier sitzen, können alles, was wir bisher gesprochen haben, vergessen und weiterzuleben versuchen wie bisher. Wir sichern euch zu, dass aus dem bisher Gesprochenen keinerlei Konsequenzen für euch drohen. Aber: entscheidet euch. Lebt nicht so, als wenn nichts wäre. Wir sagen euch: es ist etwas im Gange, das euch den Kopf kosten könnte.“ Ich trumpfte noch mal auf: „Also, Mladen, du hast eine schlimme Unruhe in diese Wohnung gebracht.“ – „Das tut mir sehr leid,“ sagte Mladen, „möge es ohne Folgen bleiben.“ Fabricius wollte wissen: „Wie erreichen wir euch?“ Maria stellte fest: “Ich komme wie eh und jeh zum Putzen und Kochen hierher. Ihr könnt jederzeit mit mir sprechen. Mladen wird wohl nicht so leicht wieder hierherkommen.“ Mladen stand auf: „So ist es.“ Er schaute aus dem Fenster aufmerksam auf die Straße. Und sagte dann: „Maria, wir können. Gute Nacht.“ Die Geschwister gingen.

Da standen wir nun. Eine kleine Drehung und wir lagen einander in den Armen und hielten einander ganz fest. Das geht bei uns immer sehr schnell und klappt ohne Korrekturen. Habe ich noch mit keinem anderen Mann erlebt. Es ist eine riesige Freude und Genugtuung. Dennoch flüsterte ich: „Ich weiß gar nicht, ob ich noch weiterleben will.“ Nein, das war nicht das, was Fabricius hören wollte: „Du musst weiterleben, schon um meinetwillen! Wir strengen unsere Köpfe an und finden einen Weg aus diesem Dickicht. Ich will deine Selbstmordgedanken gar nicht hören.“ – „Wir wären nicht die ersten!“ – „Alles keine Argumente.“

Wie ernst war das, was der Mladen da erzählt hatte? Wie leichtfertig konnten wir damit umgehen? Wir konnten es gewiss nicht ins Klo schütten und Wasser drüberspülen. Aber sollte es unser ganzes Leben verändern? Ja, so fürchtete ich tief im Innern. Schließlich sagte ich: „Der Mladen spinnt nicht. Ich fürchte, den müssen wir ernst nehmen.“ – „Das ist ein Satz der Vernunft,“ sagte Fabricius, „wir müssen nachdenken und einen Landeplatz finden. Vielleicht müssen wir auswandern.“ – „Und wo bleibt dann mein Beruf?“ – „Das findet sich.“ – „Der Satz ist leichtfertig.“ – „Ja, hast Recht, ein Professor Capet muss anders argumentieren.“ – „Also -?“ – „Ja, ich weiß im Augenblick noch keine Lösung.“ – „Wir gehen ins Bett, wir liegen einander in den Armen. Das ist eine gute Welt. Wir reden nur noch kluges Zeug.“ – „Hauptsache Zeug,“ sagte Fabricius lachend. „Lass uns mal die Ziele abstecken. Also: Weiterleben wie bisher, Praxis, Uni, Theater… Am anderen Ende steht die Flucht ins Ausland. Das letztere ist ein riesiger Aufwand und kann uns das Leben kosten, aber… Es kann auch die große Freiheit bringen.“ – „Ohne meinen Beruf? Was ist mit deinem Beruf?“ – „HNO-Arzt kann ich überall sein.“ – „Das ist trotz allem beruhigend.“ Ich senkte den Kopf. Fabricius hob ihn mir wieder hoch: „Henriette Gusič, denk mal nicht das Schlimmste, denk mal Freiheit.“ Wir schliefen bald ein.

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Sofia, am Donnerstag, den 2. 10.1947

Heute nun dieser Ausriss aus der Presse im Briefkasten, rot umrandet, ekelhaft. Offenbar aus einer juristischen Fachzeitschrift.

‚Bei der Staatsanwaltschaft III in Sofia mehren sich die Zeichen, dass der Prozess gegen den Arzt und Professor Fabricius Capet neu aufgerollt werden muss,’ stand da zu lesen. ‚Zu viele Umstände des Prozesses vom 30.9. geben Anlass zu einem verschlampten Verlauf, wie er in unserer Republik nicht stattfinden darf. Da sind vor allem die Aussagen der Zeugin Henriette Gusič, die bekanntlich von einer Volksdemokratie der Liebe redete und damit den Prozessausgang wesentlich zugunsten des Angeklagten beeinflusste. Die Staatsanwaltschaft III in Sofia hat alle Voraussetzungen bereit, um bei einer Wiederaufnahme des Prozesses den präzisen Ablauf der Verhandlung zu gewährleisten.’

Ich schmiss mich auf die Couch und schrie „Nein! Nein! Nein!“ Fabricius versuchte mich zu beruhigen. Aber ich schrie: „Das geht schief. Was ich da gemacht habe, war einmalig, das Stück kann man nicht wiederholen! Sie wollen uns verderben! Ich will nicht mehr leben!“ Fabricius setzte sich auf die Couch und nahm mich in seine Arme: „Henriette, geliebter Schatz, so darfst du nicht reden, um unserer Liebe willen. Was da steht, ist ja keine amtliche Anordnung. Sicher gibt es solche Überlegungen, aber es gibt auch Mladen und andere Genossen, die dem zu steuern wissen. Bitte, beruhige dich mit positiven Gedanken! Kannst du dir nicht vorstellen, dass der Staatsanwalt auf Rache sinnt?“ – „Ja, auf Rache. Und wer hindert ihn daran, Rache zu nehmen? Mladen sicher nicht! Und Maria schon gar nicht.“ – „Vielleicht kann dein Fabricius in Aktion treten, man muss grübeln, wie das ausgehen kann. Ich bin ja nicht völlig irgendwer…“ – „Fabri, du bist gut und hast armseligen Trost zu spenden.“ – „Es tut mir leid, wenn ich nicht so funktioniere, wie du dir das vorstellst, aber…“ – „Ich gerate in die Hölle! Mir ist nicht zu helfen. Ich werde verbrennen.“ Fabricius hielt mich fest in seinen Armen und schwieg. Er streichelte meinen Arm hinunter, immer wieder. Ich wurde langsam etwas ruhiger. Aber es kochte da ein Feuer.

„Ich kann doch nicht jeden Tag um halb neun ins Bett gehen und schlecht schlafen, weil der Staat mich quält. Ich will auch noch Theater spielen, in bulgarischer Sprache, unsere Klassiker, Übersetzungen aus dem Ausland. Aber was bieten sie mir? Große Taten! Ein so widerliches Stück!“ – „Aber du hat es doch nicht spielen müssen.“ – „Ja, um welchen Preis! Die Gusič kann diese modernen Texte nicht sprechen. Die sind doch nicht modern! Die sind schwachsinnig. Wenn das modern sein soll. Anouilh heißt da einer in Frankreich, den gibt’s hier gar nicht, nie gehört, sagen alle Kollegen. Er hat bestimmt Rollen für mich geschrieben. Also nicht so direkt, – aber Rollen, die ich spielen könnte. Stattdessen Scheißquatsch!“ – „Du wirst eine wunderbare Blanche spielen.“ – „Ja, werde ich, und alle werden schreien: die Gusič als Blanche!, welch eine Offenbarung, dabei wollen sie nicht zugeben, dass es eine Pissrolle ist! Man braucht nicht mich dazu. Fabricius, ich rede ziemlich viel Quatsch. Kannst du denn was damit anfangen?“ – „Aber ja! Nein, du redest keinen Quatsch. Die Zunge löst dir dieser hochverzerrte Unsinn da in der Zeitung. Du bist mehr wert, viel mehr wert.“ Ich sagte sehr wenig überzeugend: „Ja, nicht wahr? Fabricius, können wir einigermaßen vernünftig über die Zukunft sprechen? Ich kann so nicht weiterleben.“ – „Wir werden morgen mit Maria über den Zeitungsartikel reden, rauszukriegen versuchen, was es damit auf sich hat, ob die Staatsanwaltschaft dahintersteckt.“ – „Bestimmt,“ sagte ich mit festester Überzeugung. „Henriette,“ sagte Frabrizius mit mahnender Stimme, “du bist oft zu schnell fertig mit deiner Meinung. Du musst abwägen, du musst den anderen hören, was der zu sagen hat. Lass uns als erstes mal morgen mit Maria sprechen, sie ist ein kluges Kind und kann uns vielleicht helfen.“ – „Ich habe wenig Hoffnung,“ war alles, was ich zu sagen hatte. Dabei dachte ich ähnlich wie Fabricius, und die wenigen Worte, die wir wechselten, taten meiner Seele gut.

Dann tat ich etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr getan hatte: Ich öffnete den Klavierdeckel und setzte mich auf den Hocker davor. „Oh ja!…“ sagte Fabricius, bevor ich noch einen Ton angeschlagen hatte. „Stell dir vor: Ich habe dein Klavier noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen.“ – „Ich spiele nicht besonders gut.“ – „Spiel, bitte, das verscheucht ein paar schlimme Gedanken und tut der Seele wohl.“ – „Also,“ sagte ich spöttisch, „ob mein Spiel schlimme Gedanken besiegt, wage ich doch sehr zu bezweifeln.“ – „Was spielst du?“ – „Wenn ich das wüsste…“ Ich improvisierte ein paar Akkorde, fand mich dann in einer Mozart-Sonate. Und spielte, weil Fabricius mir zuhörte, recht gut. Mit Jon war das nie so recht gegangen. Fabricius küsste mir das Haar und sagte: „Halte das fest, Henriette, wir werden das brauchen. Es versetzt mich in einen guten Zustand.“ Ich brach mittendrin mit den Pfoten auf den Tasten ab: „Mich nicht.“ Fabricius mahnte: „Das darfst du nicht machen, Henriette. Du schmeißt doch auch nicht die Widerspenstige auf die Bühne, wenn du müde bist.“ – „Ich bin sehr viel mehr als müde!“ wusste ich zu erwidern. Dann überlegte ich: „Ja, wär vielleicht ganz schön, wenn man die Abende mit solcher Musik beenden könnte. Aber ich kann das nicht. Es steht zu viel auf dem Spiel. In der Hölle spielt keiner Klavier! Plingpling.“ – „Was könnte das heißen? Plingpling?“ – „Die zwei letzten Töne eines Klavierstücks, auf denen es in die Ewigkeit fährt. Plingpling… Stammt von meiner Urgroßmutter aus Deutschland. Die sagte das immer.“ – „Ich lerne doch immer noch was Neues. Dass ein Klavierstück auf seinen letzten zwei Tönen in die Ewigkeit fährt, das wusste ich nicht. Ich habe mir oft Gedanken gemacht, wo Musik überhaupt bleibt, nachdem sie verklungen ist. Immerhin ein Thema für einen HNO-Onkel…“

Es klingelt. Das ist seit einiger Zeit ein erschreckendes Zeichen. Steht da draußen die Securitate? Hausdurchsuchung? Verhaftung? Es ist Mladen, in Zivil, ein recht sonderbarer Anblick: „Ihr müsst weg,“ platzt er hervor und geht zum Fenster, von wo aus er die Straße sehr aufmerksam beobachtet, „so schnell als irgend möglich. Ich bin mir über die Zeitpläne nicht völlig sicher, aber die Staatsanwaltschaft Sofia III plant böse Dinge von mörderischer Konsequenz. Die können euch treffen. Irgendwelche Pläne?“ – „Nein,“ sagte ich schnell. „Doch,“ sagte Fabricius, „mit dem Segelboot über das Meer in die Türkei.“ Mladen fragte: „Können Sie segeln?“ – „Nein.“ – „Besitzen Sie ein Segelboot?“ – „Nein,“ antwortete Fabricius, „da ist die Küste, da sind Boote, da sind Leute, die uns das Segeln beibringen. Alles nicht ganz einfach, aber zu bewältigen.“ Mladen riet: „Fahren Sie morgen ganz früh los. Die Mitbewohner des Hauses sollten nichts merken. Fahren Sie stadtauswärts nicht auf den gängigen Straßen, Umwege, so früh am Morgen sind erst wenige Autos unterwegs. Da sind Sie schnell erkannt von der Securitate. Immer Richtung Osten ans Meer. Essenspausen in kleinen Orten, Alles tun, um nicht aufzufallen! An der Küste in die große Stadt Burgas, da gehen Sie unter. Ich wünschte, ich könnte Ihnen einen Fischer nennen, kann ich aber nicht. Kauft ein Boot, stellt zur Bedingung: Einweisung ins Segeln. Gebt eure Pläne nicht zu erkennen, es sei denn, ihr fasst zu Jemandem großes Vertrauen. Ich rede dummes Zeug, das ist für euch ja ganz selbstverständlich! Was ist mit Geld?“ – „Ich habe fast mein ganzes Konto leergeräumt, nach und nach.“ – „Sehr gut,“ sagte Mladen. Ich sagte: „Ich kann nicht morgen ganz früh weg.“ Mladen wollte widersprechen, Fabricius sagte in einem Ton, den ich von ihm noch nie gehört habe: „Du kannst, Henriette. Du wirst können müssen, sonst gehen wir kaputt.“ Mladen schaute wieder auf die Straße hinunter: „Es ist schlimm, zwei Leute wie euch so allein zu lassen. Aber ich weiß keine andere Lösung.“ Er ging zu mir, schaute mich an und umarmte mich dann heftig, auch zwischen Mladen und Fabricius gab es eine heftige Umarmung. Dann lief Mladen davon. „Ich gehe jetzt packen. Ich verspreche, nur das Nötigste mitzunehmen, keinen Quatsch, keinen Tand, keine Kinkerlitzchen.“ Fabricius lächelte und reichte mir den Arm. Ich nahm ihn verwundert. Er brachte mich zum Klavier. Ich spielte einen Schubert-Walzer zum Abschied.

Dass ich das alles noch am Abend aufschreiben konnte… Ich packte mit größter Aufmerksamkeit, keine Kinkerlitzchen…

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Ich weiß nicht den Namen des Ortes, wo wir übernachten, am Freitag, den 3.10.1947

Um ½ 4 wollten wir starten, um ½ 5 fuhren wir los. Früh genug. Keine Straßenkontrollen. Ich wollte in Burgas übernachten, Fabricius zog einen kleinen Ort wenige Kilometer vor der großen Stadt vor. Da hielten wir nun, fanden ein Quartier, taten ein paar Schritte, wie wohltuend nach der langen Fahrt, sprachen noch immer kaum. Eine gut ausgestattete HNO-Praxis haben wir zurückgelassen, eine Theaterkarriere, leerer kann die Welt nicht sein. Den Mondfahrern muss es ähnlich ergehen. Ich glaube, Fabricius leidet nicht so sehr an dem Verlust wie ich. Seine Untersuchungsbestecke findet er in jeder Fremde, ich finde mein bulgarisches Staatstheater nirgendwo als in Bulgarien.

Fabricius blieb stehen und wandte sich mir zu: „Ein ordentliches Stück Abenteuer haben wir noch vor uns.“ – „Mir ist nicht bange,“ sagte ich, aber ich musste widerrufen: „Doch. Wenn ich alles recht bedenke, dann kriege ich schon eine Menge Angst. Nicht so viel reden.“ Fabricius tat nur einen sehr dicken Seufzer. Wir gingen dann sehr früh ins Bett.

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Burgas, am Samstag, den 4.10.1047

Heute morgen wacht Fabricius auf, als habe ihn aller Mut verlassen. Nein, nicht als habe… Sondern es hat ihn aller Mut verlassen. Ich rede von einem Boten der Hölle, der ihm im Nacken sitzt. Aber das klingt ja sehr pathetisch. „Wir fahren zurück,“ sagte er, „wir sind dem gar nicht gewachsen. Das Zuhause aufgeben, – man stelle sich das vor, auf dem Meer segeln, als wären wir alte Abenteurer… Nein, nichts da.“ – „Aber Fabri,“ sage ich. Und sehr ungehalten erwidert er: „Nenne mich nicht Fabri. Wir rollen nach dem Frühstück aus diesem Grundstück raus, und ich drehe das Lenkrad auf die Hauptstadt zurück. Heute abend sind wir wieder zu Hause.“ Ich wende ein: „Aber die Gefahren. Denk an Mladen.“ Ungehalten erwidert er: „Mladen ist ein Schwätzer. Er jagt uns ins Elend. Wir müssen uns frei von ihm machen.“ Ich bleibe in großer Skepsis: „Deine Gedanken sind kühn, Fabricius. Und ob sie stimmen, – das ist sehr die Frage. Du lenkst uns zurück in unser Unglück.“ Fabricius bleibt aufgebracht: „Wir schweigen jetzt, lass uns frühstücken, wenn es hier überhaupt etwas gibt. Dann fahren wir zurück – nach Westen.“ Ich wollte etwas erwidern. „Wir schweigen jetzt,“ sagte Fabricius sehr bestimmt.

Wir packten alles zusammen, schweigend. Dann frühstückten wir, schweigend. Etwas, was die Wirtin als Kaffee bezeichnete. Dann zahlten wir und gingen raus. Fabricius setzte sich ans Steuer. Ich setzte mich nicht neben ihn, sondern wanderte um das Auto herum an sein Fenster. „Mach auf,“ sagte ich durch die geschlossene Scheibe. Fabricius kurbelte sie runter. „Fabricius,“ forderte ich ihn auf, „steig aus, dass wir auf Augenhöhe miteinander reden.“ – „Das kann ich jetzt nicht,“ sagte er. Ich angelte mir mit dem Fuß eine klapprige Holzkiste, auf die ich mich setzte. So hatten wir gemeinsame Augenhöhe.

„Fabricius, du bist dabei, uns ins Verderben zu stürzen. Wir können nicht mehr zurück.“ – „Doch,“ beharrte er, „jetzt können wir noch. In wenigen Stunden können wir es nicht mehr. So sind die Fakten.“ Ich wurde sehr bestimmt: „Ich setze mich nicht neben dich, so lange ich nicht sicher sein kann, dass du ans Meer fährst.“ Nun kam der Satz von ihm: „Dann fahre ich alleine nach Sofia zurück.“ Ich war entsetzt: „Fabricius, wie konnte dieser Satz deine Seele verlassen?! Wer bin ich? Wer bist du? Wer sind wir beide? Was du gesagt hast, ist das Entsetzlichste, was ich je von dir gehört habe und je, so hoffe ich, von dir hören werde. Aber fürchte dich nicht: meine Liebe zu dir hockt so fest verankert in mir, unumstößlich, bis ans Lebensende, ans Liebensende. Stell dir das doch einmal vor: ich allein auf diesem Grundstück, mutterseelenallein, während du nach Sofia fährst. Das läuft nicht! Das ist science-fiction. Die Umstände zwingen mir eine Opferrolle auf, zu der ich wenig begabt bin. Auf halbem Weg zum Opferstein, der eine Schlachtbank ist, hältst du an und sagst: Zurück. Einfach so: zurück. Du fragst das Opfer nicht, du ordnest an, du schleifst mich an den Haaren mit. Das geht nicht, Fabricius, dass das klar ist. Eine Person wie ich, die einmal eingewilligt hat, die Opferrolle zu übernehmen – über die kann man nicht nach Gutdünken verfügen, die kann man nicht umbesetzen, um das schlimme Wort zu gebrauchen. Du hast Schiss bekommen, sehr unmännlichen Schiss. Ich mache da nicht mit. Ich helfe dir, ich stütze dich, ich biete dir all meine Kraft, aber ich erwarte dein unmissverständliches Ja zu unserer Schicksalsfahrt. Die kann mit dem Tod enden, mit Verletzung und Siechtum. Sie kann auch wundervoll enden, irgendwo, wo ein HNO-Arzt dringend gebraucht wird, samt Sprechstundenhilfe, der man zuweilen einige Melancholie anmerken wird.

Gut, gut, du bist bloß der Kutscher, die Sprechstundenhilfe gibt den Kurs an, und ich sage: meerwärts, los. Das Gespann sind wir, wir beide, auf großer Fahrt. Wir können nur zusammen oder gar nicht. Sperre dein Herzschloss auf. Irgendwo da hinten ist das Meer. Da müssen wir hin. Ende meiner Ausführungen…“ – „Leg deine Hand hier auf die Autotür,“ sagte Fabricius.

Das tat ich. Fabricius packte seine schöne rechte Hand darauf und sagte: „Wir fahren. Ans Meer. Komm, steig ein.“ Ich rannte um den Wagen herum und setzte mich an seine Seite und küsste ihn. „Nun fahr,“ sagte ich dann, ohne den geringsten Zweifel. Er startete den Wagen und rollte gemächlich aus dem Grundstück.

Die kleine Straße führte an die große Überlandstraße. Auf dem Wegweiser nach rechts stand ‚Sofia 420 Kilometer’ Und ‚Burgas 9 Kilometer’ stand auf dem Wegweiser nach links. Nach links bog Fabricius in die Straße ein, war ein etwas mühsames Einfädelungsmanöver.

Wieder redeten wir sehr lange wenig. Wir erreichten Burgas, das weder Fabricius noch ich kannten. Aber er fuhr mit großer Sicherheit durch die Stadt – zum Hafen. Zu den Segelbooten. Es waren nicht allzu viele. Bulgarien ist auf dem Wege, ein sozialistischer Staat zu werden, über seine Aussichten als Seglernation ist kaum etwas bekannt. (Ziemlich dummer Satz!)

Fabricius fuhr ziemlich nah am Wasser. Überall sehr baufällige Hütten. An einer, deren Tür halb offen stand, hielt er an und rief: „Wo ist der Mann, der mir so ein Segelboot verkauft?“ Ein Mann kam aus der Hütte und schaute sich Fabricius ausnehmend lange an, von allen Seiten, ging sogar um das Auto herum – unsere Köpfe verfolgten ihn. Schließlich blieb er stehen und sagte: „Der Mann bin wohl ich.“ Fabricius fragte weiter: „Und wo ist der Mann, der mir auf so einem Boot die Anfangsgründe des Segelns beibringt?“ – „Der Mann bin wohl auch ich. Geht in das Boot da hinten. In dem könnt ihr übernachten, nicht sehr bequem, aber es geht. Morgen früh um acht komme ich, dann machen wir einen ersten Törn.“ – „Und reden über den Preis,“ ergänzte Fabricius. „Ja,“ sagte der Mann, „obwohl ich über den nicht gerne rede.“ Damit verschwand er in seine Hütte. „Wie findest du das?“ fragte Fabricius mich. „Ich bin ein Hoffnungsmensch,“ sagte ich, „und finde das ganz wundervoll.“

Es ist eine sehr unruhige Nacht. Ich fürchte ja immerzu irgendwelche Entführungen oder Überfälle, weiß auch nicht, warum. Nun ja, ganz harmlose Touristen sind wir jedenfalls nicht. Aber es passiert nichts.

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Erster Ort an der türkischen Schwarzmeerküste, am Sonntag, den 5. 10. 1947

Morgens kommt pünktlich der Segellehrer. Entweder ist er ein ganz ausgezeichneter Lehrer oder Fabricius ist ein ganz außergewöhnlicher Schüler. Er begreift, noch ehe der andere viel gesagt hat. Wir segeln über die Bucht von Burgas hin und her, große Kurven, schnelle Passagen, scharfe Turns. Dann sind wir wieder im Hafen und Fabricius – ja, kann segeln. „Der Preis,“ fordert er beim Aussteigen. Der Mann streicht sich übers unrasierte Kinn: „Du zahlst, was du zahlen kannst.“ Vertrauensvoll wandte er sich an mich: „Ist nicht viel oder?“ Dann wieder zu Fabricius: „Da, wo du jetzt hingehst,“ – Woher um Himmels willen wusste er das??? „– brauchst du viel Geld. Behalte, was du brauchst.“ Was für eine schöne Formulierung: Behalte, was du brauchst, gib mir, was du übrig hast. Fabricius holt Geld aus der Tasche und hält dem Mann einen Packen hin, ohne nachzuzählen. Der Mann nimmt es, zählt auch nicht nach und geht davon.

Fabricius bittet mich mit einer Geste auf das Boot zurück. Ich will protestieren: „Noch eine Nacht in der engen Kajüte?“ Fabricius nickt. Ich folge seiner Geste, er springt auch auf das Boot und richtet mit ein paar Griffen die schlaff hängenden Segel auf, so dass das Boot ins offene Wasser schaukelt. „Was hast du vor?“ frage ich sehr ängstlich. Ganz leise flüstert er in mein Ohr: „Türkei.“ – „Jetzt?“ frage ich entsetzt, „es ist gleich tiefe Nacht. Du bist zum ersten Mal auf See. Nein, Fabri, lass das.“ Er schüttelt den Kopf und geht ans Steuer. Wir gleiten langsam durch den dunklen Hafen. Gleich hinter der Mole nimmt Fabricius Kurs nach Süden. „Bitte, setz dich,“ sagt er, „hier, neben mir.“ Ich sinke nieder an seiner Seite. „Ich habe diese Küste auf der Karte sehr genau studiert, – es kann nicht viel passieren. Krajmorie, Sosopol, Zarevoviel später kommt noch Rosovo. Und schließlich kommt die Grenze.“

Ich umarme ihn heftig. Das Wasser wurde etwas unruhig und ließ unser Boot immer erkennbarer schaukeln. Fabricius schaute nach hinten, nach achtern muss man hier ja wohl sagen. Plötzlich schrie er: „Hinlegen!“ Ich sagte: „Ich liebe es, wenn du zu mir sagst, dass ich mich –“ – „Hinlegen!“ schrie er noch einmal. Ich rutschte auf die Planken, er eng neben mich: „Es könnte sein,“ sagte er, „dass ich Mündungsfeuer von einem Patrouillenboot der bulgarischen Marine gesehen habe.“ Nein, zu hören ist nichts, wenn, dann ginge das unter im Pfeifen des Windes.

Ich schreibe nicht viel über mancherlei Umstände. Wohl, weil das Theater da kaum noch eine Rolle spielt; als es noch die Widerspenstige in meinem Leben gab, war ich sehr viel ausführlicher. Dies ist das Tagebuch der Sprechstundenhilfe.

Dann schrammte das Boot ziemlich heftig auf einen Kieselstrand und legte sich gleich schief, so dass ich Mühe hatte, mich aufrecht zu halten. „Hoffentlich,“ sagte Fabricius, „ist das schon die Türkei.“

Ja, das war sie. Wir klingelten am erstbesten Haus, das wir erkennen konnten. Eine alte Frau machte sehr behutsam die Haustür auf. Sie sprach ein sehr schlechtes Bulgarisch und das sehr rasch: „Haut ja ab! Ihr kommt von drüben?“ – „Ja.“ – „Ein ganzes Regiment von euren Securitate-Leuten wimmelt hier herum. Da hinten ist eine Haltestelle zum Bus nach Istanbul. Los, weg! Fährt in einer Stunde.“

Wir gehorchten. Wir kamen nach Istanbul und suchten eine offizielle Stelle für Flüchtlinge. Aber da war nichts als eine Polizeidienststelle. Auf dem Flughafen landeten wir und ergatterten zwei Tickets nach München.

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München, am Montag, den 20.10.1947

Diese vergangenen zwei Wochen waren eine einzige Turbulenz. In München sind wir gelandet, in des Wortes Bedeutung, fast völlig zerstörte Hauptstadt von Bayern. Mit sehr unterschiedlichen Bewohnern: viele sind sehr nett und hilfsbereit, aus vielen spricht der Hunger und die Verzweiflung. Die Stadt ist fast völlig zerstört durch die Bomben des Kriegsfeindes. Wo schlafen nur die vielen vielen Menschen? Bulgarische Flüchtlinge sind äußerst selten. Dennoch kümmert sich eine Frau in einer amtlichen Stelle sehr rührend um uns. HNO-Arzt, das wird selten gesucht. „Und ich,“ sage ich dann, „bin die Sprechstundenhilfe.“ Sie lächelt, als sähe ich nicht wie eine Sprechstundenhilfe aus. Dafür wollte ich Fabricius verantwortlich machen, aber das geht natürlich nicht.

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Hohentwil, am Mittwoch, den 22.10.1947

Wir sind im Flüchtlingslager Hohentwil gelandet, irgendwo im Südwesten Deutschlands. Es ist alles sehr ordentlich und sauber, sehr deutsch, könnte man sagen. Und wir suchen und suchen nach einer Bleibe auf diesem Planeten. Für mich ist alles sehr sehr fremd. Ich vermisse meine Sprache. Es gibt nur noch einen Bulgaren auf der Welt: Fabricius. Wir müssen ja auch Geld verdienen. Streckenweise sind die Tage sehr ermüdend. Bloß gut, dass Fabricius darauf bestand, alle Papiere mitzunehmen. Seine beruflichen Qualifikationen eröffnen uns doch eine Menge Aussichten.

Ich atme schwer. Die Fülle ringsum mich macht mir Angst. Ich bin die Frau, die ihren Beruf verloren hat. Um so heftiger klammere ich mich an Fabricius. Und weiß nicht, ob ihm das gefällt. Doch, ja, wir finden Augenblicke des Ausruhens, auf irgendwelchen Bänken, in kleinen Cafés, wo wir einander die Hände halten können und die Zeche wenig kostet. Wenn es mir sehr gut geht, dann mache ich alles durch wie eine Schauspielerin, als sei ich mitten in einer Rolle. Geht es mir nicht so gut, dann heule ich viel und notiere im Geiste, dass das Theater jenseits vom Leben liegt.

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Hohentwil, am Donnerstag, den 23. 10. 1947

Morgen brechen wir auf nach Fort-de-France, Hauptstadt der Karibik-Insel Saint Martinique. Fabricius fragte mich mit einem Schmunzeln nach meinen Französisch-Kenntnissen. Verwundert antwortete ich: „Nicht viel mehr als Schul-Französisch.” St. Martinique ist französisch. Es hat sich ergeben, dass Fabricius dort eine große HNO-Praxis übernehmen kann und Aussicht hat auf eine Dozentur an der regionalen kleinen Universität. Ich kann das noch nicht fassen. Er sagt: „Du wirst meine Sprechstundenhilfe.“ Ja, das werde ich wohl. Als Sprechstundenhilfe also endet auf der Karibik-Insel St. Martinique die seltsame Karriere der Henriette Gusič…

Das sind die letzten Worte im Tagebuch der großen bulgarischen Schauspielerin Henriette Gusič, vermeldet im ledergebundenen Buch mit der kyrillischen Gold-Aufschrift ‚Mein Kochbuch’, das Arbeiter festgeklemmt im Seitenteil eines Bettes fanden, als die große Mittelbaracke abgerissen wurde. Es gibt viele Anzeichen, dass es dort absichtlich vergessen wurde.
Aus Fort-de-France hört man indes, dass Doktor Capet sich sehr schnell einen Namen machte, weil er den jungen unter Dauererkältungen leidenden Fischern dringend riet, ab Mitte Oktobernacht nicht mehr morgens um halb vier in kurzer Hose und T-Shirt auf Fischfang zu fahren, sondern sich wärmer anzuziehen. Das taten sie, und die Dauererkältungen gingen fast schlagartig zurück unter kräftigem Einsatz von Sprechstundenhilfe Henriette Capet, geborene Gusič.
Professor Doktor Fabricius Capet ließ auch ein Klavier ins karibische Haus stellen. Mozart, Beethoven, Reger. Plingpling.

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Claudia indes hat später auch vernommen, dass sich in Fort-de-France in gewissen Kreisen ein reges Interesse an bulgarischer Untergrundliteratur entwickelte. Die bulgarische Staatssicherheit ist nie dahinter gekommen, auf welchen Wegen solche Schriften in die Karibik gelangten.

Henriette Gusič – Teil 1

Claudias Klappentext hierzu

Lotte in Weimar