Fack ju, Göhte – auf Italienisch

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Frau Dr. Inge Prinz gewidmet, die mich vor vielen Jahren zu diesem Film ins Kino einlud.

Italiano

Was folgt, ist eine 30 Jahre später geschriebene Darlegung meiner damaligen Abenteuer in einem Chat mit 3 Freunden, Martina, Michael und Angela

Ostia, Berufsschule, 80er Jahre (also kein Computer und kein Handy; überhaupt keine Elektronik):

Claudia
Noch folgende wahre Geschichte:

Meine Berufsschüler konnten durchaus mit Schraubenziehern umgehen und die elektrischen Leitungen in einer Zweizimmerwohnung planen und auf einem großen Brett anlegen. Mit Worten erklären, was sie da getan hatten, war schon schwieriger, ein Ding der Unmöglichkeit war Schreiben. Denen sollte ich etwas Fachenglisch beibringen, und später Sozialkunde. Anfangs war das wichtigste, nicht entsetzt oder gar verzweifelt aus der Klasse rennen. Es waren 6 Klassen mit jeweils 25 Knaben zwischen 14 und 18. 

Die italienische Verfassung feierte ihr 40jähriges, es gab ein Gratisheft beim Zeitungshändler. “Holt euch eine Verfassung im Zeitungshandel!” Wer kein Heft ergattert hatte, bekam eine Fotokopie des ersten fundamentalen Teils der Verfassung.
Also: nicht lesen, nein nein, sucht nur mal schnell die Wörter da an der Tafel: Recht, Pflicht, gleich, Bürger, Staat, Freiheit, Gleichheit, Gesetz, verpflichtet (weiß jetzt nicht mehr, was ich sonst noch alles hingeschrieben hatte). Die Jungs:
Aha? Na klar, machen wir. – Totales Schweigen in der Klasse.
Dann:
„Diese verdammte Tochter einer Hure von Professoressa hat uns schon wieder mal ausgetrickst!“ Alle kichern und suchen und unterstreichen weiter, dann wird gezählt, einige haben mehr, andere weniger, was natürlich eine kleine Schmach wäre, weshalb weitergesucht und verglichen wird. 
Kommt einer voller Gel in den Haaren und voller Pickel im Gesicht zu mir und protestiert:
“A Professorè, was soll denn das Geschreibsel?”
“Wie bitte?” 
“Na, diese Schreiberei hier? Ist doch klar!” 
“Das ist die italienische Verfassung, das wichtigste Gesetz des italienischen Staates!” donnere ich zurück. 
“So’n Scheiß! Das ist doch alles klar!!!” 
“Was ist klar?”
“Na all das, was hier geschrieben steht! Dieses.., na wie war das? Ja, dieses Briefgeheimnis! Ist doch klar, dass man meine Briefe nicht aufmachen darf!! Oder da, wo die da schreiben, dass wir uns versammeln dürfen!!! Ist doch alles klar! Das muss man doch nicht aufschreiben!!! Das ist reinste Papierverschwendung!!!!”

Michael
Bei diesem Demokratieverständnis deiner Schüler ist mir nicht mehr bang um Italien und Europa.

Claudia
Die hatten das Fürchten bereits gelernt, Kriminalität rund um sie herum war alltäglich, Heroin, Heroin-(und nicht nur)leichen, Zukunft vollkommen nebulös. Aber junge Menschen sind nun mal unverbesserliche Optimisten, unsere Schule war da so eine Hoffnung. Sie hatten gar keine Manieren, aber das Herz am rechten Fleck. Es war ein seeeeehr anstrengendes Abenteuer, für mich machbar, solange mir die Kollegen Rückendeckung gaben – aber auch die musste ich mir erobern, und verlor sie zuletzt – und ich habe viel von den Jungs gelernt.

Übrigens gab es auch 2 Mädchenklassen, um deren Lächeln auch die männlichen Kollegen buhlten.

Michael
Ich bewundere dich, wie du das alles gewuppt hast. Und ohne pädagogische Ausbildung. Die kleine Claudia muss ganz schön massiv und clever aufgetreten sein. Schade, dass deine Kollegen dich am Ende nicht mehr unterstützt haben. Woran lag’s?

Claudia
Laaaange Geschichte.

Wir fahren jetzt nach Porto Pino 🌲 . Heute Nachmittag erzähl ich weiter. Grundsätzlich bekommt man von Kindern und auch von diesen Jugendlichen fast immer mehr zurück, als erwartet und als man investiert.

Das schlimmste an Schulen sind eigentlich immer die Schulleitungen. Bestehend aus Lehrern, die vor den Schülern nicht bestehen. Die machen dann schleunigst „Karriere“ bloß, um nicht mehr im Klassenzimmer stehen zu müssen.

Ich hatte vor der Schule in Ostia mit den vielen Jungen schon 4 Jahre in anderen Berufsschulen mit Mädchen – Steno und Schreibmaschine – hinter mir, also doch schon etwas Erfahrung, in Rom, Velletri und Pomezia. Immer 1 1/2 Stunden Fahrzeit hin und ebenso zurück. Wenn die Busse fuhren. Diese erste Schule mit all diesen Filialen wurde von einem total psychopathischen Gewerkschafter aus der sozialistischen Gewerkschaft geleitet. Er verlangte von allen ein paar Tausender (nicht von mir, er meinte, er könne Gianni damit um die Finger wickeln), und dafür bekam man dann einen Festanstellungsvertrag. Gleich drauf begann er den Krieg, um dich wieder rauszuschmeißen. Man verließ die Schule 5 Minuten vor Dienstschluss? Erste Mahnung wegen unerlaubter Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Er übte einen unglaublichen Druck auf alle aus und verstand es bestens, die Schwächeren gegen die „Oppositionellen“ auszuspielen. Fast alle Kollegen kamen früher oder später vollkommen verstört in die Schule und erzählten, sie hätten von dem Mann geträumt. 

Dann bekam er einen Herzinfarkt. Der Direktor der Schulfiliale in Velletri entkorkte eine Flasche Sekt und stieß auf den Herzinfarkt an. 

Da habe ich dann auch von ihm geträumt: ich führte ihn durch die Pausenhöfe, alle schreckten entsetzt zurück, und ich sagte: Mensch, seht ihr denn nicht? Der Herzinfarkt hat ihm den ganzen Grips genommen.! – Tatsächlich grüßte er alle mit einem Vollidiotenlächeln. Das natürlich nur in meinem Traum.

Auch mich wollte er loswerden, weil er mit mir überhaupt nichts anzufangen wusste. Dann ergab es sich, dass die Englischlehrerin in Ostia wegging. Diese Schule wurde von der kommunistischen Gewerkschaft geführt. Es gab einige Monate hin und her, bis die beiden Chefs sich einigten, weshalb ich also erst im Dezember in Ostia antrat. Da hatten die Jungs bereits jeden Monat eine neue Aushilfe zerfetzt.

Michael
Das Schulwesen in Italien scheint sich wohl in einiger Beziehung von dem in Deutschland zu unterscheiden. Parteizugehörigkeit spielt in Deutschland sicherlich eine Rolle, wenn es um die Besetzung von höheren Positionen geht, also vor allem Schulleitungen von Gymnasien. Und Vorgesetzte, die inkompetent und menschlich nicht integer sind, gibt es überall auf der Welt.

Im Ministerium spielte das Parteibuch bei der Besetzung von Abteilungsleitern (vergleichbar den Generalsrängen) durchaus eine Rolle, im Bund, wo diese Ebene bereits mit politischen Beamten besetzt ist, ist das die Regel; diese werden allerdings beim Regierungswechsel meistens entlassen. Auf der untersten Leitungsebene der Referatsleiter habe ich auch so einiges erlebt. Da verhalten sich aber alle Parteien ähnlich.

Claudia 
Die italienischen Berufsschulen haben mit dem öffentlichen Schulwesen wenig zu tun. Die Regionen = Länder vergeben Geld und Aufträge zur Leitung solcher Schulen an Private, kath. Kirche allen voran. Das geschah in den 70ern und 80ern, also noch politisch vor allem von links sehr engagiert. ALLE Parteien von damals haben sich mittlerweile in Luft aufgelöst.

Michael
Nur den Papst (mit p) gibt es immer noch!
Und auch du lässt dich nicht unterkriegen. Finde ich 👍 👍 👍

Claudia
Kleinkriegen? Ich KANN nicht anders leben.

Michael
UND DAS IST GUT SO!!!!!!

Claudia
So, nun kommt der zweite Teil:

In die erste Schule in Rom kam ich nach 5 Wochen zuhause im Dunklen, weil unsere beiden Töchter nacheinander Masern hatten. Ich war also ziemlich zerquetscht. Da rief Gianni an, er sei auf dem Weg mit einem anderen Gewerkschafter, ich soll ein paar Teller Spaghetti kochen. Mit dem Gewerkschafter quatschten wir dann lustig und fröhlich. 2 Tage später rief der an, ob ich ein paar Stunden Englisch in der Berufsschule übernehmen wollte. Der Psychopath – von dem ich natürlich noch gar nicht wusste, dass er so psychopathisch war – hatte eine rausgeschmissen, die uuuuungeheuer „empfohlen“ worden war, nie Unterricht hielt und nur mit ihren wichtigen Hintermännern rumprahlte. Die Schüler hatten so lange protestiert, bis ich kam. Da hatte ich insofern einen Vorteil, als ich – völlig unerfahren – doch immerhin Englisch konnte und auch was davon vermittelte.

Der Chef in Ostia hatte ein starkes kommunistisches Sendungsbewusstsein für die arme ungebildete Unterschicht, war nicht mehr der jüngste und hatte seine anfangs brillante Karriere in der KPI wegen einer Liebesgeschichte aufgeben müssen. Er verliebte sich in Flora, als er bereits verheiratet war und 2 Söhne hatte. Sowas wäre in der Democrazia Cristiana kein Problem gewesen, eben schön schwören und abschwören, in der kommunistischen Partei war das nur einfach verboten. Die schöne Flora floh nach Australien, hielt es nicht aus, er auch nicht. Sie kam zurück, er trennte sich von seiner Frau – Scheidung gab es ja nicht. Die Scheidung kam so etwa 30 Jahre später, als ich in Ostia war, sie war seine Sekretärin. Wir mussten alle mit zur standesamtlichen Trauung. Floras Brustkrebs kam wieder, er ging in Rente, sie starb. Sie ließ mich wenige Tage zuvor noch einmal rufen.

Da saßen wir dann, sie im Bett, Renato stand davor, die neue Sekretärin und ich an ihrem Bettrand. Man quatschte so ein bisschen, aber dann kamen eben doch die Tränen. Bei allen Vieren. Geistesgegenwärtig zupfte ich ein paar Tücher aus der Kleenex-Box auf dem Nachttisch und verteilte sie. Das führte dann zu einem kleinen verschluchzten Lacher. Flora triumphierend: “Siehst du, genau deshalb wollte ich dich noch mal sehen!”

Nach dem doch sehr charismatischen Renato kam ein sehr unscheinbarer, teuflisch fieser Typ. Die Schule war schon seit einigen Jahren nicht mehr von der Gewerkschaft geführt, sondern in die Gemeinde Rom eingegliedert. Die Kollegen glichen sich langsam an die Fiesheit des neuen Chefs an. Dann wurde eine zugegebenermaßen sehr hässliche Feuertreppe gebaut. Das fanden die Bewohner des angrenzenden Eigentumswohnhauses scheußlich, und eines Tages kam ein Männertrupp von ihnen anmarschiert und wollte sie abreißen. Es gab Zeter und Mordio mit meinen Kollegen, die sagten, sie sollen zur Gemeinde gehen und dort protestieren, das hinge schließlich von denen ab. Das kam bei Wohnungseigentümern aber irgendwie nicht an, und die gegenseitige Beschimpferei wurde immer heftiger. Da stürmte ich schließlich die Treppe runter und fragte sie, ob sie denn nicht lesen könnten, zeigte ihnen alle Schilder „Comune di Roma“, hier steht‘s geschrieben und da auch: „Comune di Roma“. Damit hatte ich unter den Kollegen mein Todesurteil unterzeichnet. Ich hatte die Wohnungseigentümer dermaßen erschüttert, dass sie kleinlaut abmarschierten. Zunächst wurde viel gelacht, aber die Kleine, das Weib da, nein, das konnten sie nicht auf sich sitzen lassen. Als der fiese Typ mich wenig später in einer Sitzung zusammenschiss, wusste er bereits, dass die Kollegen keinen Finger rühren würden. Er tat es ohne jeglichen Grund und mit grausigem Vergnügen. 

Ich beantragte 10 Monate unbezahlten Urlaub. Bekam ihn, weil in der Sitzung des für solche Anträge zuständigen Ausschusses der Regionalregierung 3 Anträge als bewilligt in eine Mappe geschoben wurden – mehr Anträge zu beraten wäre entschieden zu viel Arbeit gewesen – und dann ein dazu beauftragter Typ einen Antrag rausnahm und meinen reinlegte. Sonst wäre ich wohl immer noch in Ostia.

Im Januar ’89 ging ich, im September schickte ich meine Kündigung per Einschreiben von der Post in Palinuro ab.
14 Tage später klingelte das Telefon:
“Professoressa Podehl? “
“Ja? 
“Ehm, hier ist das Amt für Berufsschulen der Gemeinde Rom. 
“Ah, guten Tag.”
“Guten Tag. …Ehm, … wie geht es Ihnen?” 
“Gut, danke?” 
“Ehm, Professoressa, wir haben einen Brief von ihnen bekommen?” 
“Ja.” 
“… Ehm, in dem Sie kündigen?” 
“Ja.” – (langes Schweigen) … 
“Professoressa, Sie haben den Brief nicht unterschrieben!”
Ich habe so schallend gelacht, dass das gesamte Amt, das stillschweigend hinter der mutigen Anruferin gestanden hatte, nun ebenfalls kicherte. Ich fuhr schleunigst ins Amt und unterschrieb. Die Dame erzählte mir, sie hätten tagelang überlegt, was sie machen sollten, denn sie hatten den Verdacht, es sei ein weiterer böser Scherz von denen da in Ostia.

Als ich 9 Jahre zuvor dort angetreten war, war es DIE Vorzeigeschule gewesen.

2 Monate nach meiner Kündigung, im November ’89, fiel die Mauer. Ganz Italien war von dem „neuen“ Deutschland begeistert und im Frühjahr ’90 schickte mich die Sprachenschule, in der ich als Freiberuflerin Deutsch für Erwachsene unterrichtete, zum Sprecher des Staatspräsidenten, einem Diplomaten, der nun Deutsch lernen wollte. Er hatte ausdrücklich nach mir verlangt. Ich war schon drauf vorbereitet, die Schule nicht. Zur ersten Lektion irrte ich eine halbe Stunde durch die endlosen Gänge des Quirinalspalastes, der Diplomat war sauer. Eine Stunde später beherrschte er die deutsche Aussprache perfekt. Diplomaten können das. Zur 2. Lektion kam noch ein Typ dazu. Nach weiteren 2 Lektionen rief mich die Leiterin der Schule an, da sei noch einer, der Deutsch lernen will. Claudia? Was machst du denn bitte mit den Männern des Staatspräsidenten??

Angela: wünsche dir wohl geruht zu haben. Ich sehe: du bist voll in deinem Element. Genieße es in vollen Zügen. Ja sicherlich, der unerquickliche Mensch hat dich fortgejagt, aber letztendlich bist du jetzt so frei wie noch nie.

Auch bei mir ist diese ganze Sache nicht so glimpflich abgelaufen, wie ich hier bis jetzt zu verstehen gebe. Ein Jahr bevor ich dann endgültig ging, war plötzlich meine Stimme weg. Ein ganz einfaches laut gesprochenes “a” war mit schlimmen Schmerzen verbunden. Ich war 2 Monate krank geschrieben. Das war, so wie ich es heute sehe, das Zeichen, dass ich Tapetenwechsel brauchte, aber man gibt ja schließlich nicht so leicht auf. Ich ging zu einem Homöopathen, der das (Stimm-)Problem löste. Schön langsam.

Ich kann momentan so schnell schreiben,  weil ich stundenlang am Strand von Porto Pino lang laufe.

Michael
Schreibst du beim Laufen?

Claudia
Nein, da denke ich nur.

Zurück zu den Jungs:
Frühsommer, ich bin schon etwas braun, gehe in einem weißen Leinenkleid durch die Klasse zum Katheder. Die Jungs beschießen sich mit Papierkügelchen und bemerken mich trotz meines energischen Schrittes und klickender Absätze überhaupt nicht. Nur ein ziemlich langer Lulatsch auf zu kleinem Stuhl knallt mit der flachen Hand auf sein zu kleines Pult und brüllt: “Seid still!! Seid doch mal alle bitte still!!! Schaut euch doch Professoressa an!!! Die ist heute so lecker, wie ein ganz ganz frisches deutsches Bier!!!”

Martina
😍😂😂

Michael
Das geht dir heute noch runter wie. …Bier😂
Hast Du das kommentiert?

Claudia
Ich habe gelacht, was dann zur Folge hatte, dass auch der Rest der Klasse gewahr wurde, dass ich da war und sie ihre Aufmerksamkeit vielleicht besser mir zuwenden sollten.

Noch mal Ostia:
Sie haben einen mickrigen Jungen in einen Müllcontainer geladen, diesen zugemacht und ihn rasselnd die Abfahrt zu einer unbenutzten Tiefgarage runtersausen lassen. Die entsetzte Mutter stürmt die Direktion, die Jungen werden vorstellig, immer mehr: das sei doch alles nicht so wild – verteidigen sie sich -, es sei ja gar kein Müll im Container gewesen, im Gegenteil, der sei entleert und sogar gerade von der Müllabfuhr frisch gewaschen worden. Der Winzling mit seinen paar dunklen Härchen über der Oberlippe schweigt neben seiner Mamma, die mit dem Finger auf einen großen, blonden, blauäugigen Sylvester Stallone zeigt, der Riese sei der Schuldige. Nur, der ist der gutmütigste aller Schüler, aller Menschen Freund, ewig gebeugt, um trotz seiner erheblich Höhe mit allen kommunizieren zu können. Die Szene, die ich nur am Rande mitbekommen hatte, endet nach langem Hin und Her mit einer schweren Strafandrohung gegen Unbekannt. Wer’s gewesen war, war nicht rauszukriegen. Der Kümmerling verlässt die Schule trippelnd neben Mamma, die Schüler kommen schelmisch lächelnd aus der Direktion. Ich halte zwei von ihnen an: 
“Sagt mal, seid ihr total übergeschnappt?” 
“A Professoré, der ging uns allen ständig auf die Eier! – Scheißstichler!”
Das kräftig unterstrichen mit der sehr eindeutigen römischen Geste hierfür.

Damals waren alle Werbeflächen auf der Straße besetzt von einer verträumten jungen Dame mit benebeltem Blick. Darüber in Großbuchstaben: „HO FATTO L‘AMORE CON CONTROL“ . Werbung für Präservative. 
Pause, alle rennen raus, einer bleibt, pflanzt sich vor mir auf: 
“A Professoré, ho fatto l’amore con control! “
“Bravo, du scheinst dich ja mit recht wenig zufrieden zu geben.” 
Er bewegt die Lippen, wie ein Fisch im Aquarium, dann macht er kehrt und rennt entsetzt brüllend raus: 
“A Barakuda! (so hieß sein Freund), weißt du, was die Professoressa gesagt hat?!!” – Kurzes Schweigen, während er erzählt, danach lachen ihn alle aus, weil er sich hat reinlegen lassen.

Ich will die Schüler alle in der Klasse, wenn ich reinkomme. Die Hausmeisterin hat einen riesigen Schlüsselbund, mit dem sie die Jungen in die Klasse jagt, nur sehr selten landet er mal auf einem Schenkel „No, Sora (=S(ign)ora) Gina, no,“ brüllen sie, wenn sie auch nur damit droht, und verschwinden in der Klasse. Ich habe weder ihre Statur noch so einen tollen Schlüsselbund, aber so ein nicht ganz sanfter Fausthieb auf den Oberarm tut’s auch. Das spricht sich rum, und sobald ich das Fäustchen zeige, verschwinden sie auch bei mir im Klassenzimmer. 
Nur einer spielt den tollen Macho, etwa 5 cm größer als ich. „Nach Ihnen, Professoressa“, sagt er galant. Wir debattieren, aber er will’s mir zeigen. Ein Hieb: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Ein zweiter. „Nur zu, nur zu, Professoressa“, grinst er und zeigt mir seine tollen Muskeln. Beim dritten Hieb fasse ich ihn am Kragen und schiebe ihn vor mir ins Klassenzimmer. Eine Stunde Unterricht. Als ich nach der Pause wieder zurückkomme, grinst die ganze Klasse und schaut auf die Tafel hinter mir. Ich dreh mich um: „Achtun, Achtun, Podel in the classroom!!!“ Auf der anderen Tafel: „Podel, the Lion“.

Und noch einer lässt sich nicht beeindrucken, und das genießt er sichtlich. Sein schönes Gesicht sieht aus, als sei er von einem Fresko in Pompei herabgestiegen. Er blickt mich schwankenden Auges an, geht nicht zum Platz, setzt sich nicht. Schwankt selber. Das Heroin – eben nicht ich als unerträgliche Erwachsene – hat ihn bereits im Griff. Jegliche Vernunft schwindet, irgendwann später auch die lebenserhaltende Fähigkeit zu atmen. „Überdosis“. Weil er seine Schulden nicht zahlen kann, so hieß es.

Ein andermal komme ich an einem Montag in die Schule, es herrschte traurige Aufregung: ein Junge, der die Kurse schon im Sommer mit guten Noten abgeschlossen hatte, war am Samstag Abend feiern gegangen, auf dem Rückweg fuhr an einer Kreuzung ein Auto mit Vollgas über ihn samt Moped hinweg. Ein Mädchen hatte ihn gebeten mitfahren zu dürfen, er hatte sie aber nicht mitnehmen wollen, aus unerklärlichen Gründen. Ich war nie gut im Namenmerken, geschweige denn den Namen mit Gesichtszügen verbinden. Schon gar nicht in der Schule, wo jedes Jahr 100 Schüler gingen und ebenso viele neue kamen. Ich brauchte eine Weile, bis ich ihn dann plötzlich vor mir sah, breite Schultern, schmale Lippen, liebenswürdige dunkle Augen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr vergessen.

Michael
Dein Lehrerinnen-Leben war wirklich bunt und du hast dich wacker geschlagen.

Claudia
Lieber Michael, um’s mich Wacker Schlagen ging’s mir in diesen Jahren an den Berufsschulen nur am Rande. Ihr bekommt gerade erst mal die lustigen raschen Geschichten, die bereits auf Italienisch veröffentlicht sind, in unordentlicher Reihenfolge, so wie sie nun gerade auf Deutsch aus mir rauspurzeln.

Die Faszination ist für mich das Lernen. Lernen ist die ureigenste Fähigkeit, die den Menschen zum Menschen macht, und das Lernen als solches – ohne den erzieherischen Unterton (oder Überton) – ist ein unglaubliches individuelles Erleben, man vergisst Gott und die Welt, und hinterher dann auch den Lernprozess selbst. Drum sind ungeduldige Lehrer, die ihre eigenen Lernprozesse vergessen haben, schlechte Lehrer. Aber was sich in all meinen Schülerinnen und Schülern abgespielt hat, während sie das von mir Vorgeschlagene lernten, war für mich so unglaublich spannend, dass es oft richtig knisterte. Ein Beispiel war eben der Trick, die Burschen dazu zu bringen, sich mal die Verfassung anzuschauen. Die hätten sie mit einfach „nu lies mal“ nie und nimmer gelesen. Diese Stunden mit all den Kommentaren, die aus insgesamt 240 SchülernInnen durch die Klassenzimmer flogen, waren unerwartet, lehrreich, witzig, manchmal durchaus auch ärgerlich. Ich habe in der Erzählung nur die 2 tollsten wiedergegeben.

Michael
Mit wacker geschlagen meinte ich, dass du die Jungs (Mädels) im Griff hattest, in deiner Schule für’s Leben!!!!

Claudia
So, nu kriegt ihr auch gleich noch eine längere, noch nicht ganz ausgefeilte Geschichte:

Eine Stunde Fahrt durch das trübnasse Rom und die gefährliche Via del Mare. Die Schüler erklären mir, sie werden heute streiken. 
“Schon wieder? Und warum denn nun diesmal, bitte?” 
“Ja, weil, hm, weil .. Kein Weil, wir streiken!”
Sie sind unschlüssig, etwas zerstritten.
(Wie hätte ich mich über 2 freie Stunden gefreut. Aber das durfte ich natürlich nicht sagen.)
“Hört zu, ich trage Punkt halb neun die Abwesenden ins Register ein, wer nicht in der Klasse ist, muss morgen eine Entschuldigung bringen! Von den Eltern unterzeichnet!!!”
Das tue ich, nur die halbe Klasse ist anwesend. 
Der Klassensprecher protestiert: “A Professoré, Sie können keinen Unterricht machen, wir sind zu wenig.”
Langes Hin und Her, dann kommen wir überein, sie machen ein „collettivo“, ich darf aber im Raum bleiben. Ein echtes collettivo nach ’68er Art hätten sie voranmelden müssen. Ich tue so, als ob ich Schulaufgaben korrigiere. Der kräftige Klassensprecher pflanzt sich mit dem Rücken zu mir auf und startet eine heftige Haarwäsche: So geht das nicht weiter, wir müssen jetzt ordentlich lernen, sonst fallen wir bei der Prüfung alle durch!! Eine halbe Stunde ehrliche Reue, alle sind zerknirscht und haben Angst durchzufallen. Dann noch etwas Ruhe, die ersten Papierkügelchen fliegen durch den Raum. 
Dann der Klassensprecher: 
“A ja Kinder, ich muss euch noch was sagen! Wusstet ihr, dass es in dem Haus da und da eine Familienberatungsstelle gibt, und wenn ihr äh äh äh macht – die einschlägige römische Geste ist mehr als eindeutig -, dann könnt ihr da hin gehen, und die lösen euch alle Probleme. Und ihr müsst noch nicht mal was zahlen!”
Die Luft im Raum steht still, aller Schüler Augenpaare sind auf mich gerichtet. Der Klassensprecher folgt deren Blick, dreht sich um und erinnert sich nun, dass ich ja in der Klasse geblieben war.
“A Professoré, warum sagt uns das niemand, dass es so eine Beratungsstelle gibt? Das ist doch wichtig!
Ich setze eine graniternste Maske auf: “Und woher weißt DU das?” 
“Ich bin da hin gegangen.”
“Ah?” 
“Die von der Notaufnahme im Krankenhaus haben uns dorthin geschickt.”
Der Granit in meinem Gesicht zerbröselt zu Staub: “In der Notaufnahme?” 
“Ja! Da sind wir beide hingegangen.”
Er weist auf seinen unzertrennlichen Freund, schräg zurückgekämmte Haare, schräge Nase, viel kleiner als er, ewig festgenageltes Lächeln zwischen freundlich und frech. Jetzt nickt er lächelnd.
Ich sehe nun wohl sehr verwirrt aus, und der Klassensprecher erklärt: 
“A Professoré, also ich habe mit seiner Schwester Liebe gemacht.”
Der beste Freund nickt wieder, lächelnd. 
“Nur danach hatte sie Angst bekommen, und da sind wir da hin gegangen.” 
“Zur Notaufnahme?” 
“Nein, nein, erst sind wir in die Apotheke gegangen. Der Apotheker war vielleicht ein Ignorant, Mammamia: da hättet ihr vorher dran denken sollen! So ein Idiot! Der hat uns dann dahin geschickt.” 
“Der Apotheker hat euch in die Notaufnahme geschickt???” 
“Ja, Professoré, und auch die gleich: da hättet ihr vorher dran denken sollen! A Professoré, wie soll das gehen, vorher dran denken?”, fragt er mich vorwurfsvoll. – “Das heißt, jetzt, wo ich das weiß, denke ich natürlich vorher dran!”, triumphiert er.
“Also, die von der Notaufnahme haben euch zuletzt in der Familienberatungsstelle geschickt?” 
“Ja. Also, a Professoré, wir gehen da rein: lauter Frauen. Und wir so:” – er schaut pfeifend nach oben. Sein Freund tut‘s ihm nach. Lächelnd. –
“Die hatten gesagt, setzt euch und wartet, dann sprecht ihr mit dem Gynäkologen. Schließlich kommen wir da rein: auch der Gynäkologe ist eine Frau!
Aber die war nun wirklich soooo nett und freundlich, die hat gar nicht gesagt: da hättet ihr vorher dran denken sollen! Nein, die sagt: Setzt euch! Was ist denn passiert?
Ah, Professoré, warum sagt ihr uns sowas nicht? Dass es so ‘ne Stelle gibt? Hier weiß das keiner!”
Mit riesigen klimpernden Augenlidern hinter dicken Brillengläsern blickt er mich vorwurfs- aber auch erwartungsvoll an. Ich bin schließlich Vertreterin der Erwachsenenwelt, die diese jungen Menschen nur einfach nicht verstehen will, nicht einmal, wenn sie so wunderbare Dinge machen, wie Liebe. 

Die Familienberatungsstellen gab es noch gar nicht so lange, eine Errungenschaft der Frauenbewegungen der ’70er Jahre, als Schwangerschaftsabbruch mit Gefängnis bestraft wurde und alle Verhütungsmittel nur zu teuren Preisen zu erstehen waren. – Mittlerweile gab es auch kein Familienoberhaupt mehr, und Männer durften ihre Frauen nicht mehr verprügeln. 
Junge Frauen aus einer solchen Beratungsstelle waren vor ein paar Jahren in Pomezia in die Schule gekommen und hatten den Mädchenklassen alle Verhütungsmittel erklärt. Den Jungen nicht, die hatten sich in anderen Schulen so unmöglich benommen, dass die jungen Frauen das nicht mehr auf sich nahmen. 
Weshalb nun die Jungen beleidigt waren. Ich hatte in 2 Klassen Sozialkundestunden – in einer saß der Biertrinker – und nahm es unter strengen Verhaltensregeln auf mich, ihnen diese Erklärung zu liefern. Die Jungen damals hatten keine Ahnung von weiblicher Anatomie oder Menstruation.

Ich wusste also, worauf ich mich da in Ostia einließ, als ich antwortete: 
“Weil ihr immer nur blöde Bemerkungen macht!”
“Nooo, Professoré, wir sind gaaanz mucksmäuschenstill und sagen keinen Ton”, als ich zu verstehen gebe, dass ich ihnen durchaus die Verhütungsmittel erklären könnte. Mit einer Geste schließen sie den Mund ab und werfen den Schlüssel weg.
“Also gut, bei der ersten Bemerkung daneben bekommt ihr ALLE sofort ein höllisches Englischdiktat verpasst mit Noten drauf, die für den Abschluss zählen.”
Die Drohung wirkt, ist aber nicht nötig. In der nächsten Unterrichtsstunde sitzen ALLE gewaschen und gebügelt an ihrem Platz. Sie wissen, dass sie von mir reinen Wein eingeschenkt bekommen. Weibliche Anatomie ist auch bekannt, seit ein paar Jahren gibt es ein großkotzig beworbenes Hardcoreheft im Zeitungshandel.
Am Ende der Stunde habe ich doppelt so viele Jungen im Raum, es hatte sich herumgesprochen und sie hatten sich auf Zehenspitzen eingeschlichen. Auch ein paar Lehrer. Ein älterer Kollege staunte Bauklötzer, er kannte all diese Mittel nicht und hatte viele Kinder. 

Unsere Schüler haben viel von uns gelernt, aber auch wir von ihnen. Am meisten staunten die externen Prüfungskommissare, ordentliche Beamte von Region, Kommune, Arbeitsamt und Gewerkschafter. „Ja, wie ist das möglich, die kennen Pythagoras nicht und Garibaldi auch nicht!“ 
Dass man auch ohne Kenntnisse von diesen beiden hochberühmten Persönlichkeiten Elektriker sein kann, war ihnen unverständlich. Mündliche Prüfung, Sozialkunde: 
“Na, sprich über ein Thema nach deinem Belieben! 
“AIDS.” Damals ein seeeehr aktuelles Thema.
Heimliches Schlucken. 
“Na, gut.”
“Der nächste, Thema nach Belieben?” 
“Drogen: Es gibt 3 Arten von Rauschgift, die einen machen wach, die anderen machen das Gegenteil und die Dritten bewirken Halluzinationen.”
Allererstes Thema nach Belieben waren natürlich die Verhütungsmittel. Da schluckten die Kommissare noch heftiger.

Wenn diese Prüfungskommissare dann anfingen, “kompetente” Fragen zu stellen (nach mehreren Erklärungen verschiedener Prüflinge), wusste ich: auch der/die hat’s gepackt.

Michael
Liebe Claudia,
Du bist eine echte pädagogische Begabung. Ich habe keinerlei Begabung als Pädagoge. Ich weiß das, Gott sei Dank. Nach dem Vordiplom hatte ich mich als Diplom-Handelslehrer eingeschrieben. Einige meiner Kommilitonen hatten das getan mit 6 Wochen Sommerferien und jeder Menge Freizeit und Freiheit, schien das doch ein prima Job zu sein.

Ich habe meine Einschreibung aber sehr schnell rückgängig gemacht, denn mir war klar geworden, dass ich nicht nur angehende Abiturienten am Wirtschaftsgymnasium unterrichten würde, sondern auch Schuhverkäuferinnen in Staatsbürgerkunde in einer Berufsschule. Ich hatte mal eine Stunde bei den jungen Damen erlebt, als ich in der 12. Klasse am Wirtschaftsgymnasium war. Die Lehrerin ist permanent beleidigt, gestört und ignoriert worden und war am Ende der Stunde weitgehend demontiert. Dann doch lieber in der Wirtschaft seine Knete verdienen, ist im Endeffekt schonender, sagte ich mir.

Also liebe Claudia, ich ziehe der Hut vor dir.

Claudia
Jeder hat seinen Job, wichtig ist, dass man ihn ehrlich und kompetent ausübt. Lehrer werden, ohne es zu mögen und zu vermögen, nur, weil man da viel Freizeit hat, da belügt man sich selbst. Und natürlich die Schüler. Ich hätte deinen Job auch nicht machen können. Aber mir hat das alles Spaß gemacht, bei aller Mühe. Die Geschichten, die ich euch erzähle, kann man nicht erfinden. Die muss man erleben. Und es kommen noch ein paar mehr. Was kann man denn an solch wunderbaren Jungen bemängeln, wie diesen beiden ums Mädchen besorgten, wunderbar ehrlichen, sicherlich lauten und krachigen? Sie kennen die italienische Orthografie nicht, können schon gar nicht rechte Sätze mit Punkt und Komma schreiben, aber sie haben das Herz am rechten Fleck. 

Mädels lernen übrigens anders. Sie kommen, weil sie etwas bestimmtes lernen wollen. Es sind intensive Stunden, aber fast nie kontradiktorisch. Sie fühlen dir sofort auf den Zahn, ob du kompetent bist, wenn nicht, bist du bei diesen Mädchen nur einfach gleich unten durch. Das war ja mein Vorteil in der allerersten Zeit, als ich da so einfach reinkatapultiert wurde. 

Der ätzende Direktor – der letzte – konnte unglaublich schön schreiben, beherrschte Bürokratendeutsch perfekt, alles andere war Scheiße. Als ich ging, gab er mir nonchalant die Hand: 
“Nichts für ungut, wir sind ja schließlich erwachsene Menschen.” 
Ich bin nicht Katholikin, ich glaube nicht an Gott und das Paradies, also auch nicht an den Teufel und die Hölle. Aber sollte es doch eine Hölle geben, dann landest du dort. Dachte ich, sagte es aber nicht. Meine Wünsche hätten seine zukünftigen Höllenqualen nicht erheblich intensiviert. Er hatte den Schwanz eingezogen, weil er wusste, wie schwierig es war, unbezahlten Urlaub zu kriegen und glaubte nun, ich hätte eben doch mächtigere Beschützer und die könnten ihm noch schaden.

Bürokratenitalienisch, natürlich

Michael
Heftige Zeiten an der Schule damals. Nicht die Schüler, wie bei vielen Lehrern, sondern der Schulleiter hat dir das Leben schwer gemacht. Für die Schüler sehr schade, eine gute Lehrerin zu verlieren, für dich sehr schade, einen Job mit Berufung aufgeben zu müssen. Du hast dich im vorstehenden Text so liebevoll für deine rüpelhaften Schüler eingesetzt, das kann nur Berufung gewesen sein. Schade, Schade! Es gibt wirklich miese und inkompetente Typen, die einem den Spaß an seinem Beruf versauen können. Angela kann ja auch ein Lied davon singen.

Ich hatte zwar auch jede Menge Zoff mit Vorgesetzten, hatte aber auch menschlich wirklich gute Chefs. Mir hat immer meine ruppige Art geholfen, mit solchen Typen meine Kämpfe auszufechten und sicherlich auch etwas meine Spezialkenntnisse und dann natürlich, dass ich meine meisten Berufsjahre bei einer Behörde verbracht habe.

Da wird keiner so leicht gefeuert, wobei es immer Leute gab, die mich gerne gefeuert hätten. Wie gesagt, mein letzter Minister hat mich mit den Worten entlassen” Sie haben doch immer gemacht, was Sie wollten”.

Das ist alles jetzt tempi passati und das ist gut so.

Claudia
Die Fähre nach Civitavecchia machte diesmal einen Zwischenhalt und kam viel später an. Ich habe viel geschrieben, mein Handy platzt aus allen Nähten.

Hier die ebenfalls ungeschliffene Geschichte von Francesco aus der Zeit in der Sprachenschule für Erwachsene:
Franscesco ist Fotograf. Ein Vollblutfotograf. Als Kind fiel ihm unversehens ein Fotoapparat in die Hände, er begriff sofort, und damit war sein Schicksal besiegelt. 
Nun fotografiert er göttlich schöne alte Handschriften in der vatikanischen Bibliothek. Mit Glacéehandschuhen, höchster Vorsicht, nichts darf kaputtgehen, ein einziger Kratzer wäre eine Katastrophe, aber jede Seite muss perfekt fotografiert werden. Ein deutscher Verlag macht daraus Facsimile-Ausgaben. Deshalb soll er Deutsch lernen. Hat er schon ein paar mal versucht, aber er hat einen Fotografen- und keinen Sprachenkopf. Dritter Versuch in unserer Sprachenschule: Ob er alles auf Tonband aufnehmen darf? Das hilft ein bisschen. 
“Ja, natürlich.” 
Die Didaktikhäppchen werden immer kleiner. 
“Warum gibt es im Deutschen Fälle?” 
“Ja, Deutsch funktioniert halt so.” 
“Aber kann ich denn nicht einfach ohne Fälle Deutsch sprechen? 
“Nein, das funktioniert leider gar nicht.”
“Aber im Italienischen geht das doch auch ohne?!”
“Nun ja, ganz so ist das auch wieder nicht. Es gibt complemento di termine und complemento oggetto: io gli do la mano (ich gebe ihm die Hand) und io lo vedo (ich sehe ihn).” 
Sehr langes Schweigen. Irgendwo kommt der Sinn von Dativ und Akkusativ ganz vorsichtig an. ABER: das alles andauernd, mit allen Adjektiven, Substantiven, männlich, weiblich, sächlich, Plural, merken, bei welcher Präposition welcher Fall drankommt, dann gibts ja sogar noch welche mit vollkommen unverständlichem Genitiv, und in die Schule und in der Schule.
Allerdings bleibt Francesco bei uns, macht weiter, jede Stunde ein paar Minuten früher, 20 Minuten früher zur 7. Lektion. Er platzt mitten in meine Vorbereitung: 
“Ich bin ein Vollidiot!” Und knallt die Tasche auf den Tisch. 
“Ich verstehe doch überhaupt nichts!!” Und knallt den Motorradhelm auf den Tisch.
“Francesco, um Himmels Willen, was ist denn los?” 
“Na also, verdammt noch mal, auf diesem Tonband: da erklärst du, und dann kommt Schweigen. Dann: ich wiederhole, du erklärst wieder, und ich sage wieder nichts! Und du erklärst und erklärst und „ich wiederhole“ und „ich wiederhole“, und immer kommt Schweigen! Was mache ich denn um Himmels Willen, wenn da so viel Schweigen ist?”

Dass Schweigen, die Stille in einem vollen Klassenzimmer für mich knistert, dass deine Fehler für mich der Schlüssel in deinen Kopf, in deine Denkvorgänge sind, kann ich ihm nicht erklären. 
“Du denkst.”
Nun ist er vollkommen überrascht.

Er nimmt noch weitere 20 Stunden, hört sich die Lektionen immer wieder an, während er unermesslich wertvolle Inkunabeln fotografiert. Der Verlag ist dann doch zufrieden mit seinem Deutsch. Die für ihn immer vorteilhafteren Verträge übersetze ich ihm dann aber doch präzise, sicherheitshalber, bevor er sie unterschreibt.

Michael
Schöne Geschichte! Anfang des Jahres habe ich Geschichten (Erzählungen) von V.S. Naipaul gelesen. Der Band heißt “In einem freien Land”. Ich glaube, die Anthologie würde dir auch gefallen. Eine Geschichte heißt: Sag mir, wen ich umbringen soll……..Schön schräg, nicht wahr.

Claudia
Zu deinem letzten Kommentar, vorletzten: Ja, die Jungens sind groß, kräftig, sie bilden Gruppen, sie können mich ohne weiteres umhauen, es gibt Meuten, die Blut gerochen haben und einige Jahre zuvor Pasolini da in Ostia ziemlich grausam umgebracht haben. Aber sie sind eben doch gerade etwas zu schnell gewachsene Kinder, die die Mamma brauchen, all uns Erwachsene, um ihren Weg zu finden. Dass sie mal einfach draufhauen, gehört zum Erwachsenwerden dazu, das sind notwendige Unbhängigkeitsübungen.
Manchmal haben sie mich fürchterlich geärgert, und gleich danach mit allen Mitteln versucht, mich wieder zum Lachen zu bringen.
Was ihnen bei all der Kreativität, die sie besaßen, natürlich früher oder später gelang.

Michael
Auf jeden Fall hast du keine Verletzungen erlitten und offensichtlich positive, fast etwas wehmütig Erinnerungen an die Zeit.

Claudia
Nee, ich blieb unversehrt, die schlimmste Angst hatte ich in der hässlichen Sitzung, nach der ich dann gegangen bin, vor den Kollegen. Eben wegen des Meuteverhaltens.
Sie waren danach alle ungeheuer lieb zu mir, aber für mich war das nur einfach zu Ende.
Wehmütig eigentlich weniger, ich erinnere mich gern daran, und aus der Entfernung so vieler Jahre entdecke ich auch ganz andere Perspektiven und Zusammenhänge.
Macht Spaß.

Michael
Das merke ich!

Claudia
Ich hoffe, es macht euch auch Spaß, ihr werdet so langsam meine Versuchskaninchen.

Angela
Auf jeden Fall, du kannst sehr kurzweilig und lebendig erzählen 😀

Michael
Martina hat beruflich viel um die Ohren, deshalb ist sie momentan etwas schweigsam

Claudia
Ich wünsche ihr, dass sie nicht wieder in die Überarbeitungsfalle saust.

So, nu kriegt ihr noch die Geschichte vom Zauberlehrling
Nach der 5. Unterrichtsstunde mit den beiden ungleichen Diplomaten beim Staatspräsidenten ging ich also zum neuen dritten Schüler im Quirinalspalast. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Er natürlich schon. 
„Dottoressa, buon giorno.“ Kaffee? Er redet eine Weile um den hießen Brei, dann: 
“Ja, wissen Sie, ich habe mir Deutsch selber beigebracht, ich lese Thomas Mann, aber ich kann nicht sprechen.” (? oh Gott).
Dann klingelt das Telefon: 
“Pronto? – Ja, unseren verehrten Präsidenten.” – Er wird weiterverbunden. Unser verehrter Staatspräsident redet eine ganze Weile. Dann: “Ja, also weißt du . .. . (oh gottogott!).”
Wir vereinbaren Datum und Uhrzeit der ersten Lektion. 
2 schlaflose Nächte. 
Ich war im – noch – ziemlich von Langweile geprägten Quirinal mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund: die Deutsche, die dem hohen Herrn Minister den Kopf verdreht hatte. Minister ist der Diplomatentitel des Sprechers. Der muss wohl ziemlich viel von mir erzählt haben. 
Als ich nun höchst konzentriert zu dieser Lektion aus dem Kabäuschen am Eingang kam, wo ich den Personalausweis hinterlegt hatte, salutierte der Corazziere mit Hackenknall, Säbelrassen und Helmschweifrascheln. Ich erschrak heftig und sah mich um, welchem hohen Tier ich wohl den Weg geschnitten hatte. Alle lachten sich tot, einschließlich Corazziere, der das gar nicht durfte. 
Meine gerade erst begonnene Karriere als qualifizierte Freiberuflerin stand auf dem Spiel. 
Ich konnte diesem den Staatspräsidenten duzenden Hochstapler ja nicht sagen: na, nu schalt mal ein bisschen runter. Thomas Mann im Alleingang! Gibts nicht. 
Ich hatte den Zauberberg aus dem Bücherschrank geholt, eine schöne Settembrini-Szene fotokopiert, eine Doppelseite, auf der keine Namen genannt werden. 
Die gebe ich ihm kommentarlos. Er studiert sie kurz, dann: “Ah, si, „La montagna incantata“.”
Er liest schräg und holprig, übersetzt miserabel, weil er das Deutsche als deutsch versteht. Welch ein Kopf!
Zur nächsten Stunde komme ich etwas zu spät, die beiden Diplomaten hatten mich mit Fragen gelöchert. Er empfängt mich mit einem herrlichen Grinsen:
„Ich harrte Ihrer!“ 
Also nun: Tonbandgerät mit Anfangslektion:
Guten Tag, Jäger mein Name – Sehr erfreut! Ich heiße Hase. – Kaffee oder Tee? – Mit Zucker? Ja, bitte. – Nein, danke. Milch. 
Das versteht intuitiv jeder noch so sprachunbegabte Italiener. 
Mein toller Schüler sitzt stocksteif von Panik ergriffen, entsetzt, ich spule hin und zurück, nichts zu machen, er versteht nicht mal Kaffee, ihm stehen alle Haare zuberge. 
Plan B hatte ich natürlich mitgenommen, Goethes Zauberlehrling. Meine Stimme beruhigt ihn, der Zauberlehrling gewinnt ihn wieder für gesprochenes Deutsch. Zuletzt: “Dottoressa, wagen Sie ja nicht, dieses entsetzliche Gerät da noch einmal mitzubringen.” 

Wenig später bring ich es doch noch mal mit, mit Zauberlehrling, etwas Zauberberg und vielen Zahlen. Das Band schenke ich ihm. 
Der Staatspräsident war ziemlich am Ende seiner Amtszeit angekommen und hatte nun so ein paar drückende Steinchen aus dem Schuh auf die von Gorbatschows weltverändernden Initiativen eh schon recht verwirrten Politiker gefeuert. Die Hölle war los, die beiden Diplomaten hatten den Deutschkurs schon aufgegeben, mein Zauberlehrling opferte das Mittagessen zuhause, um noch ein paar Lektionen weiterzumachen.
Aber dann gab auch er auf, und ich verschwand wieder aus der Gesprächsthemenliste im Staatspräsidentenpalast.

***

Heute bekommt ihr die Geschichte von der Zauberflöte und die vom Erwerb meiner beruflichen Kompetenzen.
Im Zug nach Mailand werde ich dann noch die von Meckie Messers Jüngstem aufschreiben.


Die Bahn nach Ostia war ein Krupp‘sches Wunderwerk aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Manchmal, vor allen Dingen im Winter, blieb sie womöglich mal eine Viertelstunde mit weit geöffneten Türen an einem Bahnhof stehen, Heizung gab‘s natürlich nicht, aber wenn dann noch die Tramontana pfiff, der eiskalte Nordostwind, dann wurde es richtig ungemütlich. 
In den letzten Jahren fuhr ich dann eben doch mit dem Auto.
“A Professoré, nimmste uns mit bis zur Ampel in Acilia?” 
Ich bin guter Laune und die beiden dürfen einsteigen. Haarscharfe Kontrolle, wie die aus Parkplatz rauskommt. Dann: 
“A Professoré, haste denn keine Musik?” 
“Doch, natürlich habe ich Musik!” 
“Na dann, schalt mal ein und spiel uns was vor! “
“Na klar! “
Mozart, Zauberflöte. Sarastros Stimme steigt in die tiefsten Tiefen der Unterwelt und erntet leisen Protest. Dann die Königin der Nacht. Die beiden schweigen und steigen schließlich mucksmäuschenstill an der Ampel in Acilia aus. 
Eine Woche später:
“A Professoré, nimmste uns mit?” 
“Bis zur Ampel in Acilia? “
“Ja.” 
Diesmal sind sie zu viert. Wieder Parkplatzausfahrtkontrolle, dann leise von hinten, wo einer der neuen sitzt: 
“Und die Musik?”
“Na klar”, sagt der etwas Draufgängerischere, der den Mut hatte, sich neben mich zu setzen. “A Professoré, schalt mal die Musik ein! Aber bitte diese Musik da, die vom letzten Mal, diese .. diese…, na dieses Weib da, was da so singt!”

Martina
Deine Geschichten lese ich später, im Moment komme ich nicht hinterher. Da kriegst du auch noch eine Rückmeldung. Du bist ja richtig im kreativen Schwung ☺️

Claudia
Schwung, ja genau. Bin aber nun fast durch. Lies, wann es dir Spaß macht. Bin neugierig. 

Angela
Ich komme auch gar nicht mehr hinterher.  Beim Autofahren liest es sich so schlecht. 😱
Ich bin jetzt in Chemnitz und war heute Vormittag noch im Museum. Fotos folgen.
Ich war bei Dix, Felixmuller und Co. Delaunay konnte mir aber auch sehr gefallen. 
Claudia, deine Geschichten sind schon kurios. 

Claudia
Kinder, lest bitte, wann es euch Spaß macht. Nicht in Hetze. Ihr könnt mir auch in 2 Jahren euren Senf dazu geben.

Meine Staatspräsidentschsftsabenteuer hatten mit Politik und Politikern nichts zu tun. Es war professionelles Können, das ich in der Berufsschulenzeit zum Teil von mir selber unbemerkt erworben hatte. Schülergerechte didaktische Häppchen zubereiten, dazu muss man die SchülerInnen genau studieren, um herauszufinden, worauf man aufbauen kann und wo es noch hapert. Das machte mir Spaß. In den ersten 2 Jahren in Ostia erarbeitete ich einen auf die nicht gerade großartigen sprachlichen Fähigkeiten zugeschnittenen Englischkurs. Mit der Schreibmaschine. Computer waren völlig unbekannt. Zuletzt konnten sie eine Installationsanweisung mit allen verfügbaren Hilfsmitteln eben doch verstehen. Das war dann eine ganz tolle Errungenschaft für sie.
Ich stellte diesen Kurs einem Kollegen aus der ersten Schule mit dem psychopathischen Leiter zur Verfügung: Nein, Claudia, sowas würde ich niiiiie erfinden, so einen Gefallen tu ich dem Chef nun wirklich nicht. 
Mir waren die denkbehinderten Neurotiker in den Chef- und Zwischenetagen vollkommen egal. Wenn ich in der Klasse war, saßen vor mir 20 Jugendliche, die etwas von mir erwarteten, und das war meine Aufgabe. Das war immer kreative Zukunftsarbeit.
Zum Zweiten fuhr ich jeden Morgen anderthalb Stunden mit Bussen und Bahn zur Schule. Eine frühe Morgenstunde Zeitungslektüre mit klarem Kopf. Ich las „il manifesto“, eine sehr dünne, ganz linke Tageszeitung, die es in sich hatte; da gab es zwei Journalisten, Luigi Pintor und Rossana Rossanda, die praktisch täglich interessante Beiträge schrieben, in großartigem Italienisch. 
Nach 10 Jahren solcher Morgenlektüre und später Radiohören im Auto beherrschte ich die italienische Sprache schon fast besser als mancher meiner neuen Übersetzerkollegen.
Nun musste ich mir Kunden suchen, unbezahlten Urlaub, das konnte ich mir nicht leisten. Schon einen Monat bevor ich Ostia verließ, hatte ich die gelben Seiten genauestens studiert, fand Übersetzungsbüros, eines nicht weit von zuhause weg (es gab ja noch kein Internet), eine deutsche Jüdin hatte höllisch viel Arbeit, zu Billigstpreisen. Zum Lernen war das ausgezeichnet. 
Dann suchte ich nach Sprachenschulen, um weiter ein bisschen unterrichten zu können. Eine bot auch ein Simultandolmetschtraining an. Da wollte ich hin, unterrichten und gleichzeitig lernen. Wow! 
“Ja, Sie müssen hier einen Fragebogen ausfüllen.”
Tu ich, fahre wieder nach Hause. Kaum angekommen klingelt das Telefon: 
“Kommen sie doch bitte zu einem Gespräch mit der Direktorin her.” – Tu ich. 
Die Leiterin – die mich dann später fragte, was ich mit den Männern im Quirinalspalast anstelle -, hatte ein helles und ein dunkles Auge. Damit studierte sie ihr Gegenüber eingehend. Sie fragt mich alles mögliche, dann: 
“Ich würde Ihnen gerne den Simultankurs anvertrauen.” 
“Wie bitte?!!”
“Ja, die Signora, die das grade macht, ist Bildhauerin, das hier ist ihr viel zu anstrengend. Sie will aufhören.” 
“Ja, aber .. -”
“Sie haben großartige Lehrerfahrung und ein ausgezeichnetes Italienisch. Die Kollegin wird Sie einweisen. Und dann kommt hier als Beraterin einmal im Monat die Deutschdolmetscherin aus dem Außenministerium. “
Völlig neue Didaktikhäppchendimensionen. Ich hatte vier StudentInnen. Deutsche Zeitungen suchen, lesen, Artikel ausarbeiten. Einmal verwendete ich einen Artikel aus der „Zeit“ mit Zukunftsvisionen: „Telefon in der Tasche“. 
Die Dame aus dem Außenministerium kam, war erfreut über die frische Luft. Ich ließ sie aus ihrer Erfahrung berichten, die Dolmetscher dolmetschten, alle vier gleichzeitig, zum Schluss hatten alle hochrote Köpfe vor Anstrengung und Begeisterung.
Die Mauer fiel, da gab es wieder hochinteressanten zu verdolmetschenden Gesprächsstoff, Dolmetscher brauchen immer viel Hintergrundwissen. Und dann fragte mich diese Dame eben mal so beiläufig, ob ich mir das zutrauen würde, einem Diplomaten da im Quirinal Deutschunterricht zu geben.

Michael
Was du dir autodidaktisch an Fähigkeiten und Wissen mit sehr viel eisernem Willen, aber auch totaler Begeisterung für Menschen und die Sache erworben hast, finde ich mehr bemerkenswert. 
Da finde ich den Weg über die Uni bedeutend bequemer. Mir wär’s zu anstrengend gewesen, ich hätte es auch nicht geschafft.
In Deutschland wäre eine Karriere, wie du sie gemacht hast, ohne die entsprechenden formalen Bildungsabschlüsse auch überhaupt nicht möglich gewesen. Das finde ich auf der einen Seite sehr schade, dass wir keine Flexibilität erlauben, die auch dem Können eine Chance gibt, auf der anderen Seite ist bei der hier gegebenen relativ guten Vergleichbarkeit der Hochschulabschlüsse zumindest eine gewisse Fachkompetenz nachgewiesen. In meinem Referat hatten alle einen BA oder einen MA. Trotzdem gab’s Mitarbeiter, die man vergessen konnte.

Claudia
Ich bin ein paar Jahre später zweimal nach Bonn gefahren und habe die Dolmetscher- und Übersetzerprüfung für Quereinsteiger gemacht. Das gab es schon. Vor allem im Sprachenfach geht Auslandserfahrung weit über jegliches Studieren hinaus. 
Das wusste ich zunächst nur nicht.
Eisern war ich nicht, sondern zäh, also doch etwas elastisch.
Alle Kollegen in der Berufsschule hatten einen Beruf, den sie dort lehrten und durchaus hätten ausüben können. Keiner hat sich getraut zu gehen.

Michael
Mut tut gut!!!👍👍

Claudia
“A Professoré, in was für einer Welt leben Sie denn?” 
“Ja, Überdosis, ist doch allgemein bekannt! “
“Überdosis? Haha! Die kriegen Strichnin oder Marmorstaub. “
Ich sehe wohl – mal wieder – etwas verwirrt aus: “Strichnin? Das ist doch Gift!” 
“Ja eben! Glauben Sie denn wirklich, dass ein Dealer wertvolles Heroin verschwendet, um einen um die Ecke zu bringen? “
“Um die Ecke bringen? “
“Na klar!” 
“Ja, wieso denn?” 
“Ah, Professoré, einer, der aussteigen will, einer, der einen Entzug gemacht hat und so, der ist gefährlich. Der könnte auspacken und alles kaputt machen, den ganzen Giro verraten, und das kann sich kein Dealer leisten. Und dann kriegt der eben Marmorstaub, oder Strichnin ins Tütchen und dann ist er gleich weg.” 
“Aber das ist Mord!”
“Ja. Mord. Ein Drogentoter, das ist gezielter, geplanter, vorsätzlicher Mord. Alle anderen, die Ärzte im Krankenhaus und so, die lügen mit “Überdosis”, sonst sind die früher oder später auch dran. Überdosis, dass ich nicht lache, Überdosis! Das gibts nicht.”

Das ist die Welt, in der unsere Jungens leben. Jeder 15jährige hat eigene Ideale, mit denen er gegen diese Erwachsenenwelt bestehen will. Ein Teil ihrer Hoffnung ist unsere Schule, mit der sie hoffen, dieser Gewalttätigkeit um sie herum zu entkommen in eine bessere Welt. 

Meckie Messers Jüngster, der letzte von 7, war eine erstaunliche Persönlichkeit. Neurotisch bis zum geht nicht mehr, Zappelphilipp, hochintelligent, schreiben kann er nicht, er kennt mit Müh und Not noch die Großbuchstaben. Kein Lehrer seiner katastrophalen schulischen Vergangenheit war in der Lage gewesen, ihm irgendetwas beizubringen. Bei uns bleibt er, laut, krachig, ich schmeiße ihn unzählige Male raus, immer kommt er wieder, versucht mit seinen wackeligen Großbuchstaben zu schreiben, nichts von dem, was er hätte lernen können, kommt irgendwie oder -wo wieder zum Vorschein, weder mündlich noch – geschweige denn – schriftlich. Aber er kommt, immer, täglich, obwohl er nicht stillsitzen kann, macht Krach, aber er hat eben das Köpfchen, das ich oben im Überdodis-Dialog beschrieben habe. Im März des 2. Jahres – März ist der entscheidende Monat eines Schuljahres – klappt plötzlich alles. Er schreibt, Großbuchstaben, aber glatt und mit Charakter, alles kommt ziemlich ordentlich wieder raus, was er in anderthalb Jahren verschlungen hat, wie in schwarzes Loch. Er besteht die Prüfung am Ende des Jahres schon fast glänzend. 
Und er freut sich, wenn ich ihm zuhöre, endlich mal eine aus der anderen nicht sehen und nicht begreifen wollenden Welt, die ihn reden lässt. Und zuhört. Natürlich ist er der Chef der Klasse, aber er ist in den sozialen Beziehungen zu den Gleichaltrigen schon fast zu weise.
Sein Vater hat auch ein paar Morde auf dem Gewissen, so munkelt man, beweisen konnte man ihm nichts. Er geht im Gefängnis ein und aus und: er hält eiserne Kontrolle über den schlimmsten Platz in Ostia, Piazza Gasparri, China Town, eigentlich heißt die Piazza schon seit Jahren Piazza Pasolini. 
Rom war bis Mitte der 70er Jahre voller Wellblechhütten, die die neue aufregende kommunistische Regierung der Stadt ab 1975 aus dem Weg räumte. Es wurden soziale Wohnanlagen gebaut, natürlich nicht gerade auf teurem Innenstadtgrund. Eine davon war Piazza Gasparri, am nördlichen Rand von Ostia, ohne jegliche soziale Anbindung, womöglich 40 km entfernt von der Barackenstadt, in der die Familien zuvor doch im Umfeld ein kleines Einkommen hatten erarbeiten können. Schöne Wohnungen in der Hölle organisierter Kleinkriminalität, mit Blick aufs Meer. 

Ich höre die ungeheuerlichsten Geschichten, von der Logik des Autodiebstahls, zum Beispiel. Das gestohlene Auto verschwindet erstmal, – es könnte ja einer für diesen Giro unantastbaren Persönlichkeit gehören -, wenn nicht, dann wird es total umfrisiert, vollkommen unkenntlich, auch die Fahrgestellnummer ändert sich perfekt. Das Auto wird nun als Gebrauchtwagen verkauft, ein paar Tage später wird es wieder gestohlen. Denn die Polizei hat durchaus Mittel, um die Umfrisierung der Fahrgestellnummer zu erkennen. Das darf nicht passieren, denn dann würde auch dieser ganze Giro auffliegen.

Als ich eines Tages ziemlich verstört zur Schule komme: 
“A Professoré, was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?” 
“Einbrecher.” 
“Bei Ihnen zuhause?” 
“Ja.” 
“A Professoré, wo wohnen Sie denn?” 
“Tiburtina.”
“Wo ist das?” 
“Am anderen Ende von Rom.”” 
“Verdammt noch mal, neee, da können wir nichts machen. Das sind andere. Weil, wenn Sie hier wohnen würden, dann würden wir ihnen alles wiederbringen. Alles.”

Michael
Was fangen solche Jungs mit ihrem Leben an? Sicherlich gibt es in deutschen Großstädten auch soziale Brennpunkte, vor allem solche, mit hohem Migranten Anteil.
Ich kann die italienische Gesellschaft nicht beurteilen und weiß nicht, ob das eher ein süditalienisches Problem ist.
Habe mich vor langer Zeit, im Grundstudium, mal mit französischer Parteien und Gewerkschaftsgeschichte beschäftigt und damit auch mit der französischen Gesellschaftsstruktur. Hieraus erklären sich für mich schon Le Pen, die Banlieues etc. Über Italien weiß ich nur ein wenig über seine Geschichte, aber nichts über seine Gesellschaft.

Claudia
Das ist die erste Frage, was können die mit ihrem Leben anfangen? Wenig oder nichts. Unsere Schule war die große Hoffnung, jedes Jahr standen sie Schlange, um zugelassen zu werden, rigoros die ersten 100 Bewerber durften rein, wer die erste Woche nicht kam, war raus. Der nächste, bitte. Ob es allerdings dann in Ostia Arbeit für 50 Elektriker und 25 Sekretärinnen pro Jahr gab, ist eine andere Frage. Immerhin lernten sie dazu, auch in ihren sozialen Beziehungen, festigten ihre Persönlichkeit, waren ein paar (entscheidende) Jahre nicht den ganzen Tag auf der Straße. 
Dafür arbeiteten wir.

Die andere Frage: Wieso schweigen die Versicherungen, die ja einen Diebstahl zweimal zahlen müssen? Einfach: höhere Beiträge, ergo WIR zahlen. Unsere Steuer an die OK. Aber: wie wissen die, welche Fahrgestellnummer sie vergeben können? Woher kommt der Fahrzeugbrief, woher die Zulassung? Woher das Nummernschild? Was weiß der Autohändler, der es verkauft?

Und zuletzt: Wie viel – eben leider – kriminelle Energie, Kreativität, Zusammenhalt sind da vorhanden? Könnten die denn nicht in Positives umgeleitet werden?

Aber alle „normalen, ehrlichen Bürger“ haben nur ihre begrenzte Scheuklappensicht, und letztlich war auch meine Erfahrung über die Scheuklappen hinaus nur möglich, weil ich in eine mir Sicherheit gewährende Struktur eingegliedert war. Im Alleingang wäre ich untergegangen, abgesehen davon, dass ich schon gar nicht drauf gekommen wäre, da mal reinzublicken. 
Für mich sind es sehr wertvolle Lebensmomente, für die ich dankbar bin.

Michael
Das ist natürlich schon alles recht lange her und das eine oder andere wird sich -wie in Deutschland- geändert haben. So ist für eine Ausbildung als Elektriker, aufgrund der komplexen Entwicklung auf diesem Gebiet zunehmend ein Realschulabschluss erforderlich. Nur wirklich sehr gute Hauptschüler haben eine Chance.
In den technischen Lehrberufen bemüht sich das Handwerk sehr um Abiturienten. Auch im Sekretärinnenberuf ist diese Entwicklung gleichermaßen vorzufinden. Schulabbrecher oder schlechte Hauptschüler haben nur wenig Chancen. Solche jungen Menschen haben es sehr schwer, eine vernünftige Ausbildung und Beschäftigung zu finden.
Ich denke, deine Schüler von damals können dir sehr dankbar sein.

Claudia
Stimmt vollkommen. Ich weiß natürlich überhaupt nicht, was da heute los ist, Heroin ist kaum mehr ein Thema. Und damals konnte sogar mein Schwiegervater sich als Elektriker verkaufen, berufliche Kompetenz wurde in der Praxis erworben.
Tja, was bei denen von uns hängen geblieben ist? Wer weiß? Und wer weiß, wo sie heute 50jährig gelandet sind?

Letzte wilde Geschichte:
Der Löwenanteil dieser Kriminalität ist Heroin, DIE Droge der 80er Jahre.
50000 Lire, also etwa 50 Mark, braucht ein Heroinsüchtiger täglich, er klaut, was das Zeug hält, eben auch bei uns zuhause, bringt dem Hehler alles, womöglich teure Juwelen, kriegt dafür sein Geld für die tägliche Dosis. 
In diesen Jahren ist kaum ein Italiener von Wohnungs- oder Taschendiebstahl verschont geblieben. 
Man lernt natürlich auch, sich davor zu schützen. Das kam uns später in Buenos Aires sehr zugute.
“A Professoré, warum dürfen wir dieses Jahr nicht nach Rimini fahren?”
“Wer hat euch denn das gesagt?”
“Der Professòre, der sagt, die von der Comune wollen das nicht erlauben.”
Die Fahrt nach Rimini, ein verlängertes Wochenende im März zu Billigpreisen, fahren, reisen, weg von Ostia, rumstromern und die Discos. Viele von den Jungens waren noch nicht mal bis Rom gekommen, weshalb diese Klassenfahrt der große Traum aller Schüler dieser Schule war. Und nun versaute uns die Bürokratie der Gemeinde Rom auch diesen kleinen Bonbon. Wir protestieren mit den Jungens in allen Ämtern, aber hinter den Schreibtischen sitzen graue Typen: nein, dafür gibts keine Vorschriften, also dürft ihr auch nicht nach Rimini.
Zuletzt übernimmt der scheidende Renato stillschweigend die Verantwortung, sie fahren heimlich, still und leise. 
Am Montag kommt eine katastrophale Meldung in der Direktion an: wir schicken Titus, Caius und Sempronius zurück, sie haben Rauschgift genommen. Um Himmels Willen! Bis zur Rückkehr der Gruppe am Mittwoch herrscht Ausnahmezustand, allen stehen die Haare zu Berge. Eltern werden einberufen, manche sind hilfloser als wir. Am Mittwoch erfahren wir, was passiert war. Da es nun nicht mehr eine offizielle Klassenfahrt war, waren auch andere Jungens mitgefahren, und die hatten Haschisch dabei. Am Samstag alle in die Disco, am Sonntag wollen einige nicht mitkommen. „Wir bleiben ganz brav im Hotel.“ Von der Disco zurück gehen die Kollegen zur Kontrolle durch die Zimmer und finden die Abtrünnigen mitten im Haschrausch. Im Zimmer von Meckie Messers Jüngstem. Der verteidigt sich mit Händen und Füßen, er hatte nichts genommen. Wäre er zurückgeschickt worden, dann hätte der Vater ihn vermutlich kurz und klein geprügelt. 
Noch eine herzzerreißende Szene in der Direktion, Mütter, Jungens, Direktor, Lehrer, Sekretärin, alle entsetzt. Ich sehe aber, dass die Jungens nicht so recht mitmachen, mit dem Ausdruck im Gesicht: verdammte Erwachsene, ihr versteht mal wieder nichts. 
Ich will’s wissen, gehe zurück in die Klasse. Die Schüler sind erstaunlich ruhig, sprechen leise in kleinen Grüppchen. 
“Ihr seid totale Vollidioten!!!” – Leises Erstaunen 
“Ja, ihr versteht doch wirklich überhaupt nichts!!” 
“A Professoré, jetzt fangen Sie auch noch an!!” 
“Na, verdammt noch mal, ihr seid doch mit uns mitgekommen in diese blöden Ämter mit diesen blöden Leuten, habt gesehen, mit wem wir’s zu tun haben. Meine Kollegen haben eine Riesen Verantwortung übernommen, und was macht ihr ? Wenn ihr dieses verdammte Zeug schon mal probieren wollt, dann tut das bitte da draußen auf der Wiese oder am Strand, aber doch nicht, wenn ihr unter der Verantwortung eurer Professoren unterwegs seid. Ihr habt das Vertrauen meiner Kollegen missbraucht!!!!” 
“Das ist das erste vernünftige Wort, was in all diesem Verhau bisher gehört habe,” kommt es leise aus einer Ecke. 
Ich warte, die Klasse ist ruhig.
Es dauert eine Weile, bis Meckie Messers Junior zu mir kommt, gefolgt von seinem unzertrennlichen Freund, blond, blauäugig und hässlich wie die Nacht. 
“A Professoré, warum benehmt ihr euch bloß so?
“Ja, was sollen wir denn machen? Wir haben eine riesige Verantwortung für euch, verdammt noch mal! “
“Ja, ihr wart aber doch auch mal jung!” 
“Ja natürlich!” 
“Und habt doch auch mal solche Sachen probiert?” 
“Wir? Drogen? Nee, die gab es damals nicht.” 
Diesmal ist es umgekehrt: der Junge schaut mich nun wirklich sehr erstaunt an: 
“Keine Drogen?” 
“Nein.”
Das ist ein heftiger Schlag. Er steht auf, muss nachdenken, geht auf und ab: wer hätte das gedacht? Eine Welt ohne Drogen? Unvorstellbar. 
Nach langem Auf und Ab – der Blonde stets hinter ihm her – kommt er wieder: 
“A Professoré, ist das wahr, dass es keine Drogen gab?” 
“Ja, gab’s nicht.”
“Aber die Beatles, die haben doch LSD genommen?” 
“Ja, die Beatles, das waren DIE Beatles, und ich kannte eine Ärztin, die hatte im Krankenhaus Zugriff auf Morphin, der ging’s auch gar nicht gut. Aber für uns gab’s das nicht, es gab vor allem nicht diesen allgegenwärtigen Markt, mit dem ihr es hier ständig zu tun habt.” 
Wieder auf und ab. Keine Drogen? Wie soll ich der das jetzt erklären?
Nach einer Weile Überlegen mit krausen Falten auf der Stirn kommt er wieder, der Blauäugige neben ihm:
“A, Professoré, stellen Sie sich vor, Sie fahren mal so mit ihren Freunden im Auto in der Gegend herum, Sie allein, ohne ihr Mann, ja? Und dann halten die irgendwann an und holen ihre Tütchen raus und dann geht‘s los! Was machen Sie dann?!”
“Ich? Ich haue ab, aber schleunigst. “
“No, Professoré, das geht nicht, Sie sind da mitten auf dem Land, wo niemand ist.” 
“Das ist mir vollkommen egal, ich laufe auch viele Kilometer, aber mit Drogen will ich nichts zu tun haben!” 
“Wir denken da anders,” flüstert der Blonde leise. 
Und der Junior: “Und wenn‘s denen dann schlecht geht? Die umkippen? Wenn die schlechtes Zeug erwischt haben? Ne Mogelpackung?
A, Professoré, das waren doch unsere Kameraden, da im Zimmer! Wir haben auf sie aufgepasst. Wenn einer umgekippt wäre, dann hätten wir ihm geholfen, jemanden gerufen, einen Professoren, jemanden vom Hotel. Wir sehen Freundschaft so.”

Ich habe also rausgekriegt, was ich wissen wollte. Und ich schäme mich sehr.

Michael
Wieder eine schöne Geschichte von einer Lehrerin, die Menschen liebt (schließlich sind Schüler auch Menschen, meistens wenigstens).
Das Drogenthema war in den 60er Jahren noch nicht so präsent, vor allem nicht in den Bürgerreservaten, in denen wir groß geworden sind.
Mich würde interessieren, ob und in welcher Form Drogen für Jugendliche in der DDR verfügbar waren und ob Probleme dadurch ausgelöst wurden (sofern dieses Thema überhaupt in die öffentliche Diskussion gelangt ist). 
Claudia: in welcher Zeit warst du an der Schule, das ist doch schon geraume Zeit her?

Angela
Nein, Drogenprobleme gab es wohl keine, höchstens Schnapsleichen.

Claudia
Ich habe 1977 angefangen und bin 1989 gegangen, Ostia waren voll die ‘80iger.

Schnapsleichen: bei den unzähligen Debatten um Drogen und deren Wirkung gab’s auch ein heftiges Pochen der Jungens darauf, dass Gras bei weitem nicht so gefährlich ist, wie Alkohol.

Sicherlich gab es unter den Jungs auch unangenehme Typen, die nur blöde Bemerkungen von sich gaben, oder eben der Fiesling, der dann in die Tiefgarage rattern musste. Ich musste immer auf der Hut sein und durfte nichts durchgehen lassen, aber sehr oft wurden die von den anderen Schülern zum Schweigen gebracht. Oder so ausgelacht, dass sie aufgaben. Die bereits total „Verdorbenen“ aus diesem Getto kamen ja gar nicht erst zu uns.

Martina
Ich habe auch angefangen, Deine Geschichten über die Schüler zu lesen. Langsam fange ich an zu begreifen, was Dich gepackt hat. ….Morgen mehr.
Nun bin ich schlapp und reif für die Koje. Gute Nacht 😴

Claudia
Bin gespannt.

Michael
Apropos hochbegabt, sind wir ja alle nicht, aber Max war Legastheniker und sollte von der Grundschule nur eine Hauptschulempfehlung bekommen. Seine Lehrerin meinte, er könne weder lesen noch schreiben, und vor allem zu Mathe hätte er nun überhaupt keinen Zugang. Wir waren verzweifelt und fragten uns (mit Kästner gesprochen): Was soll nur aus dem Jungen werden? Nun, ist doch etwas aus ihm geworden: An der Uni Bremen, immerhin damals “Exzellenz Uni” war er Tutor an der Ingenieurwissenschaftlichen Fakultät und hat einen Abschluss mit Auszeichnung hingelegt. Hat sich alles zum Guten entwickelt und der Junge ist in seinem Job gut angekommen. Du siehst, liebe Claudia, nicht alle Lehrer glauben an ihre Schüler und erkennen oftmals auch ihr Potenzial nicht.

Martina
Trotzdem, wir können uns über unser Schul- und Ausbildungssystem bestimmt nicht beklagen.

Claudia
Legastheniker? Ist Gianni auch, so ziemlich, was damals keinen Menschen was scherte.

Martina
Die Ausbildung im dualen Schulsystem, als auch an den Hochschulen ist im internationalen Vergleich gut und kostenfrei. Eine ordentliche Uni in USA und GB kostet ein Vermögen. Unser Nachbarsjunge hat seinen Master in London gemacht. Reine Studiengebühren pro Semester 15.000 £.

Michael
Ich bin auch Legastheniker, kannte damals kein Mensch. Ich hatte, so mein Vater, keine Lust zur Schule. Leider hat er nicht mehr erlebt, dass auch ich einen guten Uni Abschluss hingelegt habe. War aber mit Schulwechseln, zwischendurch Banklehre, nicht so einfach.

Claudia
Aber du hast deinen eigenen Weg gefunden, das ist wichtig. In die Generation vor uns, zu der aus schulischer Sicht – da kommt alle 2 Jahre eine neue Generation – Gianni gehört, wurde ja alles reingeprügelt.

Michael
Damals konnte man seinen Weg aber auch ohne Abi gehen. Ist heute kaum noch möglich. Das Positive: bei uns ist das Schulsystem viel durchlässiger geworden. Auch Spätentwickler und solche, die von Haus aus keine Unterstützung haben, können noch die Kurve kriegen. Trotz der Zweifel meines Vaters hatte ich schon Hilfe von meiner Familie, die viele nicht hatten. Meine Lehre bei einer Großbanken (ich war damals 15 Jahre) war nur aufgrund der Verbindungen meines Vaters möglich. Fast alle anderen Lehrlinge der Bank hatten Abitur. Aber ich habe mich als jüngster und frechster Lehrling damals wieder gefangen und konnte anschließend aufs Wirtschaftsgymnasium gehen.

Claudia
Das heißt, dein Vater wusste letztlich schon, dass bei dir ein – anders gelagertes – Potenzial vorhanden war und hat dir auf seine Weise auf die Sprünge geholfen.
Gut 👍🏾 so

Angela
Bei Euch komme ich ja gar nicht hinter her.
Übrigens, Erwin hatte auch so seine Probleme in der Schule, fühlte sich unverstanden und hat viel Prügel bezogen. 😱
Ein guter Künstler und Lehrer ist es dennoch geworden. 

Claudia
Was muss meine Großmutter für eine tolle Frau gewesen sein, die meinen Vater vor nun schon fast hundert Jahren in die Steinerschule gesteckt hat? Da gab es keine Prügel.

Martina
Wahrlich, eine weitsichtige Mama

Claudia
Ich habe schon öfters erwachsene wundervolle Menschen erlebt, die mit wahrem Entsetzen auf ihre Finger schauten sich an die Stockhiebe erinnernd, und nur daran, wie sie versuchten, den Schmerz zu überleben.

Michael
Prügel habe ich sogar noch in den ersten beiden Jahren auf dem Gymnasium bekommen. War meiner Freude an der Schule nicht gerade förderlich.
Vielleicht auch Angst, die Funktionsfähigkeit ihres wichtigsten Instruments einzubüßen
Zu Erwin: ich kenne auch einige schlechte Schüler, aus denen wirklich etwas geworden ist. Letztlich ist der Charakter und die Begeisterung für eine Sache, ein Thema entscheidend, um seinen (eigenen) Weg zu gehen.

Claudia
Ja genau, das meinte ich, als ich sagte, dass du eben dann doch deinen eigenen Weg gefunden hast, ich gehöre ja nun auch nicht gerade zu den Gradlinigen …

Michael
Aber doch Erfolgreichen, hätte dich gern als Lehrerin gehabt😁
War ja ‘ne richtige Wort Kanonade. Jetzt muss ich mir ein Smörrebröd schmieren.

Claudia
Ja, war viel, gestern. Dafür sind wir manchmal auch tage- und wochenlang still. Michael, ich glaube, so viel auf einmal hast du hier noch nie geschrieben. Ich hoffe, deine Finger sind nicht überstrapaziert.
Ich habe versucht, dich mir als meinen Schüler vorzustellen 😯 , ging nicht 😅 😂 ; Gianni hat sich vollkommen schief gelacht.

© Claudia Podehl