***
XIV
WÜRFELBECHERMANN
(Geht bei geschlossenem Podestvorhang über die Bühne zu einem Telefon, hebt ab und wählt.) Hallo, Fräulein?
–
Ja, Fräulein, bitte verbinden Sie mich mit dem Publikum im {Name des jeweiligen Theaters oder Raumes, in dem gespielt wird}.
–
Wie? Nein, nicht das Publikum von gestern. Das interessiert mich nicht. Ich möchte mit den Zuschauern sprechen, die jetzt im {Name des Theaters} sitzen.
–
Doch, doch, Sie können stören. Auf meine Verantwortung.
Danke.
Hallo?! Ah, mein liebes Publikum. Hier spricht Ihr Würfelbechermann. Guten Abend und – gute Pause wünsche ich gehabt zu haben. Ich bin froh, dass ich Sie telefonisch erreicht habe. Ich bin Ihnen dadurch sehr verbunden. Von Zeit zu Zeit telefoniere ich nämlich leidenschaftlich gerne, – ich habe den Hörer so gern in der Hand. Ja, stellen Sie sich mal vor: Früher, da gabs überhaupt noch kein Telefon. Na, das müssen Zeiten gewesen sein! Naja, die Leute von damals, die kannten gar nicht die Vorteile, die so’n Telefonieren mit sich bringt. Naja, ich kann doch zum Beispiel meinem Gesprächspartner die Zunge rausstrecken, und der merkt das nicht. Mit Ihnen, mein liebes Publikum, würde ich mir das natürlich nicht erlauben. Nein, bestimmt nicht. Ehrenwort. Also wirklich… Aber bei Lieschen habe ich das neulich gemacht. Naja, die hat mich aber auch so gequält, ich sollte ihr ein Liebesgeständnis machen. Und da habe ich ihr gesagt: “Aber Lieschen, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe!” (Streckt mit der letzten Silbe lang die Zunge heraus.) Ja, Sie lachen, aber eigentlich war das ziemlich hässlich. Ich meine, selbst wenn es sich zum Auseinandergehen neigt, – und das tut es bestimmt -, sollte man… Naja, haben Sie Bekannte in der Pause getroffen? Wissen Sie, was mir passiert ist? Ich sitze am Radio und höre Sportnachrichten, – wer kommt da angelaufen? Lieschen! Ausgerechnet. War ziemlich unerfreulich. Bin schon wieder bei Lieschen. Ja, ich habe auf {Name zweier Rennpferde, die am selben oder am Vortag der Aufführung gestartet sind} gesetzt, aber die Ergebnisse kamen noch nicht durch. Übrigens ist mir eine sehr hübsche Antwort eingefallen auf die Frage: Was ist der Mensch? – Die Frucht der Pause… Also, ich meine nicht etwa, der Mensch sei die Frucht der Pause… Nein, das scheint mir ein bisschen abwegig. Nein, die Frucht der Pause ist es, dass mir eine Antwort eingefallen ist. Das ist eigentlich paradox, nicht? Denn das Wesen der Pause ist doch gerade Unfruchtbarkeit. Naja. Nun wollen wir mal unser Plauderminütchen beenden und wieder ein bisschen würfeln. Sonst ist auch die Leitung zu Ihnen, mein liebes Würfelbecherpublikum – ich erlaubte mir, Sie so zu nennen, ausnahmsweise, – so lange besetzt. (Bleibt am Apparat.)
***
XV – Am Museum
/ Der obere Rand eines übernatürlich großen Papierkorbes, mit einer Tür darin. /
XV, 1
EMPORE
(Kommt und müht sich, eine Pauke zur Tür zu schleppen.)
WÜRFELBECHERMANN
(Steht noch am Telefon. Sieht Empore.) Hallo?! Ja, ich muss aufhören. Empore ist da. Also. Auf Wiedersehen. Auf Wiederhören – vielmehr: … Jedenfalls: Auf Wieder! Bis gleich. (Legt auf, rennt auf das Podest und greift zu.) Moment.
EMPORE
(Erschrickt ein wenig bei seinem Anblick.) Du – bist wieder da?
WÜRFELBECHERMANN
Ja.
EMPORE
Und willst mir helfen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja. Wohin soll sie denn?
BEIDE
(Fassen die Pauke an.)
EMPORE
Hier, zur Tür.
BEIDE
(Stellen die Pauke vor die Tür.)
EMPORE
(Nach einer kleinen Pause:) Dass du heute kommst …. Was hast du gemacht?
WÜRFELBECHERMANN
Pause.
EMPORE
Hast du Lieschen gesehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, denk mal! Ausgerechnet! Die lief mir direkt in die Arme.
EMPORE
Dann hattest du gewiss die Arme ausgebreitet.
WÜRFELBECHERMANN
Nein. Wieso? Ach, das mit Lieschen ist nicht so einfach. Wir haben viel durchgemacht miteinander, und uns recht und schlecht geplagt.
EMPORE
Recht und gut wäre besser. Mit Leben und Liebe plagt man sich nicht, man macht sie nicht durch. Das ist doch viel zu kostbar, um einfach bis zum Tode abgelebt und abgeliebt zu werden. Wir dürfen doch nicht so abgenützt ins Grab steigen.
WÜRFELBECHERMANN
Wenn du nur deinen Mund aufmachst, weiß ich, dass etwas Kluges dabei herauskommen wird. Du brauchst es eigentlich gar nicht mehr auszusprechen.
EMPORE
Also hattest du gar keine richtige Pause?
WÜRFELBECHERMANN
Ach, wann kommen wir Abendländler des 20. Jahrhunderts schon mal zu einer richtigen Pause? Wir beschäftigen uns doch hauptsächlich mit Fortschritt!
EMPORE
Heute wird das Ministerium für Geldabschaffung abgeschafft. Ich werde frei.
WÜRFELBECHERMANN
Hoffentlich kann ich mich auch frei machen.
EMPORE
Die Pauke habe ich für Hellsinn besorgt.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich weiß, von dem Bauern. Hellsinn wird sich freuen.
EMPORE
Und: – Was ist der Mensch?
WÜRFELBECHERMANN
Ach so, ja. (Ziemlich zuversichtlich:) Mir ist was eingefallen. Pass auf: Die Pessimisten sagen: ein Gott, der will, aber nicht kann, und die Optimisten: ein Tier, das kann, aber nicht will.
EMPORE
Was? Das verstehe ich nicht.
WÜRFELBECHERMANN
Wieso? Das ist doch ganz einfach. Pass auf: –
EMPORE
Nein, das kannst du mir nicht e r k l ä r e n. So eine verspielte Antwort, die schmeißen wir hier in den Papierkorb.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich wollte dich die ganze Zeit schon fragen: Was ist das für ein Monstrum?
EMPORE
Unser Museum. Es hat die Form eines Riesenpapierkorbs. Es liegt unter der Erde, weil wir für sowas keine Luft bebauen wollten. Da schmeißen wir alles rein, was wir nicht mehr brauchen können: Nebelideen, alte Patente, falsche Gefühle, Bücher von Dichtern, die leichtfertig die Ehe gebrochen haben, unlösbare Probleme…
WÜRFELBECHERMANN
In das Museum möchte ich mal rein.
EMPORE
Ich werde fragen, ob du das darfst. Es ist eine kleine Auflösungsfeierlichkeit des Ministeriums da unten.
WÜRFELBECHERMANN
Ich hatte noch eine Antwort: Der Mensch ist die Frucht der Pause.
EMPORE
(Nach einem kurzen Nachdenken:) Ja, schön. (Küsst ihn leicht.) Danke. Unseren Kindern geben wir eine einfachere Antwort.
WÜRFELBECHERMANN
Finde ich die da unten im Papierkorb?
EMPORE
Oh nein, die liegt hier auf der Straße. Da spielen die Kinder damit. Und wehe dem, der sie je in den Papierkorb schmeißen sollte.
WÜRFELBECHERMANN
Ich habe auf euren Straßen nicht gespielt. Sag mir eure Antwort.
EMPORE
Der Mensch ist die Hälfte eines Liebespaares.
WÜRFELBECHERMANN
Reizend!
EMPORE
Was hat das mit Reizung zu tun?
XV, 2
HELLSINN
(Kommt.) Empore. (Zum Würfelbechermann): Was willst du denn schon wieder hier?
EMPORE
Er möchte gerne mal in den Papierkorb.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wenn ich bitten dürfte.
HELLSINN
Nein, das können wir nicht gestatten. Stell dir mal vor, wenn jeder da aus der Vergangenheit kommen würde. (Zu Empore:) Nun komm, es ist schon wieder viel zu spät. (Geht zur Tür. Die Pauke ist im Weg. Mürrisch:) Was soll denn die Pauke hier direkt vor der Tür?! (Geht in den Papierkorb.)
EMPORE
Das kann ja heiter werden! (Zum Würfelbechermann:) Warte. (Geht in den Papierkorb.)
WÜRFELBECHERMANN
Wie stehe ich da? Wie ‘ne Hälfte… wie ‘ne schlechtere Hälfte.
XV, 3
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt.) Würfelbechermann, welche Zukunft ist das hier?
WÜRFELBECHERMANN
Die bessere.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Großartig. Da wird doch wohl mal Jemand kommen.
WÜRFELBECHERMANN
Anzunehmen. Keine Zukunft ohne Menschen. Sagen Sie … Ich hätte eine Frage: Was ist der Mensch?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Lacht.) Wissen Sie eine Antwort nach zweitausend Jahren?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, die Hälfte eines Liebespaares.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ist ja reizend. Reizend formuliert. Echt weiblich. Haben Sie sicher von einer Frau. Ist natürlich Quatsch, aber reizend.
WÜRFELBECHERMANN
Das können Sie Ihrer Frau erzählen.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Witzig:) Nee, die glaubt mir das nicht. (Lacht.) Ja, ich werde mal mein Gedicht eben durchsprechen. (Schnurrt “Edel sei der Mensch” ab, unterbricht sich:) Wie banal ein Gedicht von Goethe klingt, wenn man es nur mal so repetitierenderweise durchspricht. (Schnurrt weiter.)
XV, 4
FRAU HELLSINN
(Kommt aus dem Papierkorb.) Ach, diese Luft da unten.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Ist verstummt und verbeugt sich nun vor jedem der Herauskommenden.)
HELLSINN
(Kommt.)
FRAU HELLSINN
Na, findest du es hier nicht schöner?
HELLSINN
Ach, mir ist das egal. Meinetwegen brauchte überhaupt keine Feier zu sein. (Die Pauke stört.) Diese dämliche Pauke.
REDNER
(Kommt aus dem Papierkorb.) Natürlich ist es hier viel schöner. Im Papierkorb kommt man sich so weggeschmissen vor.
EMPORE
(Kommt ebenfalls wieder. Schnell zum Würfelbechermann. während die anderen sich gruppieren.) Schnell! Dass Hellsinn es nicht sieht. Ich hole dich wieder raus.
WÜRFELBECHERMANN
Danke. (Verschwindet im Papierkorb.)
REDNER
In dieser schöneren Luft möchte ich aber nun doch dem ganz kleinen Kreis eine Rede halten. Ich glaube, der Äther hat diese Rede nötig.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tritt entschlossen, wenn auch devot vor.) Es würde passen… Darf ich vielleicht erst einmal? Kleine künstlerische Umrahmung kann nie schaden. (Rezitiert.)
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut. –
FRAU HELLSINN
Was soll denn das?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Indigniert:) Ich muss mich doch sehr wundern. (Fängt wieder an:)
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut. –
EMPORE
Sei doch ruhig! Was hast du denn?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Bereits entschieden beleidigt:) Du? Sie? Äh… Das ist doch Goethe!
EMPORE
Naja, das wissen wir. Aber das passt doch gar nicht hier her!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Aber ich bitte Sie: Keine Feier ohne Goethe!
REDNER
Uns passt er aber trotzdem nicht. Bitte geh oder sei still.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Merkwürdig familiärer Ton. (Geht.)
XV, 5
REDNER
Mein lieber ganz kleiner Kreis. Wir pflegen sonst keine Reden zu halten, wenn Minister abgesetzt werden. Es ist eigentlich nie ein entsprechender Anlass vorhanden. Meist hat eine Ehe nicht zuvor den liebevollen Weg beschritten, oder es ist sonst etwas Unrechtes geschehen. Aber heute haben wir es immerhin auf einen Redner und drei Zuhörer gebracht. Wohl noch nie ist ein Minister mit solchen Ehren abgesetzt worden.
HELLSINN
Komm, mach schnell. Das ist doch alles Unsinn.
REDNER
Gut, wenn du meinst… Ich will mich in meiner Rede ganz nach den Wünschen meiner Zuhörer richten. Feiern wir etwas anderes, etwas weniger Persönliches. Die kleine Gemeinde findet sich am Rande des Papierkorbs. Das Geld füllt nicht mehr Taschen, Gehirne und Kontobücher. Jenseits des Randes, im Papierkorbkellermuseum füllt es einige Glaskästen. Ich erinnere mich nicht, je einen bedeutungsvolleren Gegenstand in die Glaskästen des Papierkorbs versenkt zu haben.
XV, 6
WÜRFELBECHERMANN
(Erscheint ein wenig aufgeregt und verstört mit einem Museumsglaskasten in der Tür.) Hier, da habt ihr eine Sache unter Glas, die ich miterlebe. Ich konnte damit nicht allein bleiben. In den Glaskästen da unten liegt überall meine Leiche, – wie Schneewittchen. (Stellt den Glaskasten hin und erklärt, wie ein Lehrer vor der Klasse:) Es ist alles genau grafisch dargestellt, statistisch und historisch nachgewiesen. Moment, – da müsste ich ja auch sehen können, wo das hinführt…? (Verfolgt mit dem Finger auf der Glasscheibe.) Hier! So… Was? Wie ist denn das möglich geworden? Ach so…, na das hätte ich nicht gedacht. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. (Schaut seinen Finger an.) Staub gewischt wird nicht in eurem Papierkorb. Hier, – ich habe Staub auf den Fingern, der bei euch auf meiner Gegenwart liegt. Ich wünschte, Sie könnten sehen, wie wir uns um diesen Fall erhitzen: Da wird gelogen, geschrieen, gejubelt, geschäumt, auch geschossen und gestorben – Und oft weinen die Frauen… Und nun ist es Papierkorbinhalt, mit Staub und kleinen Zettelchen versehen. (Sieht wieder in den Kasten.) Moment mal! Ihr habt was vergessen. Eure Historiker sind nachlässig. Hier, – wenn hier die Menschen “Ja” gesagt hätten, als man ihnen das Paradies versprach, dann wäre es ganz anders gekommen, – viel schlimmer. Ja, dann gäbe es euch überhaupt nicht! Ihr verdankt euer Leben unserem “Nein”! Hier wollten die Barbaren ihre Standarte aufpflanzen. Ihr habt die andere Möglichkeit vergessen. Wollt ihr sie sehen?
HELLSINN
(Etwas leichtfertig:) Du kannst wohl zaubern? Her mit der Barbarei!
XV, 7
FÜHRER
(Steht in einem gespenstischen Lichtkegel vor der kleinen Gemeinde und hält eine Rede:) Ich fordere daher die uneingeschränkte Militarisierung des Friedens und die Verstaatlichung der Anarchie. Vor allen Dingen aber fordere ich die rücksichtslose Bekämpfung des Schleichhandels mit Geist. Und wenn eine größenwahnsinnige Clique glaubt, mit Gott gegen uns kämpfen zu können, dann werden wir nicht davor zurückschrecken, auch die letzten noch erlaubten Reste Gottes zu liquidieren. (Verschwindet im erlöschenden Licht.)
XV, 8
REDNER
Und ich sage nun: Hellsinn, weg mit dieser Barbarei! Und der größte Dank aller Menschen an dich, der du das Geld ermordet, – liquidiert hast!
EMPORE
Und dank dem Würfelbechermann, als er “Nein” sagte, als man ihm das Paradies der Hölle schenken wollte.
REDNER
Ich wollte eigentlich noch viel sagen, aber –
HELLSINN
Menschenskind! Nun hört doch bloß mal auf.
EMPORE
(Stellt sich vor die kleine Gemeinde.) Nein. Ich muss noch drei Worte sage. Hellsinn! Du siehst nicht froh aus, wie nach getaner großer Arbeit.
HELLSINN
Ich bin auch nicht froh. Du weißt ganz genau, –
EMPORE
(Schnell:) Ja, – ich weiß. Wir wollen so nicht auseinander gehen. Die anderen kennen deinen Ehebericht. Ich – kenne deine Ehe. Und ich bin glücklich, –
HELLSINN
Wenn du nur glücklich bist!
EMPORE
(Zunehmend irritiert:) Hellsinn, ich bitte dich! Ich bin glücklich, dass… Ich schenke dir etwas, das dich freuen wird: eine Pauke. Möge sie dich wieder ins rechte Gleis pauken, und dich so frei machen, dass –
HELLSINN
Was soll ich denn mit der Pauke? Was hast du dir dabei gedacht?
EMPORE:
(Traurig:) Ich dachte…
REDNER
(Versucht einzulenken:) Ich denke, wir beenden nun unsere kleine Feierlichkeit. Frei von den Geldern der Erde möge die Musik dich wieder umgeben.
HELLSINN
(Steht auf.) So. Jetzt halte ich eine Rede! Das ist alles Quatsch! Ich macht schöne Worte wie in einem Jungfernverein. Glaubt ihr denn wirklich, mit einer kleinen Heiterkeit könnt ihr mir helfen? Ihr mir helfen? Mit Reden und Pauken? Ich will auch gar nicht eure Hilfe! Ich fühle mich sauwohl. Der Redner, den dieser komische Knirps da gezaubert hat, – das war doch noch ein Kerl! Der liebt bestimmt die Frau, die ihm Spaß macht und nimmt nicht ununterbrochen Rücksicht. Der redet auch nicht drumrum. Und ich tu’s auch nicht mehr. Hier: Ich schmeiße euch meine Wahrheit vor die Füße: Ich liebe Empore! Ich liebe Empore. Mehr als früher, mehr als meine Frau. Alles andere ist mir egal. Ich will nicht mehr edel sein, und immerzu bereit und… Meine Frau ist mir egal, meine Kinder sind mir egal. Ich liebe Empore. (Geht zu ihr.)
EMPORE
Komm mir nicht zu nahe.
REDNER
(Hat aus seiner Tasche ein schwarz-weißes Kreuz geholt, das er an Hellsinns Brust befestigt.) Ich verhafte dich mit dem Friedensstrafkreuz. Du weißt, was es dir auferlegt. Die Gemeinschaft stößt dich aus und auf dich selbst zurück. Empore wird dir dieses Kreuz abnehmen, wenn du sie darum bittest, wenn du dich ent-schuldet hast. Man wird “Sie” zu dir sagen. (Geht.)
HELLSINN
(Zu seiner Frau:) Entschuldige, aber … sieh mal –
FRAU HELLSINN
(Mit Überwindung:) Ich sehe nichts an Ihnen. (Geht.)
EMPORE:
(Zu Hellsinn:) Sie werden mich bald bitten, Ihnen das (Deutet auf das Kreuz.) abzunehmen, nicht wahr? Komm, Würfelbechermann. (Will gehen.)
WÜRFELBECHERMANN
(Will ihr folgen.)
HELLSINN
(Geht ihnen nach.) Ich komme auch mit, Empore.
EMPORE
Sie wissen, dass Sie mir mit diesem Kreuz nicht folgen dürfen. Es sei denn, um mich zu bitten, es Ihnen abzunehmen. Aber so weit kann es noch nicht sein.
HELLSINN
Ich weiß schon, was das Kreuz mir auferlegt. Ich gehe auch nicht dir nach, sondern dem Würfelbechermann. Und da er dir folgt, schlage ich dem Kreuz ein Schnippchen! Denkt doch nicht, dass es so leicht sei, Hellsinn zu bestrafen.
WÜRFELBECHERMANN
Es ist sehr leicht, Herr Minister. Ich werde Empore nicht folgen. (Geht nach der anderen Seite.)
HELLSINN
(Bleibt verdutzt stehen. Dann geht er zur Pauke.)
DIE DREI
(Bilden ein großes Dreieck.)
EMPORE
(Traurig:) Wirst du Lieschen sehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ich weiß nicht. Es gibt viele Möglichkeiten. (Geht.)
EMPORE
Komm wieder… (Zu Hellsinn:) Was meinst du: Ob er Lieschen sehen wird?
HELLSINN
(Erstaunt, dass sie ihn anspricht:) M i c h fragst du?
EMPORE
(Mit leisem Lächeln:) Ja, entschuldige, du kannst es ja gar nicht wissen….
HELLSINN
Es scheint dich ja sehr zu interessieren?!
EMPORE
(Schaut ihn erschrocken an:) Ja. (Geht schnell weg.)
HELLSINN
(Setzt sich auf die Pauke und schaut ihr nach.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XVI
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor das Podest. Humorig:) Nun finde ich mich besonders edel. Ich habe in einer Zeit, in der ich noch gar nicht lebe, ein Opfer gebracht. Und ich wäre kein Mensch, wenn ich dabei nicht selbstvoll an den Lohn gedacht hätte! Die sind mir doch nun verpflichtet. Ich knüpft ein Band. Bande knüpfen ist vorteilhaft.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt. Ziemlich entrüstet:) Hören Sie mal! Was soll denn das?!
WÜRFELBECHERMANN
Was?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Na, ich komme ja nicht zu Potte mit meinem Gedicht. Nirgends lässt man mich zu Ende kommen. Was ist denn das für ein Theater, wo man nicht mal Goethe rezitieren darf?!
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich weiß auch nicht was das für –
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Also, ich bitte Sie, Ihren ganzen Würfelbechereinfluss einzusetzen, dass ich mal zu ende rezitieren darf. Egal wo. Und wenn ich Goethe in der negativen Zukunft beenden muss. (Empört sich noch einmal:) Es ist ja gradezu ein Skandal, eine Kulturschande, wie Goethe in Zukunft behandelt wird. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Mensch, ich habe ganz andere Sorgen. Tja, also vorhin, zu Anfang, da hieß es für mich: Wie sag ich’s meinem Publikum? Jetzt heißt es viel komplizierter: Wie sag ich’s meinen Haaren? Vielmehr: Ihren Haaren. Vielleicht könnten Sie so gut sein und mal rausgehen, und ihre Haare dalassen. Ich habe nämlich eine kleine Ansprache zu richten. Moment mal: wenn Sie rausgehen, würden Sie wahrscheinlich Ihre Haare mitnehmen. Das hätte auch keinen Zweck. Hmm.. Also, ich weiß keine andere Lösung: Ich bitte Sie sehr um Entschuldigung, dass Sie diese Ansprache an Ihre Haare mit anhören müssen. (Zieht einen Zettel hervor. Entdeckt etwas im Zuschauerraum.) Da sitzt ja eine Glatze. Also, jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich machen soll. (Leicht verärgert:) Ach was! Ich lese einfach vor. Mir ist vollkommen egal, ob da Glatzen mithören, oder nicht. Also: (Liest:) “Meine sehr verehrten Langen und Kurzen! Ich wende mich an Sie alle, unbeschadet Ihrer farblichen oder gefärbten Unterschiede. Ich kenne keine Haarspaltereien mehr, nur noch Haare! Es könnte passieren, dass Sie sich sträuben, oder gerauft werden. Und ich bitte Sie: Sträuben Sie sich nicht. Setzen Sie jeder Raufung den entschiedensten Widerstand entgegen. Hinterher würden Sie sich nämlich ärgern, sich gesträubt zu haben. Oder gerauft worden zu sein.” So weit die Ansprache an die Haare.
***
/Vorhang auf./
XVII Straße
/Eine transparente Häuserfront ist vor dem Podest aufgestellt. Fenster und Türen sind durch Rahmen erkenntlich. Stufen führen vorn in der Mitte vor dem Podest durch eine “Tür” ins Hausinnere. Am hinteren Podestrand ist ebenfalls eine Häuserfront sichtbar, sodass der Eindruck einer Straße entsteht. Eine PUPPE VON HELLSINNS FIGUR UND KLEIDUNG liegt zusammengekauert auf der Pauke./
XVII, 1
WÜRFELBECHERMANN
Und nun ein paar Worte über das, was hier zusammengewürfelt ist. (Geht aufs Podest.) Ich stehe jetzt auf der Straße. Das hier sind Fenster und Türen. Sie, meine verehrten Damen und Haare – äh, Herren befinden sich sozusagen im Haus. Es ist ein gewöhnliches Mietshaus in der ekelhaften Zukunft. Natürlich viel höher, als sich das hier aufbauen lässt. Das Haus steht buchstäblich über den Horizont hinaus. Sie könnten sozusagen auch aus dem Fenster sehen. Aber fallen Sie nicht raus.
EINE PUPPE VON KINDLICHER FIGUR
(Fällt aus einem oberen Stockwerk auf die Straße.)
WÜRFELBECHERMANN
(Erschrickt, will hingehen, zieht sich aber in die Nähe der Pauke zurück, weil er jemanden kommen sieht.)
XVII, 2
MINISTER
(Kommt, sieht die Leiche, wartet an einer Ecke.)
AT 621 WEIBLICH
(Kommt aus dem vorderen Haus aufs Podest, schaut sich um, geht zum Minister, bettelt:) Eine kleine Gabe.
MINISTER
Betteln? Jetzt, wo man in allen Rüstungsfabriken Überstunden machen und steinreich werden kann?
AT 621 WEIBLICH
Kleine Gabe – für den Modesalon.
MINISTER
Da hört sich doch alles auf! Was wollen Sie arme Person denn im Modesalon? Drehen Sie den Gashahn auf oder springen Sie aus dem Fenster.
AT 621 WEIBLICH
Wir wohnen im Keller und sind zu arm für eine Gasleitung.
MINISTERGATTIN
(Kommt.) Mit wem sprichst du denn da?
MINISTER
Sie will Geld für den Modesalon.
MINISTERGATTIN
Bettelweib! Gehen Sie arbeiten! Verdienen Sie sich das Geld für den Modesalon auf anständige Weise!
AT 621 WEIBLICH
(Geht.)
XVII, 3
MINISTERGATTIN
Also, was ist mit dir, Schnuckiputzi?
MINISTER
Tja – ich bin weiterhin in Ungnade beim Führer. Er verzeiht mir nicht, dass ich die Verstaatlichung der Anarchie nicht beschleunigt habe. Der Überstaatssekretär wollte mich gar nicht empfangen. Ich ging aber einfach rein. Und da sagte er mir, ich solle froh sein, dass es nur ein Einberufungsbefehl und kein Haftbefehl sei.
MINISTERGATTIN
Und? Was wirst du nun tun? Dem Führer zu Füßen fallen?
MINISTER
Wo denn? Er ist doch schon vor Kriegsausbruch ins Hauptquartier.
MINISTERGATTIN
(Sentimental:) Siehst du, dahin wollte er mich mitnehmen und mir jeden Tag einen Strauß roten Kriegsmohn schenken.
MINISTER
Ja, daraus wird nun nichts.
MINISTERGATTIN
Weil du ein Popanz bist.
MINISTER
Tja, ich muss nun in die Kaserne. Was wirst du tun?
MINISTERGATTIN
Was bleibt mir denn übrig, als in den Modesalon zu gehen?
MINISTER
(Entsetzt:) Nein!
MINISTERGATTIN
Natürlich. Du kannst mir doch nicht zumuten, dass ich Polizistin werde!
MINISTER
Das werde ich zu verhindern wissen. Ich habe überall meine Beziehungen.
MINISTERGATTIN
Du? Wer die Gnade des Führers verliert, verliert auch seine Beziehungen.
MINISTER
Es könnte doch sein, dass ich lebend zurückkomme.
MINISTERGATTIN
Oder als Krüppel. Dann sind wir ein armes Ministerehepaar a. D. Nein, nein. Gib mir nur das Geld für den Modesalon.
MINISTER
Nein, also ich kann mir das nicht antun.
XVII, 4
POLIZIST
(Kommt mit einem Handkarren voller Uniformstücke und Listen, sieht die Leiche. Zur Ministergattin:) Ausweis.
MINISTERGATTIN
(Gibt ihm den Ausweis.)
POLIZIST
(Sieht sich den Ausweis aufmerksam an.)
MINISTERGATTIN
(Will ihren Mann mit sich fortziehen.)
POLIZIST
Halt! Wie wollen Sie denn ohne Ausweis leben? (Prüft weiter.)
MINISTERGATTIN
(Leise:) Ich will ja nicht. (Zu ihrem Mann:) Gib mir das Geld!
MINISTER
Nein. Du weißt, dass der Modesalon verboten ist. Und ich war schließlich Minister.
POLIZIST
(Gibt ihr den Ausweis zurück:) Zur Polizei eingezogen. (Setzt ihr eine sehr große Mütze tief ins Gesicht, schmeißt ihr ein paar klotzige Filzstiefel hin, gibt ihr einen viel zu weiten Mantel, Karabiner und Revolver mit Tasche.) Anziehen, umschnallen, ausrüsten. Erster Sold in der Tasche. Fürstlich! (Klingelt mit einer Glocke wie ein Ausrufer und liest dann von einem Blatt Papier:) “Achtung! Folgsames Volk! Das Volk hat euch den Krieg zu erklären. Es gelten alle bei früheren Kriegsausbrüchen verordneten Verordnungen. Darüber hinaus befiehlt zum 186. Kriegsausbruch das Volk dem Volk:
- Ideologische Notverständlichkeit kriegerischer Fortsetzung eingeschlagener Politik mit anderen Mitteln ist vom Volk einzusehen und dementsprechend zu handeln, zu rüsten und zu morden.
- Selbstmord jedoch ist streng verboten und zieht bei Missglücken die Todesstrafe nach sich.
- Bimmelnde, kriegserklärende Polizisten ziehen fahrende Bekleidungskammern mit sich, um das nicht werktätige Volk sofort zu polizistisieren.” (Bimmelt.)
MINISTER
(Will gehen.)
POLIZST
Halt! Wohin denn?
MINISTER
Zur Truppe. Ich habe die Einberufung.
POLIZIST
Moment. Da die Truppen verschoben werden, sind Truppenverschiebungen im Gange. Ausweis.
MINISTER
(Gibt ihm den Ausweis.)
POLIZIST
(Gibt ihn der Ministergattin:) Lesen!
MINISTERGATTIN
(Hat sich in ein widerliches Flintenweib verwandelt, liest monoton, ohne Pause:) “IRF 4891 männlich. Geboren 11.7.678 in BX; erlernter Beruf: römisch drei Schrägstrich 17586 klein A; ausgeübter Beruf: römisch eins, Schrägstrich eins, groß A; Arbeitsamt: 64532 Schrägstrich klein A 881; Wohnungsamt: 467583 Schrägstrich klein C minus 15; Kartenstelle: 6419 Schrägstrich römisch – (Muss atmen.)
POLIZIST
(Hat in Listen verglichen und bei jedem Posten genickt.) Was ist denn?
MINISTERGATTIN
Musste atmen. (Liest weiter:) “767; Wehrnummer: 1486 Schrägstrich römisch drei Schrägstrich 740 groß B klein IFB Atombombenabwehrbekämpfung.
MINISTER
Was ist denn das?
POLZIST
Die neue Geheimwaffe des Führers, die gegen die Atombombenabwehr eingesetzt wird. Polizistin! Führen Sie den Mann zur Atombombenabwehrbekämpfungskompanie 234 in der 849. Kaserne. Die ist gleich um die Ecke. Waffengewalt ist anzuwenden.
MINISTERGATTIN
(Legt die Pistole an die Schläfe.) Zu Befehl!
POLZIST
Nehmen Sie die Pistole von der Schläfe! Sie sind doch hier nicht im Modesalon.
MINISTERGATTIN
(Verbessert ihre Haltung.) Zu Befehl. (Zu ihrem Mann:) Nun geh, du Popanz, ich habe Waffengewalt über dich.
MINISTER
(Geht.)
MINISTERGATTIN
(Folgt ihm als hätte sie nie Stöckelschuhe getragen.)
POLIZIST
(Zieht lachend mit seinem Karren hinterher.)
XVII, 5
AT 621 WEIBLICH
(Kommt, vorsichtig umherspähend.) Keiner gibt mir Geld für den Modesalon. Und ich muss doch. Ich habe schon fünf Überstunden versäumt. Die prügeln mich tot. (Sieht Hellsinn, untersucht ihn vorsichtig, fasst in seine Taschen.) Der hat kein Geld, armer Toter.
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor.) Was tun Sie denn da?
AT 621 WEIBLICH
(Erstaunt und froh:) Würfelbechermann?! Ich sehe dich wieder?!
WÜRFELBECHERMANN
Was suchen Sie denn bei dem Herrn?
AT 621 WEIBLICH
Nichts mehr. Ich bin selig, denn ich habe dich ja wieder…
POLIZIST
(Kommt mit dem Karren wieder, wartet an der Leiche auf jemanden.)
AT 621 WEIBLICH
Polizei! (Verschwindet im vorderen Haus, bleibt am Türrahmen – also vor dem Podest – ab und zu herauslugend, zu sehen.)
MINISTERGATTIN
(Ist dem Polizisten gefolgt.)
POLIZIST
Und das kann ich dir sagen: Wenn alles zugrunde geht, – die Polizei bleibt übrig. Wir zeugen dann ein neues Geschlecht von Polizisten. (Anzüglich:) Machst du da mit?
MINISTERGATTIN
(Zuckt die Achseln.)
POLIZIST
(Meint die Leiche:) Was ist denn das?
MINISTERGATTIN
Ne Kinderleiche.
POLIZIST
(Hat Hellsinn entdeckt. Schüttelt ihn.) Und hier ist ‘ne Männerleiche.
WÜRFELBECHERMANN
Verzeihung, der Herr schläft auf seiner Pauke.
POLIZIST
Im Moment schläft man bei uns nicht. (Versucht vergeblich, Hellsinn zu wecken.) Der Mann ist tot. Kommen Sie mit.
WÜRFELBECHERMANN
Warum?
POLIZIST
Weil Sie der Mörder sind. Das heißt – (Blättert in seinen Listen:) Sie haben Glück. Eigentlich leben wir in einem Rechtsstaat. Aber weil Krieg ist, wird jeder Mann gebraucht. Besonders Mörder. Haben Sie keine Einberufung?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
POLIZIST
Komisch. (Nimmt wieder seine Liste zur Hand.) Jahrgang?
WÜRFELBECHERMANN
Zweiundzwanzig.
MINISTERGATTIN
(Zum Würfelbechermann:) Was hatte der Tote für Augen?
POLIZIST
Hier: 722.
WÜRFELBECHERMANN
Verzeihung: 1922! Das heißt natürlich… Wieso? Das Stück spielt doch in der Zukunft.
MINISTERGATTIN
Was?
WÜRFELBECHERMANN
(Etwas verdattert:) Ich meine, das kann doch nicht stimmen: 722 nach Christus?
MINISTERGATTIN
Wer ist denn das?
WÜRFELBECHERMANN
Jesus Christus.
POLIZIST
Nie gehört.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wann war denn das Jahr 1?
POLIZIST
Ist denn das die Möglichkeit! Haben Sie denn nie Religionsunterricht gehabt?
WÜRFELBECHERMANN
Wieso? Doch – eben.
POLIZIST
Na und? Haben Sie im Religionsunterricht nicht gelernt, dass unsere Zeitrechnung von der Gründung des Dritten Reichs im ehemaligen Deutschland datiert?
WÜRFELBECHERMANN
Ach so! Naja, ich erinnere mich. Aber das dauerte doch nur 12 Jahre?
POLIZIST
Richtig. Aber dann kam bekanntlich Führer II und richtete es noch mächtiger und herrlicher wieder auf.
MINISTERGATTIN
Die Schläfe des Toten ist durchsichtig wie Glas, als ob er träumte. Woher kannten Sie ihn?
WÜRFELBECHERMANN
Von woanders.
POLIZIST
Der ganze Fall ist sehr verdächtig. Hier liegt Sabot-, wenn nicht gar Spionage vor. Ich werde die Justizbürokratie in Bewegung setzen. Polizistin! Bewachung von Leiche und Mörder. Weisung abwarten. Waffengewalt ist anzuwenden.
MINISTERGATTIN
(Salutiert.) Zu Befehl!
POLIZIST
(Schiebt ab.)
XVII, 6
MINISTERGATTIN
Warum haben Sie ihn denn ermordet?
WÜRFELBECHERMANN
Er ist ja gar nicht tot. Er schläft.
MINISTERGATTIN
(Untersucht Hellsinn. Erstaunt:) Tatsächlich. Er atmet ganz ruhig. So ruhig möchte ich auch einmal atmen können. Und Sie wissen nicht, was er für Augen hat.?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
MINISTERGATTIN
Schade. Und sein Beruf?
WÜRFELBECHERMANN
Er ist Minister gewesen.
MINISTERGATTIN
Ach, dann hätte er ja mein Mann sein können.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, hätte…
MINISTERGATTIN
Und er kann hier ganz bestimmt nicht aufwachen?
WÜRFELBECHERMANN
Nein. Was soll er auch? Wünschen Sie es ihm? Jetzt, bei Kriegsausbruch?
MINISTERGATTIN
Nein, es hätte gar keinen Sinn. Es hat gar keinen Sinn. (Zieht den Mantel aus.) Die Pistole im Rücken meines Mannes hat mir auch nur wenig Freude bereitet. Ich will ihn zudecken, er könnte frieren. (Tut es.) Nein, wenn er die Augen hier nicht aufmacht, – hat es keinen Sinn mehr. Ich gehe doch in den Modesalon. (Schnürt das Koppel um die elegante Taille, hängt den Karabiner über die elegante Schulter und will – eine schreckliche Witzfigur – gehen.) Halt, das Geld! (Holt es aus der Manteltasche und geht.)
XVII, 7
AT 621 WEIBLICH
(Kommt schnell aus dem “Haus”.) Würfelbechermann, lass uns fliehen. Ich habe dich gesucht, seit du in den Gittern verschwunden warst. Du mein Abgott, mein Ideal!
WÜRFELBECHERMANN
(Unangenehm berührt:) Was sind das für Worte?
AT 621 WEIBLICH
Woher soll ich andere nehmen?
WÜRFELBECHERMANN
Wohin willst du denn immer fliehen?
AT 621 WEIBLICH
So gib mir Geld.
WÜRFELBECHERMANN
Ich habe kein Geld für dich!
AT 621 WEIBLICH
Nein, du hast nur für deine Empore.
MINISTER
(Kommt aufgeregt:) Wo ist meine Frau?
WÜRFELBECHERMANN
Zum Modesalon.
MINISTER
Aber sie braucht nicht. Ich werde nicht Soldat. (Rennt weg.)
AT 621 WEIBLICH
Kein Geld. Keine Liebe. Keine Flucht….
WÜRFELBECHERMANN
Was ist das für ein Modesalon?
AT 621 WEIBLICH
Ein ehemaliger Modesalon… (Sieht die Kinderleiche. Mit erstauntem Bedauern:) Och, der kleine SNZ 784. (Ruft nach oben:) Was hat er denn getan?
STIMME VON OBEN
Konsum hat er gespielt. Mit richtigem Geld. Wie ich ihn verdreschen wollte, ist er aus dem Fenster gesprungen. Warten Sie, ich hole gleich das Geld.
AT 621 WEIBLICH
(Fasziniert:) Geld? (Untersucht den Jungen. Findet eine Waage in seinen Händen.) Eine Waage. (Findet Geld.) Und hier ist Geld! Oh, wie viel! So, nun kann ich meinen Tod kaufen. (Rennt weg.)
/Vorhang. Umbau./
***
XVIII
WÜRFELBECHERMANN
(Hat die Waage genommen und ist vom Podest gesprungen.) Er hat Konsum gespielt. Er wird nie wieder Konsum spielen, der kleine SNZ 784. Lassen Sie uns etwas spielen. Lassen Sie uns die beiden Zukünfte wiegen, mit denen wir uns nun schon seit längerer Zeit beschäftigen. Ich meine: Es ist ja ziemlich klar, welche die schwerere ist, – Aber trotzdem. (Würfelt.) So, hier habe ich jetzt die hässliche Zukunft zusammengewürfelt. (Schüttet sie in eine der Schalen, die sinkt. Würfelt wieder.) Und hier die andere, in die wir alle doch wohl wollen. (Schüttet sie in die andere Schale. Die Schalen halten sich die Waage.) Nanu? Das kann doch nicht stimmen. Das ist doch unmöglich, dass es bei Empore genau so schwer ist, wie bei dem Führer. Das ist ja eine vollkommen unempfindliche Waage. Das wollen wir doch gleich mal ausprobieren. (Schüttet die Schaleninhalte aus.) So, raus mit den Zukünften. Und nun würfle ich in die eine Schale das Theater. (Tut es. Die Schale sinkt.) Und in die andere das Leben. (Tut es. Die letztere Schale hat weitaus mehr Gewicht.) Doch. Die funktioniert. Das Theater hat es sich doch zu allen Zeiten leichter gemacht. Das Leben war immer um etliche Pfund schwerer. Vielleicht habe ich vorhin nicht richtig gewürfelt. (Schüttet wieder aus und würfelt.) So, hier kommt jetzt also rein: Kellerwohnküche, Angst, Einberufung und Willkür. (Füllt eine Schale, die sich daraufhin senkt. Würfelt weiter.) Und hier: Geldabgabeschalter, Verständnis, Papierkorb und Verhaftung mit dem Kreuz. (Füllt die andere Schale, die weitaus leichter bleibt.) Na also. Das wäre ja auch zu komisch gewesen. So. (Lässt die Waage stehen.) Jetzt entschuldigen Sie mich bitte ein paar Minuten. Ich will nur zum Radio, ob die {Pferdenamen, wie oben} gewonnen haben. (Geht.)
***
XIX Orchester und Radio
/Von einem Orchester ist nur das Dirigentenpult und der Platz des Paukers sichtbar. In einer davon entfernten vorderen Ecke des Podests befindet sich ein Gewirr aus Drähten. HELLSINN liegt auf der Pauke./
XIX, 1
HELLSINN
(Erwacht, steht auf, sieht sich verwundert den Mantel an, wirft ihn hinter das Podest und kämmt sich gähnend.)
FRAU HELLSINN
(Geht mit einem leeren Netz vorüber.)
HELLINN
(Tritt ihr vorsichtig in den Weg.) Ah, Guten Morgen.
FRAU HELLSINN
(Bleibt einen Augenblick stehen, schaut ihn an, geht dann weiter.)
HELLSINN
Wohin gehst du?
FRAU HELLSINN
Zitronen einkaufen. Für die Kinder.
HELLSINN
Und? Wie geht es dir und den Kindern?
FRAU HELLSINN
(Schüttelt den Kopf und geht dann weiter.)
HELLSINN
Wenn sie Zitronen holt, muss es ihr ganz gut gehen. (Geht zum vorderen Podestrand und balanciert herum.) Wenn sie in die Apotheke gegangen wäre, hätte ich mir Sorgen gemacht. Das heißt, Zitronen sind natürlich bei Fieber auch sehr gut, und wenn eines erkältet ist… Ach was, Zitronen sind auch für Gesunde sehr gesund. (Erinnert sich seiner Träume:) Es brach ein Krieg aus. Träume kommen aus uns, lehrt die Wissenschaft. Es brach ein Krieg in mir aus. (Erinnert sich weiter:) Ich hatte kein Geld. Und ein armes Geschöpf wollte welches von mir für ein modisches Kleid. Und ich wusste im Traum nicht, ob ich glücklich sein sollte, weil ich das Geld los war, oder unglücklich, weil ich dem armen Geschöpf nicht helfen konnte.
XIX, 2
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt vor dem Podest heraus, deutet auf das Kreuz:) Ah, ausgezeichnet?
HELLSINN
Ja.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ausgezeichnet. Ich selbst habe auch das Kriegsverdienstkreuz erster Klasse für ausgezeichnete, vorbildliche (Betont:) und mustergültige Schreibarbeit hinter der Front erhalten.
HELLSINN
Kriegsverdienstkreuz sagst du?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Verzeihen Sie. Ich habe leider nicht die Ehre, Sie zu kennen… Ach so, du warst wahrscheinlich auch bei der 12. Panzergrandier?
HELLSINN
(Verständnislos:) Bitte?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ja… Wie heißt den Ihr Kreuz?
HELLSINN
Friedensstrafkreuz.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Friedensstrafkreuz? Das verstehe ich nicht.
HELLSINN
Ich verstehe ja deins auch nicht.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich möchte wissen, was am Kriegsverdienstkreuz nicht zu verstehen sein soll. Wofür haben denn – du das Kreuz bekommen?
HELLSINN
Ich war Minister für Geldabschaffung und –
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Interessiert:) Ach, das ist ja putzig. Ich habe meins auch für Geldabschaffung bekommen. Und zwar war ich Sonderreferent in der Hauptabteilung Papierwesen. Wollen Sie Goethe hören?
HELLSINN
Ja, bitte.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Beginnt sein Gedicht zu rezitieren.)
HELLSINN
(Unterbricht nach der zweiten Zeile:) Ach nein, das bitte nicht. Das passt so gar nicht zu meiner gegenwärtigen Situation.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Wenn man dieses Gedicht unpassend findet, – das ist ein sehr schlechtes Zeichen. (Geht.)
HELLSINN
(Balanciert weiter, meint das Kreuz:) Ja, ein gutes Zeichen ist das nicht. Man hat mich mit der absoluten, abstrakten Freiheit bestraft: Ich schwanke ohne Bindung am Podestrand. Niemand spricht mit mir, nur ein ausgezeichneter Herr, der auch ein Kreuz trägt. Ich bekomme Essen, ein Dach überm Kopf, und wenn’s lange genug dauert auch einen neuen Anzug. Den kann ich mir allerdings nicht aussuchen – er muss mir passen, wie eine Uniform. Ich arbeite nicht und höre nicht das Geschrei meiner Kinder. Und in dieser absoluten Freiheit träume ich von Kriegsausbruch. Und ich wünschte, es würde jetzt ein Fremder kommen und mich fragen, wie man von hier zum Platz der Liebe kommt. Oder zur Straße des Wohlwollens. Aber niemand fragt mich. Die absolute Freiheit verurteilt mich zum Monolog.
XIX, 3
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt mit einem Radio und sucht herum.)
HELLSINN
(Sieht ihn, für sich:) Ob der mit mir spricht? Dieser Reisende zwischen den Zeiten? Ich probiere. (Spricht ihn an:) Guten Morgen. Wie geht’s?
WÜRFELBECHERMANN
Danke. Haben Sie gut geschlafen?
HELLSINN
Ein bisschen schlecht geträumt. Mit so’m Kreuz träumt sich’s nicht gut.
WÜRFELBECHERMANN
Ja ich weiß. Der Kriegsausbruch, die Frau Polizistin …
HELLSINN
Richtig! Du warst ja dab- (Plötzlich:) Woher weisst du denn, was ich geträumt habe?
WÜRFELBECHERMANN
Ich würfle auch in Träumen.
HELLSINN
Was hast du denn da?
WÜRFELBECHERMANN
Ein Radio. Ich habe im Pferderennen gesetzt. Ich muss wissen ob {Pferdenamen, wie oben} gewonnen haben. (Sucht weiter.)
HELLSINN
(Für sich:) Er spricht zwar mit mir, aber es fällt mir manchmal schwer, ihm zu folgen.
WÜRFELBECHERMANN
(Hat die Drähte entdeckt:) Ah, hier können wir es installieren. Hier wird geerdet. (Macht sich zu schaffen.)
HELLSINN
Und wo willst du himmeln?
WÜRFELBECHERMANN
Himmeln? (Lacht:) Reizend. (Verbessert sich:) Ich meine: hübscher Ausdruck. Das nennt man doch Antenne.
HELLSINN
Warum nicht Himmel?
WÜRFELBECHERMANN
Weil man wohl einen Stöpsel in die Erde stecken kann, denn sie ist ja sehr nah. Aber in den Himmel kann man wohl keinen Stöpsel stecken, – der ist doch weit weg.
HELLSINN
Willst du nicht Empore wiedersehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja. Nur schnell die Sportnachrichten.
BEIDE
(Arbeiten mit den Drähten herum.)
XIX, 4
DIRIGENT
(Kommt mit Taktstock und Partitur.)
BAUER
(Folgt ihm mit Paukenschlägeln.) Du, Dirigent…
DIRIGENT
Ja, bitte?
BAUER
Ich bin Bauer.
DIRIGENT
Ja, und?
BAUER
Ich habe gestern von meinem Bauernhof eine Pauke hierher gefahren. (Sieht die Pauke.) Da steht sie ja. Ja, das ist sie. Und wie ich sie ablade, – da stehen ein paar Musikanten. Die geben mir alle die Hand und meinen, ich bin der neue Pauker. Dann sagen sie mir, dass ich heute früh Probe habe. Und nun bin ich da.
DIRIGENT
Früher war doch in diesem Orchester der Hellsinn. Das Geld ist doch abgeschafft. Warum paukt er denn nicht wieder?
BAUER
Ja, ich weiß auch nicht.
DIRIGENT
Ja, dann wollen wir’s mal probieren.
BAUER
Ja, ich freu mich ja schon die ganze Nacht aufs Pauken. Ich fürchte halt nur, dass mir gewisse Fachkenntnisse abgehen könnten.
DIRIGENT
Das werden wir sehen. (Geht zum Pult, schlägt die Partitur auf.)
BAUER
(Geht zum Platz des Paukers.)
DIRIGENT
(Beginnt ein unhörbares und – bis auf den Pauker – unsichtbares Orchester zu dirigieren.)
HELLSINN
(Wird beim ersten “Ton” aufmerksam und geht in die Nähe des Dirigenten. Das Interesse am Radio schwindet.)
XIX, 5
EMPORE
(Kommt. Sieht den Würfelbechermann, geht schnell und froh zu ihm hin.) Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
(Ist schon ziemlich in den Drähten verwickelt.) Ah, Empore. Grüß dich.
EMPORE
Was tust du denn da?
WÜRFELBECHERMANN
Ich installiere das Radio wegen der Sportnachrichten, weil ich doch gewettet habe.
DIRIGENT
(Klopft ab.) Triolen, Paukerle, Triolen in D. Nochmal Nummer 9. (Dirigiert.)
EMPORE
Haben wir nichts anderes zu tun?
WÜRFELBECHERMANN
Das läuft doch nicht weg. Aber die Nachrichten laufen weg. Radio ist unerbittlich.
EMPORE
Glaubst du, nur das Radio ist unerbittlich?
BAUER
(Hat auf einen deutlichen Einsatz des Dirigenten wild gepaukt.)
DIRGENT
(Klopft ab. Etwas ungehalten:) Erstens Triolen, lieber Pauker, zweitens in D. Bambaba – bambaba – bambaba – ba. Also noch mal Nummer 9. (Dirigiert.)
EMPORE
Ich habe Angst vor deinem Radio.
WÜRFELBECHERMANN
(Mitleidig:) Aber Empore.
EMPORE
Ich kenne mich nicht damit aus.
WÜRFELBECHERMANN
(Ein bisschen angeberisch:) Na, dann verlass dich in diesem Fall mal ausnahmsweise ganz auf mich.
BAUER
(Hat wieder wild gepaukt.)
DIRIGENT
(Klopft wütend ab.) Triolen, du Pauker. Kennst du denn keine Noten?
BAUER
Nein.
DIRIGENT
Und du bildest dir ein – ?
BAUER
Ich bilde mir gar nichts ein. Das Ganze ist ein Unglücksfall. Werd du nicht laut, weil ich keine Noten kenne. Sonst frag ich dich, wie man eine Kuh melkt.
DIRIGENT
Das weiß ich nicht.
BAUER
Na, alsdann.
DIRIGENT
Ich weiß nur, dass du nicht pauken kannst.
BAUER
Ich will auch gar nicht mehr. (Kommt zum Dirigentenpult.)
HELLSINN
Verzeihung, lieber Dirigent.
DIRIGENT
(Dreht sich um, erkennt ihn und will ihm erfreut die Hand drücken.) Mein lieber Hell – (Sieht das Kreuz, zieht die Hand zurück.)
HELLSINN
Könnte ich nicht aushelfen?
DIRIGENT
Ich schätze deine – äh, Ihre Fähigkeiten, aber –
HELLSINN
(Schaut auf sein Kreuz.) Ach so. (Geht zu Empore.) Empore, bitte nimm mir das ab.
EMPORE
Warum?
HELLSINN
Ich muss arbeiten, pauken.
EMPORE
(Nimmt ihm das Kreuz ab.)
HELLSINN
(Atmet erleichtert auf und rennt zum Dirigenten.) Und nun?
DIRIGENT
(Schüttelt ihm die Hand.) Ich freue mich sehr. (Zum Bauern:) Nichts für ungut, lieber Bauer.
BAUER
Aber! Alles für gut, lieber Dirigent. Es war mein Fehler. Ich habe geglaubt, das macht Spaß. Meine Kühe warten. (Gibt Hellsinn die Schlägel und geht.)
HELLSINN
(Rennt zum Platz des Paukers.)
DIRIGENT
Wir beginnen noch einmal von vorne. (Dirigiert.)
HELLSINN
(Paukt zuweilen, glücklich und sachlich, die Härte der folgenden Szene manchmal wirksam kommentierend.)
XIX, 6
WÜRFELBECHERMANN
Was machst du denn jetzt mit dem Kreuz?
EMPORE
Soll ich dich verhaften?
WÜRFELBECHERMANN
Mich? Wieso denn?
EMPORE
Aber hier haftet es wohl besser. (Befestigt es am Radio.)
FRAU HELLSINN
(Ist mit einem Netz voller Zitronen gekommen. Sieht Hellsinn und Empore. Rennt zu Empore.) Empore! Hast du’s ihm abgenommen?
EMPORE
Ja. Er bat mich darum. Er müsse arbeiten, pauken. Und da unsere gemeinsame Arbeit sowieso getan ist –
FRAU HELLSINN
(Unterbricht: ) Ja, nachher, entschuldige. Ich muss ihn pauken hören. (Setzt sich beim Dirigenten und hört zu.)
WÜRFELBECHERMANN
Halte doch bitte mal diesen Draht hier.
EMPORE
(Entschieden:) Nein.
WÜRFELBECHERMANN
(Schaut sie etwas verwundert an.) Na schön. Ich hab’s nämlich gleich, und dann ist alles vorbei.
EMPORE
Alles vorbei?
WÜRFELBECHERMANN
Ich meine, wenn ich die Sportnachrichten gehört habe. Wir müssen ja dann nicht gleich abstellen. Vielleicht kommt noch eine hübsche Musik. Ich kenne Leute, die hören sich den ganzen Tag allen Quatsch an, bloß weil sie hoffen, dass irgendwann einmal was Schönes kommt. Hoffnung ist die ewige Nahrung des Radiohörens.
EMPORE
Als du dein Geld abgeben wolltest, warst du mir näher.
WÜRFELBECHERMANN
Da waren die Sportnachrichten auch weiter weg.
EMPORE
Bei uns wird nicht viel Radio gehört.
WÜRFELBECHERMANN
So ‘ne Errungenschaft sollte allen zugute kommen. Da waren wir ja schon weiter.
EMPORE
Vielleicht. Aber gewiss nicht näher.
WÜRFELBECHERMANN
Außerdem könntest du mir ruhig anrechnen, dass ich dich vorhin von Hellsinns Verfolgung befreit habe.
EMPORE
Anrechnen? Gute Taten taugen nicht fürs Rechenheft.
WÜRFELBECHERMANN
Ich hab’s!
XIX, 7
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt mit einem Megaphon und liest einblendend und ohne Unterbrechung fortfahrend:) {die neuesten Nachrichten}
EMPORE
(Hört unangenehm berührt zu.)
WÜRFELBECHERMANN
(Kommentiert erstaunt eine Nachricht:) Wann? Das ist ja – (Bricht ab.)
EMPORE
Was ist denn?
WÜRFELBECHERMANN
(Ungehalten:) Sei doch still! (Sich nervös entschuldigend:) Nachher.
EMPORE
(Nach einer Pause:) Bitte tu das weg, Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
EMPORE
(Wieder nach einer Pause. Etwas stiller und schwächer:) Es tut mir weh.
WÜRFELBECHERMANN
(Gereizt-geduldig:) Liebes, jetzt kommen gleich die Sportnachrichten. Du könntest wirklich ein bisschen Rücksicht – (bricht – von der Nachricht wiederum gefesselt – ab.)
EMPORE
(Ist zusammengesunken, lallt in größter Schwäche:) Ich habe Rück – sicht genommen. (Fällt vom Podest, Radio und Drähte mit dich reißend.)
WÜRFELBECHERMANN
(Ruft:) Empore! Vorsicht!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Bricht ab und geht.)
WÜRFELBECHERMANN
(Aufgescheucht und durcheinander:) Empore! Das ist doch – Empore! Die Sport – (Sucht sie.) Wo bist du denn? (Ruft dem ziemlich seriösen Herrn nach:) Hallo, Empore! Was soll das denn? (Rennt weg.)
XIX, 8
DIRIGENT
(Hat die Schlusstakte dirigiert.)
HELLSINN
(Kommt vor.)
DIRIGENT
(Verabschiedet sich vom “Orchester”:) Ich danke euch. Bis morgen. (Geht mit Taktstock und Partitur.)
HELLSINN
(Zu seiner Frau:) Hellsinnige, wofür hast du denn die vielen Zitronen gekauft?
FRAU HELLSINN
Ich will Zitronenspeise machen.
HELLSINN
Darf ich den Topf auslecken?
FRAU HELLSINN
Nein. Ich nehme dich wieder in volle Verpflegung.
BEIDE
(Gehen eingehenkt ab.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XX
WÜRFELBECHERMANN und DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommen im Gespräch.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich beschwöre Sie also!
WÜRFELBECHERMANN
Ja doch!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Es ist die letzte Chance. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Der geht mir langsam auf die Nerven. Aber in einem Punkt hat er recht: Es ist die letzte Chance, Ihnen, meine Damen und Herren, etwas zu sagen, was ich bisher verschwiegen habe. Aber nun muss es heraus, denn das Stück geht unweigerlich seinem Ende entgegen.
In Israel gibt es Farmen, auf denen das Geld abgeschafft wurde. Diese Gemeinden leben in strenger Zucht, etwa so, wie wir uns das mit Empore und Hellsinn vorzustellen versuchten. Dort wurde aus der Möglichkeit also bereits Realität. Auch wir würden Ihnen dieses Stück Theater gerne vorspielen, ohne einen Pfennig zu verlangen. Leider aber steht das Ministerium für Geldabschaffung in Bonn aber noch nicht auf der Tagesordnung. Aber wir wollen erste Schritte machen. Deshalb haben wir kein Eintrittsgeld verlangt. Bei uns soll der Arme soviel Anspruch auf einen guten Platz haben, wie der Reiche. Unser Stück soll nicht gekauft werden, wie die Katze im Sack, auch nicht wie die Katze ohne Sack. Wenn man für eine Eintrittskarte Geld bezahlt, so kann man sich selbstzufrieden hinsetzen, und mit fug und recht “Ware” verlangen. Diesen Warencharakter wollten wir dem Stück nehmen. Wir können allerdings nicht verhindern, dass wir wie Bänkelsänger dastehen, wenn wir zum Schluss um den Obolus bitten. Dessen Höhe richtet sich nach Ihrer Wertschätzung. War Ihnen dieses Theaterstück keinen Groschen wert, so geben Sie neun Pfennige, war es Ihnen ein Opfer wert, so bringen Sie ein Opfer.
***
XXI – Modesalon
/Geschmackvolle, großstädtische, gespenstische Eleganz. Samtportieren, vollkommen leere, schöne Auslageschränke. Auf dem Ladentisch eine Registrierkasse, dahinter der ausgezeichnet gekleidete VERKÄUFER. Eine Schlange Frauenpuppen mit verrückten Hüten und rassigen Handtaschen steht vor der Kasse./
XXI, 1
VERKÄUFER
(Betätigt die Kasse, gibt der ersten Puppe einen Zettel.) Bitte, gnädige Frau. Vielen Dank. Sie kommen gleich dran. Der Rest geht wie vereinbart an Ihre Erben.
WÜRFELBECHERMANN
(Geht zum Verkäufer.)
VERKÄUFER
Verzeihung, mein Herr, aber dies ist ein D a m e n salon.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich wollte auch nur einige Fragen stellen.
VERKÄUFER
(Misstrauisch:) Ich weiß Bescheid. (Laut:) Meine Damen. Bitte seien Sie unbesorgt. Dies ist zwar ein verbotenes Unternehmen, aber die Geschäftsführung hat alle Vorsorge getroffen, dass Sie von einer Razzia nicht behelligt werden können. Im Falle der Gefahr löse ich eine Bombe aus, die den ganzen Salon in die Luft sprengt. (Zum Würfelbechermann:) Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wieso nicht?
VERKÄUFER
(Erstaunt:) Ja, sind Sie denn nicht von der Polizei?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
MNISTERGATTIN
(Kommt zum Verkäufer.)
VERKÄUFER
Ah, guten Tag, gnädige Frau Minister. Nun? Hat das letzte Stündlein geschlagen? Hat’s keinen Sinn mehr?
MINISTERGATTIN
Ich werde doch noch dran kommen?
VERKÄUFER
Selbstverständlich, gnädige Frau. Nur muss ich Sie leider bitten, sich hinten anzustellen.
MINISTERGATTIN
Natürlich. (Stellt sich ans hintere Ende der Puppenschlange.)
WÜRFELBECHERMANN
Darf ich also fragen?
VERKÄUFER
Bitte!
WÜRFELBECHERMANN
Also: Was ist das für ein Unternehmen?
VERKÄUFER
Sie befinden sich im ersten Haus am Platze. Der Modesalon für die obere Gesellschaftsschicht, stets bemüht, die Dame erstklassig zu bekleiden und – (Lächelt.) in der Abendgarderobe zu entkleiden.
WÜRFELBECHERMANN
Aber hier ist doch nichts!
VERKÄUFER
Wir haben Krieg, mein Herr. Und der vergangene Frieden war so kurz, dass eine Wiedereröffnung der Konfektion nicht lohnend erschien. Wir hatten den Frieden über geschlossen und haben heute erst mit Kriegsausbruch wieder aufgemacht.
WÜRFELBECHERMANN
Und was verkaufen Sie jetzt?
VERKÄUFER
Morde, die Mehrzahl von Mord. Garantiert schmerzlos, hygienisch und sicher. Eine Erfindung des Seniorchefs. Im vorletzten Weltkrieg eingeführt, hat sich seither bestens bewährt. Die Damen der oberen Gesellschaftsschicht, die den Mut zum Selbstmord nicht finden, wenden sich vertrauensvoll an uns, und wir töten sie nach den neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften in nahezu technischer Vollendung.
WÜRFELBECHERMANN
Und – wie?
VERKÄUFER
(Lächelt.) Das ist natürlich Geschäftsgeheimnis. Da man sich aus politischen Gründen weigert, das Verfahren zu patentieren, kann ich darüber leider keine Auskunft geben. Aber Sie können um das Haus herumgehen: Sie hören keinen Schmerzensschrei. Auch Blutspuren sind nicht zu finden. Ein Beschwerdebuch liegt aus, aber keine unserer werten Kundinnen hat es bisher benutzt. (Gibt ihm eine Geschäftskarte.) Darf ich Ihnen vielleicht ein Kärtchen überreichen, für die Frau Gemahlin und den weiblichen Bekanntenkreis. Mit den besten Empfehlungen.
WÜRFELBECHERMANN
Und das Geschäft geht gut?
VERKÄUFER
(Deutet auf die Schlange:) Zuerst nahmen wir 80, heute können wir 2500 pro Tod verlangen. Leider fehlt es uns an der gemäßen Unterhaltung. Wir hatten Jazzmusik, aber die Kundinnen verlangten mit einem gewissen Recht etwas dem Anlass entsprechend Ernsteres.
WÜRFELBECHERMANN
Da wüsste ich jemanden.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Stürzt vor.) Das ist mein Stichwort. Ich habe alles gehört. (Zum Verkäufer:) Mein Herr, ich zitiere Goethe.
VERKÄUFER
Großartig. Stellen Sie sich dort an die Wand und fangen Sie gleich an.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Stellt sich auf den angegebenen Platz und rezitiert im folgenden sein Gedicht – bis zum Ende!)
XXI, 2
AT 621
(Kommt zum Verkäufer, will ihm Geld geben.)
MINISTERGATTIN
Hinten anstellen.
VERKÄUFER
(Hochmütig zu AT 621:) Was wollen Sie denn hier?
AT 621
(Reicht wieder scheu das Geld hin:) Einmal bitte.
VERKÄUFER
(Misst sie von oben bis unten.) Das kostet 2500. So viel werden Sie wohl nicht haben. Sie befinden sich in einem Salon für die Oberschicht.
AT 621
Doch, ich habe so viel.
VERKÄUFER
(Schlägt um.) Oh, dann selbstverständlich, gnädige Frau. Ich muss Sie nur leider bitten, sich hinten anzustellen. Am Tag des Kriegsausbruchs ist immer besonderer Andrang.
MINISTERGATTIN
Das Bettelweib soll sich hinten anstellen
AT 621
Bettelweib? Ich kann mir für mein Geld kaufen was ich will. Alte Zicke.
MINISTERGATTIN
Miststück.
AT 621
Scheißhure.
VERKÄUFER
(Ruft beschwichtigend:) Aber meine gnädigen Frauen! Wir wollen doch hier keinen Streit mehr anfangen! Bedenken Sie, an wessen Schwelle Sie stehen! Wir haben durchgehend geöffnet, Tag- und Nachtdienst. Sie kommen alle dran.
AT 621
(Stellt sich hinter die Ministergattin. Grummelnd:) Bettelweib…
MINISTERGATTIN
Es war ja nicht so bös gemeint, Kindchen. Schließlich ist jeder neugierig und will keinen vorlassen.
XIX, 3
MINISTER
(Kommt und sucht seine Frau.)
MINISTERGATTIN
Was willst du denn?
MINISTER
Ach, da bist du ja, Gott sei Dank! Komm. Ich brauche nicht mehr Soldat werden. Stell dir vor: Der Kommandeur war eine uralte Beziehung von mir. Er hat mich gleich in den Aufsichtsrat einer der Fabriken gesteckt, die die neue Geheimwaffe produzieren. Also komm.
MINISTERGATTIN
Nein. Es ist eine uralte Weisheit, die dir jede Hausfrau bestätigen wird. Wenn man einmal in einer Schlange steht, soll man unter keinen Umständen weggehen.
VERKÄUFER
(Vermisst ein Geräusch.) Was ist denn bloß? Da fehlt doch was.
WÜRFELBECHERMANN
Goethe.
VERKÄUFER
Richtig. (Zum ziemlich seriösen Herrn:) Warum schweigen Sie?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Na, ich bin fertig.
VERKÄUFER
Immer gleich wieder von vorn. Wofür wollen Sie sich denn bezahlen lassen? Und drehen Sie mal den Kopf zur Wand. Es war ein bisschen laut.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tut alles, was ihm geheißen.)
MINISTER
Also bist du fest entschlossen?
MINISTERGATTIN
Ja.
MINISTER
Dann will ich auch nicht mehr leben. (Geht zum Verkäufer.) Sagen Sie: – (Flüstert.)
VERKÄUFER
Tja, mein Herr, das ist aber ein D a m e n salon.
MINISTER
Ja, ja, ich weiß, aber – (Flüstert wieder, gestikuliert und schmiert.)
VERKÄUFER
(Zuckt die Achseln.) Tja, das ist sehr schwer, mein Herr. An sich distanziert sich unser Unternehmen prinzipiell von dergleichen dunklen Geschäften. (Schaut das Schmiergeld an:) Aber, in diesem Falle wird es sich wahrscheinlich ermöglichen lassen. Sie wollen zusammen sterben; das ist schließlich zu verstehen. Bitte warten Sie doch dort drüben.
MINISTER
(Wartet.)
WÜRFELBECHERMANN
(Geht nach einer langen Pause langsam zu AT 621.) Nun?
AT 621
Warum sprechen Sie mich jetzt an? Jetzt hat es für niemanden mehr Sinn.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, da haben Sie eigentlich recht. (Geht woanders hin.)
VERKÄUFER
(Nach einer kleinen Pause.) Meine Damen, lassen Sie sich doch ein wenig schunkeln. (Zum ziemlich seriösen Herrn:) He, Sie!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Unterbricht seine Rezitation.) Bitte?
VERKÄUFER
Sprechen Sie doch mal so, dass man dazu schunkeln kann.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tut, wie ihm geheißen.)
ALLE
(Sprechen leise das zerhackte Gedicht und schunkeln dazu. Auch die Puppen schunkeln.)
/Es klingelt./
VERKÄUFER
So, die nächsten vier Damen bitte.
XXI, 4
POLIZIST
(Kommt.) Halt, Razzia!
VERKÄUFER
Meine Damen, Sie wissen Bescheid. Keine Aufregung!
POLIZIST
Ist das hier der berüchtigte Modesalon?
VERKÄUFER
(Aggressiv:) Es ist der berühmte Modesalon. Und ich rate Ihnen, so schnell als möglich zu verschwinden.
POLIZIST
Verhaftet wegen Drohung gegen die Staatsgewalt. (Zur Ministergattin:) Verhaftet wegen Fahnenflucht.
MINISTER
(Schüchtern:) Erlauben Sie mal –
POLIZIST
Auch verhaftet.
MINISTERGATTIN
(Zu ihrem Mann:) Popanz bis in den Tod.
POLIZIST
(Zu AT 621:) Verhaftet wegen Leichenfledderung. Alles verhaftet. Ich werde befördert.
VERKÄUFER
Jawohl, Sie werden befördert, Herr Wachtmeister. (Zündet die Bombe an.) Fürchten Sie nicht, meineDamen: die Zündschnur brennt.
POLIZIST
Was?
WÜRFELBECHERMANN
Moment! Lassen Sie mich raus.
POLIZIST
Verhaftet.
VERKÄUFER
Meine Damen,- ich bitte um Entschuldigung wegen Massenabfertigung.
/Eine Explosion begräbt Menschen und Puppen unter den Trümmern des Modesalons. Vorhang bleibt auf./
***
XXII – Epilog
/Die Darsteller stehen auf, klopfen sich Staub aus den Kleidern und gehen ab, bis auf Charlotte und mich. Wir gehen nach vorn und sprechen den Epilog. Er ist bis zur Entdeckung der Waage kein Dialog./
ICH
Das Theater ist aus. (Deute nach hinten.) Die Trümmer sind ein wirksamer Schluss.
CHARLOTTE
Das Theater ist aus, nicht das Stück. Das hört nicht auf. Denn immer wieder liegen die Möglichkeiten vor uns.
ICH
Hinter uns liegt der Modesalon, liegt die Versöhnung des Paukers Hellsinn mit seiner Frau.
CHARLOTTE
– Hängt unerlöst das Schicksal des Würfelbechermanns, wie ein Luftballon in einem Baum.
ICH
Man hätte natürlich einen anderen Schluss dichten können. Der Würfelbechermann hätte in den Armen Empores zu reiner Menschlichkeit finden können.
CHARLOTTE
Das Radio des Würfelbechermanns hat Empore von dem Podest gestoßen.
ICH
Man hätte diesen Sturz symbolisieren sollen. (Mit einem Schuss Ironie:) Empore, Inkarnation der Zukunft, opfert sich, um der leidenden Gegenwart, verkörpert im Würfelbechermann, zu helfen.
CHARLOTTE
Wir sollten also noch ein Stückchen dichten, wie Würfelbechermann und Empore zusammenkommen, aber unsymbolisch.
ICH
Unsymbolisch? Dann würde das Stückchen länger werden, als das Stück, viel länger als unsere Theatergeduld, ja vielleicht länger als unser aller Leben.
CHARLOTTE
Es ist nicht zu spielen, nicht zu dichten.
ICH
Dieses Stückchen Liebe müssen wir alle miteinander leben.
CHARLOTTE
Heute damit anfangen.
ICH
Nie damit aufhören, solange Zeit und Raum d i e s e r Welt unsere Grenzen sind.
CHARLOTTE
Nie aufhören … (Entdeckt die Waage.)
Was liegt auf der Waage?
ICH
In diese Schale (die niedrigere) hat der Würfelbechermann Wohnküche, Angst, Einberufung und Willkür getan; in die andere Geldabgabeschalter, Papierkorb, Verständnis und Verhaftung mit dem Kreuz. Da ist es leichter.
CHARLOTTE
Dann können wir dem Stück doch noch einen Schluss geben. (Flüstert etwas in die leichtere Schale: die Waage gleicht sich aus.)
ICH
Was hast du getan?
CHARLOTTE
Ich habe die Liebe dazugeflüstert.
ICH
Ist sie so schwer?
CHARLOTTE
Die Liebe ist eine Last, und wir Würfelbecherleute müssen sie auf uns nehmen.
WIR
(Gehen langsam ab.)
*****