von
Claudia Podehl
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Er starb, als der ihm genehme Moment gekommen war. Da hörte er nur einfach auf zu atmen. Er liebte es, Irina und mich zu beobachten, wenn wir kleine Alltagsabenteuer erzählten. Oft war’s dann Italienisch, und er verstand nur sinngemäß oder gar nicht, aber unsere Mimik gefiel ihm, Irina sei dann Charlotte so ähnlich, sagte er. Und so kam es, dass Gianni rauf nach Mandela gefahren war, um für alle Fälle eine Sauerstoffflasche bereit zu haben, und die beiden Pfleger, Vater und Sohn, mit mir warteten. Und ich begann, solche Geschichten zu erzählen. Von den fröhlichen Spaghetti-Abendessen in der Aretinstraße, wenn ich nach München kam. 12 Leute passten um den Tisch, ich telefonierte einfach los, wer Zeit hatte, kam, denn auf Spaghetti hatten alle immer Lust, und es ging immer lebhaft zu. Peter atmete schwer, beobachtete mich, wenn er ab und zu noch mal die Augen kurz aufmachte, hörte mich reden, eine halbe Stunde zuvor hatte er Bruno und Daniel noch mit lächelndem Winken begrüßt. Als ich dann weiter von einem Kunden zu erzählen begann, der in Kalabrien ein Delfin-Therapiezentrum aufmachen wollte, an der latenten Mafia dort jedoch scheiterte, setzte das schwere Atmen plötzlich aus. Ich legte die Hand auf sein Herz: ein paar rasche wilde Schläge und aus.
Der Arzt kam, und das Bestattungsunternehmen mit dem üblichen italienischen Firlefanzkitsch. Am Abend beklagte ich mich bei Gianni über deren gewisse Hudeligkeit. Da standen sie also am nächsten Tag, am Rande der großen Wiese vor dem weiten Bergpanorama und warteten von Gianni ausgeschimpft etwas betreten auf die Erlaubnis, den Sarg zumachen und forttragen zu dürfen. Aus der Veranda kamen Lachsalven. Peters Urenkel, Adriano, noch keine 2 Jahre, und Cousin Pietro, der gerade laufen gelernt hatte, trieben ihre kleinen Machtspielchen. Pietro hatte nämlich entdeckt, dass er Adriano ärgern konnte, indem er ihm die Spielsachen wegnahm. Das führte dann zu Adrianos Aufheulen, was das schallende Gelächter aller gebannt zuschauenden Erwachsenen zur Folge hatte, während in Peters Zimmer Neuankömmlinge an seinem noch offenen Sarg Abschied nahmen.
Ich glaube, er hat diese Szene genossen.
Nach dem wunderlichen Gottesdienst in der kleinen katholischen Dorfkirche in Mandela für den evangelischen Peter, gehalten von einem südamerikanischen Indiopriester (Italien hat keine eigenen Priester mehr) mit wundervoll warmen Händen, und dem endgültigen Abschied, gingen wir dann alle im Kapuzinerkloster S. Cosimato essen. Die Italiener lassen keine Gelegenheit aus, um sich gesellig bei jeglicher Art von Essen mit Besteck oder auch nur mit Fingern zusammenzutun, aber nach einem Begräbnis? Weshalb es dann dort zunächst nicht ganz so lustig zuging, wie bei deutschen Leichenschmäusen. Die Italiener trauten sich nicht so recht. Aber die vielen kleinen Kinder, Peters Urenkel, unsere Neffen und Freunde unserer Kinder mit ihrem kleinen windelgefüllt duftenden Nachwuchs entspannten die Atmosphäre dermaßen, dass Giordano, als der sonnige warme Oktobertag im Klosterhof zur Neige ging und man sich verabschiedete, sich bei mir für den schönen Tag bedank.., aber sogleich erschreckt die Hand vor den Mund hielt.
Da hörte ich Peter kichern.
„Ich bin keine Strafe“, sagt der Tod in Peters Theaterstück „Eupa und Ro“.
Mein Magen macht Spirenzchen, ein Fall für meine Homöopathin Antonita. Die staunt nicht schlecht, denn grundsätzlich scheint alles ziemlich in Ordnung zu sein. Was soll ich dir da geben? Hm. Sie überlegt eine Weile. Ich hab’s: Ignatia.
Ich kaufe Ignatia, nehme nach Vorschrift zwei Kügelchen und dann rase ich wie eine Irre mit ebenso irren Kehrtwendungen um 190° und wache höchst verwirrt mitten in der Nacht auf.
Zwei Nächte später knalle ich mit der Faust auf den Tisch und schreie: Ich will jetzt endlich trockenes Wasser haben!!!
Im Internet lese ich nach: Ignatia ist eines der widersprüchlichsten Mittel der Materia medica. – Aha. – Woanders steht: Wenn ein Ignatia im Fluss ertrinkt, dann suche man die Leiche nicht flussabwärts sondern flussaufwärts.
Das gefällt mir. Think different!
Ich suche und finde Lesestoff über Homöopathie und Träume, der mir die Tür in die wundervolle Jung’sche Psychologie öffnet. Kompliziert und faszinierend. Zwischen großmütterlicher Bäuerchenförderung, Schnullerberuhigungsaktionen und Windelwechselei bei der derzeit jüngsten Enkelin brauche ich Monate, um mich da hineinzulesen und halbwegs verstehen zu können. In dem Buch träumt eine Frau, sie werde mit der ganzen Familie in einer Kapsel in den Weltraum geschossen. Ich denke an das „Gemini“-Projekt von vor vielen Jahren, die Homöopathin dagegen wundert sich über das Wort „Kapsel“ und erkennt in ihrer Logik, dass es in der Materia Medica nur ein Mittel gibt, das aus einer Kapsel gewonnen wird, verschreibt es – selbstverständlich nach eingehender Untersuchung des Falls und der Patientin, wie es sich in der Homöopathie gehört – und diese wird von ihren Beschwerden befreit.
Peter hätte angesichts solch verschrobener Logik den rechten Arm um den Hinterkopf geschlungen, um dann die (rechte) Hand von links vor den Mund zu halten und in diese hineinzuhüsteln.
Aber wenn ein Ignatiakadaver flussaufwärts treibt, dann ist eh schon alles verrückt und mir soll’s recht sein. Lassen wir allen Blicken in solch verkehrte Welten freien Lauf.
Und einige Monate und Marie-Louise-von-Franz-Lektüren weiter kommts dann noch viel heftiger: Tod, Feuer, Reichtum, Leere und Tag sind Archetypen, die zählen können.
Ich träume nach sehr langer Zeit von Mani. Bin an einem mir im Traum bekannten Ort am Fuße eines Hügels, es kommen viele mir ebenfalls im Traum bekannte Kinder, die ich erwartet hatte und wir gehen alle den Hügel rauf in interne Räumlichkeiten. Die Kinder in Winterbekleidung, obwohl die Bäume Sommerbelaubung tragen, toben wie üblich überall rum und erkunden, und zuletzt kommen wir an eine Tür weit hinten, an die wir anklopfen. Mani öffnet mit einem „Ach da seid ihr ja! kommt nur rein.“ Von der Tür aus geht es erst mal nach links, denn hinter der Tür ist eine weiße Wand, wie in China, wo die Geister nicht um die Ecke rennen können und deshalb beim Versuch in das Haus einzudringen, an dieser Wand zurückprallen. Was die mir voraus nach links abgebogenen Kinder dahinter gefunden haben, habe ich selbst im Traum nicht mehr erkundet.
„Mut zur Arbeit brauche ich, um angesichts des Sterbens im Nachbarhaus mit der Folge GESUNDHEIT zu beginnen.“
Das war Peters Anfang zu seinen Aufzeichnungen zur genannten Hallo-Spencer-Folge. Mani starb 8 Tage später.
Also: Tod, Feuer, Reichtum, Leere und Tag können zählen. Reichtum? Na klar, Dagobert Duck zählt andauernd sein Geld. Und alle Menschen zählen die Tage, bündeln und unterteilen sie in Monate oder Milliarden Jahre und Stunden oder Nanosekunden. Was ich mir unter Letzteren vorzustellen hätte, weiß ich nicht, und als Enkel Adriano mir neulich erklärte, sein neuester Sowieso-Saurier aus Plastik habe vor 30 Millionen Jahren gelebt – dreißig Millionen Jahre unterstreicht er, in der Hoffnung, seine Großmutter könne ihm eine verständliche Erklärung für diese Dimension geben – musste ich ihm leider die Antwort schuldig bleiben. Aber was – oder wie – um Himmels Willen zählt das Feuer? Und die Leere? Ich lese weiter: “Feuer und Reichtum sind offensichtlich Symbole für die psychische Energie. Und dann denkt man auch an die alten Darstellungen der Todesgottheit, z.B. in der griechisch-römischen Religion, wo der Tod Jupiter oder der Zeus der Unterwelt ist. Der Gott der Unendlichkeit und der Schatzmeister. Das Totenreich ist wie ein Schatz und der Totengott wie ein Wächter dieses unermesslichen Schatzes, aus dem das Leben wieder erzeugt und in den die Sterbenden wieder zurückgeholt werden.“
Wie wunderbar! Das ist wahres Leben: Das Totenreich ist ein Schatz. Etwas wertvolles also. Der Tod ist kein Ende. Und auch keine Strafe. Aus dem Totenreich, aus dem Tod wird Leben generiert.
Der Tod zählt: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht Rüben, eine alte Frau kocht Speck. Und du bist weg.“ Mani weg. Her number was up. Sie war dran. Da sind wir machtlos, und das hat für uns einen mit unserem armen, eingeschränkten menschlichen Denken nicht fassbaren Sinn.
„Wie viel Ungesagtes nehmen Sterbende mit in den Tod? Wir sterben mit vielem Ungesagten. Am wichtigsten ist im Angesicht des Todes, dass wir Liebe sagen und gesagt kriegen.“
Aus Peters Aufzeichnungen zum Stadtroman.
Mani weg. Unfassbar, aus der Fülle ihres Lebens herausgerissen. Der Tod hinterlässt Schmerz, weil das Gespräch zu Ende ist, wir reden mit uns selber, geben uns Antworten, denen das unverzichtbare Anderssein des Anderen fehlt. Er ist ein Schock, ein Stoß, Anstoß, er hinterlässt Leere, Freiraum, den die Lebenden neu füllen. Und er schließt das Erdenleben ab. Man resümiert also.
Was hat sie hinterlassen? Die 3jährige Verena und die 5 Monate alte Claudia. Wenn ich sie heute sehe, dann sind es schöne Frauen mitten in der Fülle ihres Lebens. Uschi sei mein Dank ausgesprochen. Sie aus der Glibbermasse, aus dem unermesslich großen Seelenschatz herauszukristallisieren, ihre Menschwerdung war Manis Aufgabe. Sie hat sie erfüllt.
Was war ihre größte Sehnsucht? Den Mann ihres Lebens zu finden. Den hat sie sehr aktiv und sehr lange gesucht. Und gefunden. Sie wollte ein Leben lang von Ekke geliebt werden. Das hat sie erreicht.
Was hat ihr Tod bewirkt?
Fast auf den Tag genau zwanzig Jahre nach ihrem Tod fällt Ekke mitten in seinem engagierten Berufsleben um. Burn Out. Er wird sechs Monate brauchen, um so viel Energien zu regenerieren, dass er in das neue Leben, das ihn erwartet, hinaustreten kann: Nach vielen langen Jahren kann Ekke sich schließlich erlösen, das Stahlgerüst sprengen, die unglaublichen Verstrickungen, in die er kaum geboren – und frei – hineingezwungen worden war.
Diese Geschichte kann nur Ekke weiterschreiben.
Claudia Podehl
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