Henriette Gusič – Teil 1

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Henriette Gusič

von

Peter Podehl

Als bei der Auflösung des Flüchtlingslagers Hohentwil im Herbst des Jahres 1952 die große Mittelbaracke abgerissen wurde, fand ein Arbeiter hinter einem der Holzbetten festgeklemmt ein sehr verstaubtes ledergebundenes Buch. 

        In goldenen Lettern und in kyrillischer Schrift stand darauf MEIN KOCHBUCH. Die Sprache erwies sich als Bulgarisch. Es enthielt keinerlei Rezepte, sondern in gerader, sehr sympathischer Handschrift ein Tagebuch aus dem kommunistischen Bulgarien. Dort diente der irreführende Aufdruck gewiss oft zur willkommenen Tarnung der Eintragungen. Es ließ sich nicht – auch von Experten nicht – feststellen, ob das Buch im Lager vergessen oder vielleicht mit der Absicht versteckt worden war, dass es eines Tages in fremde Hände falle oder gar veröffentlicht werde.

        Der Titel ist eine ironische und zugleich tief demütige Erfindung der Verfasserin selbst. Auf der ersten Seite des Buches stehen in recht flüchtiger Bleistiftschrift die Worte

        DIE SELTSAME KARRIERE DER

und darunter mit Tinte und offensichtlich viel früher in angestrengter Schülerinnenhandschrift geschrieben der Name 

        HENRIETTE  GUSIČ

Sie selbst gibt dazu am Ende ihres Tagebuches eine Erklärung.

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Sofia, am Mittwoch, den 14.9.1947

Man nehme?…

Nein, ich bin überhaupt nicht der Typ, der Rezepte sammelt oder gar aufschreibt. Das Buch habe ich zu meinem 14. Geburtstag von meiner Tante Jelana bekommen. Ich erinnere mich, dass ich sehr stolz war und fest entschlossen, es ordentlich zu füllen mit den Rezepten zu den wunderbarsten, schmackhaftesten Gerichten der bulgarischen Küche. Ich träumte ziemlich bürgerlich von einer Familie mit vielen Kindern. Ich trug Zöpfe.

Dazu passt der tiefschmerzliche Anlass, dieses Tagebuch zu beginnen: Gestern hat mir der Gynäkologe gesagt, dass ich keine Kinder mehr kriegen werde. Klingt, als hätte ich schon viele. Nein, ich habe keine Kinder. Ich muss weiter verhüten, denn eine Schwangerschaft wäre mit höchst gefährlichen, ja, lebensgefährlichen Risiken verbunden. Wer muss verhüten? Doch der Mann!

Lange, sehr lange habe ich am Küchentisch gesessen, der Kopf hing herunter, die Augen waren geschlossen. Nein, nicht geweint, eher vertrocknet. Der Gedanke, nicht mehr leben zu wollen, kam und ging, zeitweise sehr intensiv. Froh war ich, dass Jon nicht klingelte.

Ach, da sind diese wohlfeilen, schnellen Beschwichtigungen: Du bist eben eine Künstlerin, du brauchst gar keine Kinder, lebe dein Leben, erfreue die vielen Menschen mit deiner Kunst, mache sie lachen und weinen, sei nicht so unersättlich, wolle nicht Alles. Geh mit Jon ins Bett, so oft du willst und basta. Warum kann ich nicht im Großmutteralter die Großmutter spielen, die ich nun nie und nimmer sein werde? Jaja, feine Beruhigungen, die samt und sonders ins Klo abstürzen. Ich muss nur noch Wasser lassen. Aber sie verschwinden ja nicht. Und ist denn das Alles wirklich so abschätzig wohlfeil? Kann ich nicht aufrecht stehen und gehen und diesen Packen tragen. Er ist nicht unerträglich. Klingt wunderbar, ist Scheiße. Selbstmord bleibt angesagt. Das einfach so hinzuschreiben…

Kochen? Nein, kann ich nicht, will ich nicht. Muss jeder Mann sich mit abfinden. Ich esse in der Theaterkantine einigermaßen preiswert, nicht sehr gut, oder im Hotel Majestic, sehr teuer, sehr gut.

Jon heiraten? Nicht doch. Er ist kein Mann. In meinen Augen. Es geht mir sehr gut mit ihm, wenn er mich streckenweise in Ruhe lässt, streckenweise auch sehr lange. Er akzeptiert meine diesbezüglichen Wünsche. Es ist bezeichnend, wie wir zusammenkamen: Er übertölpelte mich mit einer seiner kleinen Sottisen: Er führte Regie in einer Inszenierung, in der ich einen Kerl zu verführen hatte. Jon fand das bis dahin zu trocken, zu blass, zu langweilig, zu provinziell, – plötzlich sagte er: „Mädchen, lass den Schoß dampfen.“ Das traf die Situation so präzise, dass wir erst sehr viel später darüber lachten und zusammenkamen.

Was fehlt ihm eigentlich zu einem Mann, den ich heiraten könnte? Er ist fast sieben Jahre jünger als ich. Aber das ist es nicht. Wenn er väterlicher wäre. Was soll denn das für ein Einwurf sein? Väterlicher zu mir, das Jüngelchen? Halt! Mit so einer Titulierung tue ich ihm Unrecht, ihm und unserer Beziehung. Aber das ist mir ja in die Feder geschlüpft, muss ja vorhanden sein in irgendeinem Seelenkämmerlein an der Peripherie. Sehnsucht nach einem Mann, zurückhaltend, leidenschaftlich, provozierend, sanft, klug, witzig – Heiratsannonce. Ich bin nun mehr denn je ans Theater gefesselt, der Traum von der Familie fing schon vor ein paar Jahren an zu verblassen. Nun ist er gestorben.

Jon kann wunderbar sein. Er ist ein ganz erstaunliches Regietalent, fast immer präsentiert er Erfolge, manchmal auch schrecklichen Mist. Aber eher, wenn ich nicht mitspiele. Er ist nicht immer ganz lupenrein, wenn es um den sozialistischen Realismus geht. Wir sprechen sehr wenig über Politik, schon gar nicht über Kulturpolitik, obwohl es genug Anlass gäbe. Wir reden, manchmal stundenlang, über Theater und Theaterkunst. Getrennte Wohnungen, und das soll so bleiben. Er arbeitet mit hoher Konzentration und großem Fleiß an seinen Regiebüchern. Ich lerne Texte, das passt nicht zusammen.

Ich muss ins Bett. Morgen Generalprobe: Widerspenstige, ein mir seit jeher fragwürdiges Stück von Shakespeare. Aber Jon hat es hinreißend inszeniert. Die Hauptprobe heute lief wider Erwarten gut. Es ist wohl der letzte Zeitpunkt, dass ich noch dieses Kätchen spielen kann.

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Sofia, am Donnerstag, den 15.9. 1947

Sehr ermüdende Generalprobe. Es gab viele technische Pannen, völlig unerwartete. Jon sprach gar von Sabotage. Aber nur mir gegenüber. Der Intendant war mit der Musik nicht einverstanden. Das sind diese Sachen, die man wirklich früher besprechen kann. Naja, der alte Theateraberglaube möge bestehen bleiben: Wacklige Generalprobe, großer Premierenerfolg. Ich hätte so sehr gerne zügig durchgeprobt. Kätchen ist heikel. Nirgendwo steht, was dieses Mädchen veranlasst, den doch an der Grenze zum Widerlichen operierenden Petruchio zu lieben, was? Morgen ist Premiere – und ich weiß es nicht. Und wo kommt dieser Umschwung zum männeranbetenden Weib her, woher? Nun ja, ich habe genug Rauschegold in meiner Seele, um das morgen bravourös zu spielen. Jon ist ausgewichen, wenn ich ihn danach gefragt habe.

Er hat das Skakespearsche Manko, dass die schlimme, hinreißend schöne Trauungsszene nicht gespielt, sondern als Botenbericht erzählt wird, sehr amüsant ausgeglichen, indem er sie parallel zur Erzählung als Pantomime in Szene gesetzt hat. Es ist kein gutes Lustspiel. Wer bin ich, den alten William so madig zu machen? Eine Schauspielerin, die immer Fressen sucht, Beute, ich brauche Futter, das ich verschlingen kann. Kätchen wird aus einer großen Männerverächterin zu einer großen Männeranbeterin. Wieso? Lass das Fragen, spiele! Jaja, schon gut, mach ich ja!

Der Chef probt am Großen Haus einen ziemlich entsetzlichen Propagandaschinken. Hört man so durchs Haus schwirren. Ich meine: dass er entsetzlich ist. Ich glaube, er war froh, heute zu unserer Generalprobe zu müssen und an der Musik rummäkeln zu dürfen. Ich will den Chef hoch loben und tief den Hut vor ihm ziehen: ich werde mit solchen Propagandaschinken weitestgehend verschont. Da spielt immer die Slanska, die in der Partei ist, die Hauptrollen.

Wir alle sind kommunistenfreundlich, weil wir uns nicht vorstellen können, dass nur das Geld die Welt regiert, der Kapitalismus hat abgewirtschaftet. Wir alle sind mehr oder weniger regimekritisch, weil so viel riesiger Unsinn verzapft wird. Die Gerechtigkeit ist bei den Kommunisten nicht mehr in guten Händen. In der Sekunde, in der sie absolute Ansprüche stellen, verraten sie ihre Idee auf das Schändlichste. Eine Schauspielerin sucht immer den Dialog, auch in der Politik. Findet sie keinen, steht sie mutterseelenallein in der Wüste. Ja, die Politik beschweigen – das geht ziemlich lange sehr gut. Möge es so bleiben!

Ich muss ins Bett. Wir machen morgen früh noch die bekannte – ich weiß gar nicht, wie bekannt die ist – Durchsprechprobe. Da wird der Text ganz locker runtergebrabbelt, Jon gibt noch ein paar letzte Hinweise. Wer will, kann auch ganz normal proben. Wer will – mancher kann das gar nicht: Text wegquatschen. Und dann bitte überhaupt nicht mehr an die Widerspenstige denken. Und sie am Abend wunderbar spielen…

Sofia, am Freitag, den 16.9.1947

Ich habe im Publikum eine sehr sehr große begeisterte Anbetungsgemeinde. Sie haben mir heute wieder ihre Liebe in lautstarken Beifallsorgien und Ovationen zu Füßen gelegt. Man nennt das einen rauschenden Erfolg. Die Menschen haben in diesem Land wenig zum Anbeten. Sie haben mit einem garstigen Alltag zu kämpfen, auch mit Hunger und mit der Kälte im Winter. Sie strömen ins Theater, wo sie eine Nahrung aus lauter Wundern bekommen. Und die soll satt machen? Ja! Nicht den Magen, den natürlich nicht.

Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass es in Amerika und England, auch Frankreich eine neue Literatur gibt, vielleicht auch in Deutschland, von der wir keine Ahnung haben. Die wird von offizieller Seite kaum zur Kenntnis genommen, das wird als dekadentes Zeug abgetan. Was natürlich ein Unding ist. Stimmt nicht so ganz genau, französische Kommunisten sind natürlich sehr willkommen, gibt da dieses Allgemeinwort ‚Fortschrittlich‘. Aber bis sowas unsere Bühnen erreicht – da vergehen Jahre. Ich wäre neugierig, dergleichen zu lesen und zu spielen. Müsste ja aber erst mal ins Bulgarische übersetzt werden.

Durchlaufprobe soll leben. Dieser völlig unverkrampfte Umgang mit dem Text weckt an manchen Stellen noch neue Impulse der Gestaltung. Klingt pathetisch, ist gar nicht so gemeint. Wir haben auch viel gelacht. Bis ich schon Angst kriegte, wir könnten zu leichtherzig werden. Was Jon unter anderem auszeichnet: Er inszeniert interpretatorisch, dem Zuschauer zum Vergnügen, er nimmt ihn an der Hand. Es gibt also keinerlei Verstehensschwierigkeiten. Die Leute müssen sich nicht den Kopf zerbrechen über intellektuelle Einfälle, was die denn bedeuten könnten. Wer ruft da ‚geheimnislos‘? Quatsch! Selbst wenn es überkandidelte Einfälle sind – sie folgen einsehbaren Mustern.

Premierenfeier in der Hochhausbar im Majestic. Zuerst meine Lüge: Ich mag diese Feiern nicht. Sodann meine Wahrheit: Es ist doch wunderbar, gefeiert zu werden und zu feiern. Mit der Lüge gehe ich gerne hausieren, die Wahrheit weiß eigentlich nur Jon. Auf so einer Feier mehr oder weniger alle Kollegen, aber auch viel Volk, sofern es sich die Preise im Majestic leisten kann.

Noch ein letzter Applaus, wenn ich den kleinen Saal betrete. Nicht wahr, die Frau Hauptdarstellerin muss doch erst aus dem Kostüm raus und sich abschminken und ein bisschen verschnaufen. Sie kommt, wenn alle anderen schon da sind. Macht sich doch gut, so durch ein wusliges Spalier bewundernder Menschen zu gehen. Zweifel, ob ich dergleichen aufschreiben soll.

Ich hab auch getanzt. Unter anderem mit einem sehr gut aussehenden Mann, angegrautes Haar, Blitzeaugen, schlank, alles andere als ein Prolet. Ich fühlte vor dem Tanz seinen Blick mehr als einmal auf meiner nackten Schulter. Sehr behutsam begannen wir beim Tanzen, über Politik zu sprechen, ein Freund und Verteidiger des Regimes ist er jedenfalls nicht, aber vorsichtig. Er gab sich nicht zu erkennen, was eigentlich zum Guten Ton gehört hätte. Unser Tanz war sehr kurz.

Ist denn Jon wahnsinnig geworden? Plötzlich eifersüchtig, das kann er doch nicht machen! Er nähert sich uns Tanzenden und klatscht ein wenig in die Hände und schon fasst er mich zum Weitertanzen. Er erreicht das Gegenteil von dem, was er eigentlich will: Nun habe ich Sehnsucht nach meinem unbekannten Tänzer. Ich möchte ihn gerne wiedersehen. Wo ist er? Weggegangen, ziemlich ostentativ, als dieser Kubelik, unser neuer Chefdramaturg, eine saublöde Rede hält, des Inhalts, dass die Widerspenstige ein Stück des sozialistischen Realismus sei. Das habe Jon mit seiner Inszenierung bewiesen. Große Elogen Kubeliks für mich, die mir aber eher wehtaten. Mittendrin ruft mein Tänzer unziemlich laut: „Zahlen!“ und verschwindet, ohne noch einmal Blickkontakt mit mir zu suchen.

Kubelik wurde später in einem Gespräch ziemlich massiv und mir sehr unangenehm: „Auf der Liste der Kandidaten zum Parteieintritt, die ich sehr gut kenne, vermisse ich Ihren Namen.“ Was sollte ich sagen? „Eine mehr oder weniger, Genosse Kubelik. Ich denke, man kennt meine Sympathie für die Weltanschauung.“ – „Als ob es um Sympathie und Weltanschauung geht. Ich werbe um Ihre Liebe für die Partei, wie Petruchio um Kätchen. Wenn Sie dazugehören, dann bekennen Sie sich auch zu uns.“ – „Ich weiß nicht, ob diese Premierenfeier der richtige Ort für dergleichen unsittliche Anträge ist. Ich zweifle sehr.“ – „Verehrte Henriette  Gusič, das Wort von den unsittlichen Anträgen kann doch nur ein Scherz sein.“ – „Ein Scherz, ja, ein unsittlicher, dem Sekt geschuldet. Jon, tanzt du nochmal mit mir?“ Jon wirbelte mich auf die Tanzfläche und aus den Fängen dieses Kubelik. Dessen direkte Tour war mir höchst unangenehm. Es war das erste Mal, dass ich so – ja: unsittlich angegangen worden bin. Ich sah das Weiße im Auge des Feindes, sei wachsam, Henriette. Ob ‚Feind‘ das richtige Wort ist – ja, es ist richtig!. Die Sehnsucht nach meinem ersten, unbekannten Tänzer wurde heiß.

Als ich am Tisch des Intendanten Slatan vorbeiging, hielt er mich am Arm fest und zog mich auf einen Stuhl neben seinem: „Henriette  Gusič, ich bin eifersüchtig auf Ihren Jon, dass er eine so wunderbare Widerspenstige mit Ihnen machen konnte. Ein Diamant liegt auf unserer Bühne, ein Diamant mehr. Nicht zu sagen, wie gerne ich das mit Ihnen inszeniert hätte.“ Ich sagte, nicht eben geschickt: „Stattdessen plagen Sie sich ab mit -“ Er unterbrach: „Reden wir nicht darüber. Und lassen wir das Wort ‚plagen‘ aus. Ich inszeniere, hatte schon bessere Stücke unter meinen Händen. Reden wir von der Stuart, die ich inszenieren will. Werden Sie meine schottische Königin? Bitte. Ich hätte allerdings auch noch die Mirandolina anzubieten. Will ich auch inszenieren. Sie dürfen wählen.“ – „Welch hohe Ehre,“ sagte ich, „nein, lieber die schottische Königin. Die Mirandolina wäre nochmal so ein oberitalienisches Mädchen.“ – „Mirandolina ist zwar eine Frau in den besten Jahren, aber – also gut: Stuart, Schiller auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Fähigkeiten. Ich freue mich.“ – „Und ich schlafe in dieser Nacht gut auf dem königlich schottischen Kissen…“

Welch artige Konversation. Sie wäre wohl noch einige Zeit weitergegangen, wenn da nicht der Operettenbuffo gekommen wäre: „Herr Intendant, eine Unterschrift, bitte.“ – „Ginge das nicht morgen im Büro?“ – „Nein, leider. Ich muss ja ganz früh weg. Geht aber nicht ohne Ihre Unterschrift. Krankschreiben – Verzeihung, das macht ja der Arzt. Nein, Urlaub bitte, nur einen Tag, habe keine Proben, keine Vorstellung.“ – „Urlaub zum Tingeln, nicht wahr?“ – „Ich sags wie es ist: Ja, zum Tingeln. Ihre verehrte Frau Gemahlin kommt ja auch mit. Wir singen ‚Deine Küsse, die brennen so heiß‘. Und hamstern Kartoffeln und Butter.“ Mensch, das war aber ganz schön dreist vor den Ohren Dritter. Aber wenn Frau Intendant mitsingt… Slatan zog den Kopf zwischen die Schultern und unterschrieb rasch.

Ich erzählte Jon nichts, weder vom ersten graumelierten Tänzer, noch von Kubeliks Gequatsche mit meinem Parteieintritt, nur die Sache mit dem Sänger-Urlaub sollte er wissen. Wir lachten sehr darüber. Ich tanzte nochmal mit Kubelik, in aller Absichtlichkeit, ich wollte nochmal in den Löwenkäfig taumeln. Nein, es war keine Damenwahl angesagt. Ich wollte ausbügeln. Ist mir, glaube ich, gelungen. Kubelik erwies sich als so miserabler Tänzer, dass ich ihn sehr bald mit einer Bemerkung über seine politischen Qualitäten, im Gegensatz zu den tänzerischen, wieder am Tanzflächenrand abstellte. Ich plumpste in einen Sessel, nahm ein Glas Sekt, das mir nicht gehörte, und strahlte alle, die da am Tisch saßen, und die ich gar nicht kannte, an. Und sie hoben ihr Glas und strahlten zurück. So ein Lächeln von der Gusič tut doch Wunder. Aus den Augen der Herren sprach die Eroberung der Widerspenstigen. Ich tue ihnen Unrecht. Sie lieben diese  Gusič und achten die Rampe zwischen uns. Bitte, nichts daran ändern. Scheiß auf die Partei! Der erste Satz in diesem Tagebuch, der nie das Licht der Welt erblicken darf. Ich werde es zu den anderen ungelesenen Kochbüchern in die Küche stellen.

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Sofia, am Samstag, den 17.9.1947

Ein Tag mit einem Dolchstoß, fast so schlimm, wie die Gynäkologen-Auskunft neulich.

Erst kommt Jon heute früh mit einem herrlichen Gladiolenstrauß, den Brief in seiner Hand übersehe ich. Er macht mir einen Heiratsantrag. Nein, das war nicht der Dolchstoß, war doch eher zum Lachen. Wörtlich mein lieber Jon: „Was ist? Wir sollten heiraten, oder?“ So wunderbar nebenbei. Mein Gott, wie viele Weiber würden jubeln, wenn sie so etwas von Jon gesagt kriegten. Ich juble nicht, wie dieses Tagebuch weiß. Ich denke an seine gestrige kleine Eifersuchtsanwandlung. Ich frage nach dem Sinn einer Ehe mit ihm. Ich muss plötzlich die ganz Überlegene spielen. Nein, doch nicht spielen, sondern sein! Das gefällt mir gar nicht. Ist denn nicht die Freiheit die Stärke unserer Bindung?  Inklusive die leise schwärende Angst, sie könnte jemals zerbrechen? „Jon, wie soll ich dir antworten, ohne dich schrecklich zu kränken? Ja, ich liebe dich, unverändert, dich und deine herrliche Kreativität. Nein, ich will nicht heiraten, dich  nicht und keinen anderen. Wir haben doch hier unser kleines privates Geschlechtsnest und kucken aus dem Fenster über die Stadt. Was verändert sich, wenn wir verheiratet aus dem Fenster schauen? Kinder darf es keine mehr geben. Also: Was solls? Ich muss die Blumen versorgen, die herrlichen Gladiolen. Danke.“

Der Dolchstoß?: Ein anonymer Brief. Die Gladiolen waren gar nicht von Jon, sondern lagen samt Brief vor meiner Wohnungstür. Der Brief eine einzige Anklage gegen mich und  – ja, was? mein Schweigen zu den Folterungen im Keller im Haus der Staatssicherheit zwei Straßen weg vom Theater. Dort erpresse man Geständnisse und Denunziationen. Mein Schweigen zu den russischen Gulag-Lagern in Sibirien, zu den zum Himmel schreienden Unrechtsprozessen in unserer bulgarischen Heimat.

Oh, das war so böse! Was war böse? Ich spreche erst mal von dieser winzigen Hinterkopfstelle, wo die Anklage mir gerechtfertigt erschien. Ich kann sie nicht verdrängen, so gerne ich wollte. Ja, ich schweige, wo ich schreien müsste. Damit muss ich leben, damit kann ich leben, das will ich nicht unter den Teppich kehren. Aber so ein Brief ist da ein sehr schmerzhafter Unfall! Da fährt mir einer mit dem Auto ans Bein, und ich liege hilflos auf dem Kühler. Meine Empörung kochte gewaltig hoch. Was erlaubt sich dieser Kerl?! Es ist meine Sache, ganz allein meine Sache, wie ich zu unserem Unrechtsregime stehe. Er wirft mir vor, dass ich mit meiner Widerspenstigen die Leute lachen mache, die doch allesamt heulen müssten. Das kann man mir doch nicht zum Vorwurf machen! Das ist doch meine Waffe gegen die Tristesse unseres Lebens! Da kann man doch nur Beifall klatschen! Das tut der Briefschreiber auch:

‚Ihre Widerspenstige ist wunderbar, ich möchte jetzt noch klatschen, wo ich zu Hause sitze und meine Hände stattdessen an diesen Brief gefesselt sind. Oh Gott, darf ich den überhaupt schreiben und absenden? Was zerstöre ich da vielleicht? Leider kann ich meine Empörung nicht zügeln, sie will diesen Brief. Nein, er kommt nicht per Post zu Ihnen. Er liegt vor Ihrer Tür neben einem Strauß blutroter Gladiolen, die ein Zeichen meiner großen Verehrung, ja Liebe für Sie sind. So komme ich wie ein Dieb in der Nacht in Ihr Haus. Dass ich um Lebens oder Sterbens Willen anonym bleiben muss, macht mich ganz krank, weh ums Herz. Vielleicht schaffe ich es, irgendwann in ein Gespräch mit Ihnen zu fliehen. Ich hoffe und setze auf die Kräfte einer Zukunft in Freiheit.‘

Wer schreibt sowas? Jon war es, der fragte, ob das nicht eine Frau sein könne. Na klar! Und zwar die Slanska, die neidische Kollegin, die in der Partei ist und widerliche Propaganda macht. Sie hätte ganz gewiss gerne die Widerspenstige gespielt. Die Slanska ist eine ziemlich putendumme Person. Der Brief ist viel zu geistvoll, um von ihr zu sein. Nein, als wir heute morgen sprachen, war ich nicht so schnell bereit, die Slanska als mögliche Briefschreiberin auszuschließen. Das tue ich jetzt, spät am Abend. Zu verlockend war heute früh das Gefühl, die Schuldige dingfest gemacht zu haben: „Ganz klar, die Slanska!. Wer sonst? Sie will, dass ich strauchele, dass ich stürze. Ganz schön frech, als Genossin so eine Zickigkeit auszubrüten. Stell dir mal vor, ich gebe den Brief der Kriminalpolizei. Sie fliegt hochkant aus der Partei, und ist weg vom Theater. Was nicht so furchtbar schade wäre.“ Was man so redet in der Erregung. Ja, ich war schrecklich erregt. Nach und nach verschwand die Slanska wieder aus unserer Suche nach möglichen Briefverfassern.

„Das ‚a‘ springt ein bisschen hoch in der Schrift,‘ sagte Jon. „Die Kriminalpolizei hat da schnellstens eine Fährte.“ – „Das machen wir nicht,“ sagte ich, „ich will nicht denunziert werden und ich will erst recht nicht denunzieren. Allerdings – nein, doch nicht. Die Neugier ist eben wahnsinnig groß, und man möchte so einem Schreiberling die Meinung sagen und den dicken Sieger mimen. Könnte man ja gar nicht, ohne politisch in lauter Fettnäpfchen zu treten.“

Plötzlich sagte Jon, ob wir nicht doch heiraten sollten. Nein, ich will nicht, schon gar nicht, weil dieser Brief in mein Leben geschossen ist. Leider wurde ich wütend auf Jon. Wut in Sachen Liebe ist immer falsch! Naja, weiß nicht, ob das stimmt, Wut kann ja auch ein großer Beweger sein. Wie auch immer: Bitte, die große, die größte Ungebundenheit. Weiterhin. Sie tut uns gut. Der moderne Mensch ist ein Einzeltier. Ich will jedenfalls ein einsamer Wolf sein. Das klingt ja vielleicht pathetisch und stimmt doch wohl nicht. Manchmal habe ich den Verdacht, dass ich Zeug rede, weil mir was fehlt. Sehr heikel. Tagebuch muss man wohl auch proben wie ein Theaterstück.

Dann war ich allein mit dem Brief, Jon musste weg. Meist richtet er es so ein, dass ich die Priorität auf sein Vorhandensein habe. Aber das ging heute nicht. Ich bin dann gegangen und habe die Zeitungen gekauft. Aber ich habe sie bis jetzt, bis zum späten Abend nicht gelesen. Ganz was Neues. Ich weiß genau, dass sie mich in den Himmel loben. Jaja, liest man dennoch sehr gerne. Es gehört zu den großen Dummheiten der Schauspieler, wenn sie sich ihre Eitelkeiten nicht eingestehen. Davor will ich mein Tagebuch bewahren. Nein, ich habe bis jetzt wirklich nicht nachgelesen, dass meine Widerspenstige eine ungemein vollendete schauspielerische Leistung war, der Tradition ebenso verpflichtet wie dem Fortschritt… Bla-bla-bla… Bin ich zum Zeitungskauf gegangen, weil ich mit dem Brief nicht allein sein wollte? Ich ertappe mich bei sehr heiklen Fragen.

Ich habe den Brief im Laufe des Nachmittags noch dreimal gelesen, mit steigender Aufmerksamkeit. Wenn es ein Ende der Welt gibt, dann ist es sicher ein russisches Arbeitslager in Sibirien. Und weil es mein Beruf ist, habe ich keine allzu großen Schwierigkeiten, mich in einen solchen Gefangenen am Ende der Welt zu versetzen. Für kurze Zeit, länger ist das nicht auszuhalten. Das genügt nicht? Nein, das genügt nicht. Woher nehmen diese Menschen ihren Lebenswillen? Warum nicht Selbstmord, Selbstmord, Selbstmord? Oft genug ist sicher ein Selbstmord das Schlusswort. Aber der Rest? Was geht da hinter den Stirnen vor? Oder haben sie nur Hunger? Sie träumen von zu Hause und hoffen, hoffen, hoffen, dass sie eines Tages wieder nach Hause kommen. Lauter einsame Wölfe, oder?

Da ist einer in dieser großen Stadt, der möchte mich heiraten, hat er heute zweimal gesagt. Und ich möchte ihn nicht heiraten. Wohin führt das? Da gibt es doch keine Koordination. Ich habe ihn ausgelacht. Das war nicht gut! Beim ersten Mal habe ich gelacht, beim zweiten Mal bin ich wütend geworden. Erst recht nicht gut. Dass ers ausgesprochen hat, das machts so mühsam. Das kann er ja nie wieder ungeschehen machen, das steht jetzt zwischen uns, darüber können wir sprechen oder schweigen. Ich habe mich bis heute ihm gegenüber nie dazu geäußert, dass ich ihn nicht heiraten will. Nun hat ers gesagt, dass er will. Nun musste ich sagen, dass ich nicht will.

Tagebuch als Schlafmittel. Gute Nacht. Sehr fraglich, ob ich mit diesem Brief im Herzen schlafen kann…

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Sofia, am Sonntag, den 18.9.1947

Ich habe heute in der Kantine gegessen. Oft mache ich das nicht mehr. Das Essen ist einfach lieblos gekocht. Das Essen im Majestic zeigt doch, dass man besser kochen kann, auch mit dem wenigen, das zur Verfügung steht. Naja, die im Majestic haben ziemlich sicher ausländische Zulieferungen.

Mir geht es gut. Der Bühnenmeister hat sein Zuhause im landwirtschaftlichen Distrikt. Bei ihm kaufe ich schwarz ein. Seine Frau ist auch am Theater angestellt, als Kapo der Putztruppe. Sie macht auch bei mir sauber. Sie liefert mir die Schwarzmarktware ins Haus. Besser kann ich es nicht haben. Soll ich am Ende doch noch zu kochen anfangen? Nein. Das bisschen Fressen mal nicht so ernst nehmen. Wir verhungern schon nicht. Aber es gibt Landsleute, die leben am Rande des Hungers, ja, des Hungertodes. Nein, Herr anonymer Briefschreiber, das ist nicht ausgeblendet in meiner Seele. Jon kann wunderbare Omletts brutzeln. Ich kann gar nichts auf diesem Gebiet. Und so soll oder wird es bleiben.

Ich habe angefangen, die Maria Stuart zu lesen. Schöner, besser als die Widerspenstige. Ungerechter Quatsch! Schiller, wie immer, etwas mühsam zu lesen. Und das soll ich spielen? Immer, wenn man sowas vor sich hat und weiß, dass man es auswendig lernen muss, kommt diese Phase, in der man völlig ausschließt, dass man die vorgegebene Rolle jemals spielen kann. Da brummt nur ganz entsetzlich der Kopf. Aber stets auch im Seelen-Untergrund eine süße Gewissheit, dass man das wunderbar spielen kann. Und wird. Mein Rauschegold wird mir schon helfen.

Kleiner Schreck über mich selbst, dass der Brief so weit weggerutscht ist. Maria Stuart lesen und den Brief ausschalten. Als ob man ihn ausschalten könnte. Nein, er ist da, von einem Mann geschrieben, der mich liebt, den ich nicht wiederlieben kann, weil er mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Und ich habe ja nicht die geringste Ahnung, wer er sein könnte. Da ist dato nur Empörung. Und, was gar nicht dazu passt, eine beachtliche Wurschtigkeit: Geht mich doch gar nichts an! Geht mich sehr wohl was an. Es gibt, wenn ich das einigermaßen richtig spüre, eine kaum organisierte Opposition in diesem Land. Zu ihr müsste ich gehören. Wieder ein Satz, der nicht ins Kochbuch gehört. Nicht weit dahinter winkt das Gefängnis. In unseren Gefängnissen geht es schrecklich zu. Man hört Dinge, die mich gefrieren lassen. Ich werde Alles tun, dass ich weit von ihnen meine Spuren ziehe. Weit, sehr weit, anonymer Briefschreiber, meine Begabung zu Opferrollen ist sehr sehr klein! Nach längerem Überlegen habe ich den Brief in meine Handtasche gesteckt. Er ist ja heiß wie Feuer.

Man hört so in der Kantine viel Geraune, dass das mit dem Tendenzschinken, den der Chef inszeniert, gar nicht gut geht. Naja, nicht so direkt. Es herrscht miese Stimmung. Miese Stimmung hat im Theater nichts zu suchen. Nervosität, Krach, Schlussstriche, Türenknallen, ja, alles, aber miese Stimmung – das ist bitter. Dem Himmel sei Dank, dass ich da nicht proben und spielen muss.

Die zweite Vorstellung ‚Widerspenstige‘ heute war die typischste zweite Vorstellung. Eine uralte Theaterweisheit: Wenn die Spannungen der Premiere weg sind, folgt die liebloseste Vorstellung, die man sich nur denken kann. Merkt kein Zuschauer. Das ist eine sehr fragwürdige Feststellung. Sie könnten es vermutlich nicht definieren oder erklären, aber sie merken es doch. Was ist es denn? Die Freude ist reduziert. Der Nastjan muss seinen Bus kriegen, also spielen wir etwas schneller. Er fehlt beim Verbeugen. Nun ja, man schminkt sich ab und geht nach Hause. Da wartet Jon mit einem Omlett. Aprikosenmarmelade von meiner Putzfrau. Was geht es uns gut! Der Blick über die Lichter der Stadt. Die Liebe. Darf ich etwa nur Sex sagen?

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Sofia, am Montag, den 19.9.1947

Revolution im Theater. Noch nicht laut und ohne Guillotine. Die Putzfrau-Verbindung ist großartig. Die Situation im Theater ist es weniger. Sie hat mir erzählt, was sie wusste. Sie säuberte das Foyer, als Kubelik drei Herren in dunklen Anzügen und mit Hut auf dem Kopf im Foyer empfing. Sie kamen von der Straße und gingen sehr leise in den Zuschauerraum. Wahnsinnig komisch Marias Schilderung. Dieser Weg ist ungewöhnlich. Fachleute, auch politische gehen durch den Bühneneingang. Meine Putzfrau schlich hinterher. Die Männer setzten sich. Der erste nahm den Hut ab und stieß den anderen an. Da nahm der auch den Hut ab und stieß den dritten an. Da nahm auch der den Hut ab. Das waren eindeutig keine Kulturbonzen, sondern ziemlich hohe Politbeamte.  Slatan drehte sich unwillig zu ihnen um. Kubelik posaunte: „Genosse Slatan, lassen Sie sich nicht stören. Die Herren sind vom Politbüro. Erlauben Sie uns, ein wenig zuzuschauen.“ Ja, das Du-Sagen ist eigentlich unter Genossen obligatorisch. Aber zum Boss sagt man doch lieber Genosse und Sie.

Damit war die Probe natürlich empfindlich gestört. Slatan wurde nervös, ahnte wahrscheinlich schon mögliche Konsequenzen. Mit sehr ungehaltener Stimme korrigierte er seine Schauspieler. Die Slanska hatte einen großen Brüllauftritt, unterbrach sich selber und fing nochmal von vorne an, was Slatan heftig monierte. Die Slanska probte dann weiter. Maria machte sie sehr komisch nach, mit riesigen Gesten und unverständlichen Tiraden. Ich musste sehr lachen. Kubelik unterhielt sich mit den drei Herren, offenbar unterbreitete er ihnen seine kritische Haltung zu der ganzen Inszenierung. Die Herren stimmten zu, stellten Fragen, immer lauter, bis Slatan sich umdrehte und sehr nobel sagte: „Meine Herren Genossen, es ist uns eine große Ehre, dass Sie unserer Probe beiwohnen. Aber bitte, seien Sie leise und stören Sie nicht die Genossin Slanska bei ihrem großen Auftritt. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, stehe ich nachher selbstverständlich ganz zu Ihrer Verfügung.“ Maria bestand darauf, dass er ‚Meine Herren Genossen‘ gesagt hatte.

Eine Weile ging das so weiter. Ich erfuhr ein bisschen was vom Inhalt des Stückes, in der Interpretation meiner Putzfrau, die natürlich im Theater nicht weiter putzte, sondern das Geschehen verfolgte und mir brühwarm erzählte. Es klang Alles nicht gut. Allererste Ahnungen, dass mich das auch betreffen könnte, stiegen in mir auf, wurden aber in der Seele zunächst geschickt runtergeteckelt. Nein, das geht Slatan an und die Slanska, mich doch nicht.

Dann verließen Kubelik und die drei Herren den Zuschauerraum. Die Hüte setzten sie noch im Zuschauerraum auf. Maria schwankte, ob sie die Probe weiter verfolgen, oder wieder ins Foyer gehen sollte. Sie ging raus und wienerte den Marmorboden und hörte mit spitzen Ohren bei dauerndem Kopfnicken der behuteten Bonzen etwa Folgendes: Premiere verschieben, Kubelik übernimmt die Regie, die Möglichkeit, Slatan als Intendanten abzusetzen, wird erwogen. Und es fiel, so schwört Maria, leise geflüstert mein Name: Henriette  Gusič.

Nein, ich will jetzt noch nicht alle Konsequenzen bedenken, ich will ins Bett. Gute Nacht. Sehr fraglich, dass die Nacht gut wird. Jon wäre jetzt willkommen. Aber wie, ohne Telefon. Vielleicht müssen wir doch heiraten.

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Sofia, am Dienstag, den 20.9.1947

Ich hasse das! Hetzen, ich brauche Zeit, immer, aber vor allem morgens, so sonderbar das vielleicht für Leute klingt, die mich sonst kennen. Ich bin so pünktlich im Theater, zur Probe und zur Vorstellung, dass man die Uhr danach stellen kann. Gehört sicher auch zu meinen künstlerischen Qualitäten. Ach Quatsch, ist sehr hilfreich für meine Künste. Alles Quatsch. Armbanduhr ist wichtig.

Telefonanschlüsse bekommen nur bevorzugte Kunden. Schauspielerinnen nicht. Telefon ist konterrevolutionär. Naja, ganz so einfach darf ich das nicht formulieren. Per Telefon können konterrevolutionäre Parolen ausgetauscht und Verschwörungen inszeniert werden. Man kann ja nicht alle Teilnehmer von der Geheimen Staatspolizei abhören lassen. Desgleichen kann man nicht in einen Laden gehen und eine Schreibmaschine kaufen. Da ließen sich konterrevolutionäre Flugblätter verfassen und vervielfältigen und verteilen.

Also kommt heute morgen um 7 Uhr 30 ein reitender Bote vom Theater: der Fahrer vom Chef, Frau  Gusič bitte um 9 Uhr auf die Bühne zur Probe GROSSE TATEN. Er übergibt mir ein Exemplar des Stückes, ein abgegriffenes, tatsächlich das Exemplar, das die Slanska benutzt hat, alle ihre Sätze rot angestrichen. Der reitende Bote geht nicht. Es stellt sich heraus, dass er mit dem Wagen warten soll. Ich bitte ihn sehr nett, doch bitte unten zu warten. Ich lese ein paar Sätze in dem Stück: Entsetzlich! Kein Wort bisher, dass ich darin überhaupt eine Rolle habe. Aber ich darf heftig spekulieren: Kubelik inszeniert neu, die putendumme Slanska wird umbesetzt, Henriette  Gusič spielt die Propagandalise mit den schrecklichen Texten. Ich hasse es, in Hetze zu frühstücken…

Zum Glück kam Jon, hatte schon gestern Abend fast Alles im Theater gehört. Meine Spekulationen genau richtig. Ich bin ziemlich verzweifelt. Jon versucht, mich zu beruhigen: Irgendwann musste ja mal so eine Rolle kommen. „Mach das Beste draus!“  Ich schreie: „Es sind entsetzliche Texte!“ – „Woher willst du das denn wissen?“ – „Ich habe doch im Buch geblättert und Einiges gelesen.“ – „Lies das Ganze, sagt Jon, du wirst deine schönen Stellen finden, wo dein Rauschegold flüstert wie eh und jeh.“ – „Nichts werde ich finden, nichts flüstert!“ – „Aber du bist doch Schauspielerin!“ – „Als ob du nicht wüsstest, dass ich spiele, immer, und nie heuchle, nie! Ich kann nicht Spielen spielen! Als Chaplin mal versuchte, einen schlechten Komiker zu spielen, ist er kläglich gescheitert! Genau heucheln, das kann die Slanska, die putendumme. Ich werde die Rolle ablehnen.“ – „Kannst du nicht machen. Unmöglich! Das wäre politisch höchst gefährlich. Machs nicht schlimmer, als es schon ist. Nimm es als Durchgangsphase. Es werden bessere Stücke kommen. Wir wollen doch trotz allem nicht den Kapitalismus! Also nehmen wir ein paar Schwächen des Sozialismus, und seien es schlechte Theaterstücke, in Kauf.“ – „Was du zusammenquatschst, wenn man dich lässt. Hör auf! Machst ja Alles noch schlimmer. Man kann den Kapitalismus ablehnen und den Sozialismus anbeten und trotzdem diese Texte Scheiße finden.“

Ich wurde ins Theater gefahren, Jon kam mit. Auf der Bühne das riesige Ensemble von GROSSE TATEN, ein Haufen Kollegen, die alle offenbar schon ein bisschen früher angetanzt waren. Jon verdrückte sich unerkannt in den Kulissen. Kubelik machte aus meinem Empfang eine große Szene: „Liebe, verehrte Henriette  Gusič, willkommen im Ensemble GROSSE TATEN. Unser bisheriger Intendant, der Genosse Slatan,  ist beurlaubt, er wird dem Hause als Regisseur erhalten bleiben, allerdings nur, wenn sich die eher politischen Verdachtsmomente gegen seine Führung nicht erhärten. Ich habe die kommissarische Leitung des Staatstheaters übernommen und ich habe die Regie dieses gewichtigen Stückes übernommen. Sie, liebe, verehrte Henriette  Gusič darf ich mit der Hauptrolle betrauen. Die Genossin Slanska hat abgesagt.“

Da gab es Beifall. Ich hasse diesen schiefen Applaus nach Moskauer Art, wo die, denen der Applaus gilt, immer mitklatschen. Ja, ich hasse ihn und – habe mitgeklatscht. Erste hässliche Verkrümmung meines Rückens, katzbuckeln. Hoffentlich geht das gut. Es wirkte ein wenig so, als applaudiere man der Absage der Slanska. Dass sie abgesagt hat, ist doch bestimmt eine üble Lüge. Genosse Kubelik wird die Genossin deutlich genug gebeten haben. Wer ist der eigentlich? Hat er Theaterqualifikationen? Was steht uns bevor? Ich höre auf zu spekulieren.

Kubelik fuhr fort: „Liebe Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen, wir haben irrsinnigen Zeitdruck. Ich will nicht alles neu und anders machen als mein Vorgänger. Aber ich will auf Hochglanz polieren. Wir verschieben die Premiere um eine Woche, nein, es sind zehn Tage. Das Hauptproblem wird es sein, dass die Genossin  Gusič – Pardon, das ist sie ja noch gar nicht! – dass die hoch verehrte Kollegin  Gusič den umfangreichen Text lernt. Ich erwarte dann von allen Kollegen, dass sie Frau  Gusič mit aller Hilfe zur Verfügung stehen, sie in die jeweils richtigen Stellungen weisen und ihr das ganz gewiss sehr schwierige Lernen und Bühnen-Leben erleichtern. Ende der heutigen Probe, wir überlassen die Bühne den Genossen Handwerkern, denn am Bühnenbild ist auch Einiges zu verändern. Morgen früh pünktlich 9 Uhr, Erster Akt von Anfang.“

Noch auf der Bühne suchte mich Jon, der mich in seine Arme nahm und küsste, was mich am Schreien vor lauter Empörung hinderte. Er sagte, die Slanska sei auch hier rumgeschlichen, aber es sei viel zu dunkel gewesen, um ihre Gesichtszüge zu erkennen. Völlig überraschend hänge schon die Besetzung am Schwarzen Brett. Die kleine, aber feine Rolle der Blanche, die ich spielen sollte, spielt die Slanska. Jon inszeniert. Welche Zusammenbrüche! Jon wollte mit mir im Majestic essen gehen. Ich wollte und konnte nicht. Ich wollte mit diesem entsetzlichen verdorbenen Schwulst von GROSSE TATEN nach Hause gehen und lernen. Ich glaubte selbst nicht daran. „Wenn ich nun mitkomme und ganz still irgendwo sitzen bleibe?“ – „Ja, komm mit und bleib irgendwo ganz still sitzen. Vorher kannst du mir noch ein Aprikosenmarmeladenomlett brutzeln.“ Vielleicht sollten wir doch heiraten.

Ja, ich nahm all meinen guten Willen zusammen und begann das Stück in drei Akten GROSSE TATEN zu lesen. Aber ich schaffte erst mal nicht mehr als drei Seiten. Ich soll eine sehr resolute, kräftige Arbeiterfrau spielen, schlechte Köchin, schlechte Mutter, höchst engagierte Genossin, die aber am Ende auch noch gute Köchin und gute Mutter wird. Nur ja keine Positivismen auslassen. Es geht um einen Streik oder wohl die Vorbereitungen dazu. Kaum zu glauben, aber so war es: Ich habe den ganzen Tag nichts getan, nichts, nicht das Stück gelesen, geschweige denn eine Zeile gelernt. Ich habe auf die Stadt runtergeschaut, wo hinter irgendeinem Fenster einer einen anonymen Brief an mich geschrieben hat. Jon verhielt sich mustergültig still. Nein, in die Liebe konnten wir nicht versinken. Und Gespräche wollten sich auch nicht ergeben. Ich darf das nicht hinschreiben, aber ich schreibe es hin: ich spielte wieder alle Selbstmordgedanken durch. Man trampelt mir auf dem Liebsten herum, was ich noch habe: auf dem Theater und degradiert es zum Propagandabordell, ich als Puffmutter…

Dann ging Jon. Da war es ganz aus. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich zwang mich mit aller Kraft, das Textbuch zu lesen. Ich konnte es nicht. Was sollte ich tun? Ich weiß nicht, wie lange ich regungslos saß. Wirklich regungslos. Eine Stunde? Zwei? Drei? Kein Telefon, eine Henriette  Gusič kriegt kein Telefon. Eine Henriette  Gusič bleibt mit ihren Nöten allein. Ich brauche eine Stimme, ich muss eine Stimme hören.

Ich gehe zu Jon, eine gute halbe Stunde. Ich hätte irgendeinen Bus nehmen können. Aber ich wusste die Nummer nicht mehr. War auch ganz gut zu gehen, spülte den Mist aus meinem Blut. Nein, nicht allen Mist, der sitzt zu fest. Wir treffen uns immer bei mir in meiner schönen hellen Wohnung, mal ganz oft und viel, dann wieder seltener, es gibt keine Fahrpläne unserer Liebe. Natürlich hat er eine Schlafstatt bei mir. Ganz selten sind wir mal bei Jon, der wenig heimelig wohnt, was ihn wenig kümmert. Er hat zwei möblierte Zimmer mit dem Blick in einen Hinterhof. Er ist eben ein Arbeitstier. Ich brauche Wohnwerte, blödes Wort.

Ich klingle, hätte ja Schlüssel mitnehmen können, besitze ich natürlich. Benutze ich höchst selten, ich habe sie vergessen. Jon ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich hat er Probe mit der Slanska als Blanche. Bisschen Zorn und Wehmut noch drauf auf dieses überlastete Herz. Was tun? Da ist dieser kleine Park mit seinen drei oder vier Bänken. Ich setze mich auf eine. Ich kann gar nicht ruhig sitzen, schwanke vor und zurück. Ich halte das zwar für ausgeschlossen, aber es muss so gewesen sein: Ich bin weggedämmert, eingeschlafen. Der runterrutschende Kopf weckt  mich auf, da sitzt Jon neben mir. „Ja,“ sage ich. „Was ja?“ fragt er. „Wir müssen heiraten,“ sage ich. Weil doch alle Standesämter um diese nachtschlafene Zeit geschlossen waren, sind wir dann zu mir gelaufen und haben gut miteinander geschlafen.
Sie selbst gibt dazu am Ende ihres Tagebuches eine Erklärung. 

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Sofia, am Mittwoch, den 21.9.1947

Ein Probentag, ein erster? Nicht doch! Chaos, Hypernervosität. Ja, ich konnte die ersten vier oder fünf Sätze, nein, denn doch ein paar mehr, die hatte ich gestern Nacht tatsächlich noch mit Jons rührender Hilfe gelernt. Aber Kubelik drückt aufs Tempo, muss er ja! Und in mir bäumt sich seit jeher alles auf gegen Hetzen. Erster Krach mit der Souffleuse, die arme Trine. Die wurde pampig, als ich, um von meinen Nöten abzulenken, ihr die Schuld gab, dass ich keinen Text kann. Das ist ja auch widerlich von mir. Aber das ist nicht die Situation, sowas zuzugeben. Ich habe alle Stacheln ausgefahren, um mich zu schützen, niemand soll mir ans Schienenbein treten! Ich gelte nicht unbedingt als angenehme Probenkollegin. Schon immer. Ich will immer auf der ersten Probe so perfekt sein, wie ich es dann vielleicht zur Premiere bin. Das wollen wir mal so lassen. Ich verwickelte Kubelik in Diskussionen, was er offensichtlich gar nicht leiden kann.

Ich muss umdenken. Wenn das so einfach ginge. Ich muss das, was man da von mir verlangt, akzeptieren, ich muss solidarisch sein mit meiner Rolle, mit der ganzen Inszenierung. Sonst mündet das in eine Katastrophe! Das will ich nicht, klar seis gesagt, dass ich keine Katastrophe will! Also muss ich mitmachen. Aber wo soll ich denn da mein Rauschegold knistern lassen? Es ist ein unsäglich trockener Text, die Slanska war vermutlich eine ideale Besetzung. Lauter Leute, kaum zu identifizieren, ohne ernsthafte Beziehungen zueinander stehen da rum und diskutieren, was man auf keiner Bühne je zu diskutieren hat! Keinerlei dramatische Konstellationen, da ist ja die Widerspenstige mit all ihren Botenberichten noch ein vitales Gemenge. Leitartikel, grauslicher Journalismus, ach, – wenns das noch wäre. Naja, stimmt schon ein bisschen, deswegen liest man ja auch hierzulande so ungern die täglichen Zeitungen und kriegt Abonnements nachgeschmissen. Trotz allem: umdenken, den Part annehmen, der mir da zugedacht ist… Will ich den Kapitalismus? Deutliches Nein. Will ich den Sozialismus? Sehr schwammiges Ja…

Nachmittags zur Kostümprobe. Ich bin dicker als die Slanska. Auch nicht unbedingt eine erheiternde Erkenntnis! Ich ärgere mich und lass es an der Kostümtante aus und rede dummes Zeug. Das Stück macht mich ungerecht! Vormittags die Souffleuse; nachmittags die Kostümbildnerin, die natürlich nicht glücklich ist: Kostüme enger machen, ist verhältnismäßig leicht, weiter machen, da muss man Nähte aufmachen und was einsetzen, da braucht man Stoffschnipsel, die müssen passen. Warum mach ich mir die Sorgen der anderen, ich hab genug eigene! Sie schlug vor, die engen Kostüme zu lassen, sie seien eng, aber doch nicht zu eng, da wurde ich wieder wütend: Ich spiele nicht in zu engen Kostümen! Ich lasse vollkommen gegen meine Überzeugung ein Loblied erschallen auf die Figur, die ich spiele. Eine Schauspielerin muss die Lunge vollkriegen, das geht nicht in zu engen Kostümen. Sie schaffte es, dass ich die Bluse noch einmal anprobierte. Ich pustete die Lunge auf, bis vier oder fünf Knöpfe platzten und über den Fußboden kullerten. Ich schrie: „Überlassen Sie es mir, das zu beurteilen. Mir die Luft abschnüren! Sowas kann nur eine doofe Kostümmaus wie Sie vorschlagen! Tun Sie Ihre Pflicht, so wie ich meine tue.“ Alles saublödes Gequatsche.

Keine Abendprobe, frei zum Textlernen für Frau  Gusič.

Naja, das mit den zu engen Kostümen, in denen ich nicht atmen kann, das hatte ja schon schöne, schlimme Bezüge zu meiner Situation. Ich muss Text lernen, ich kann nicht auf die Probe gehen und mir Blößen geben!

Und? Wo ist der Brief geblieben? In meiner Handtasche. Ich bin keine Handtaschen-Frau. Ich stoße also nur sehr selten auf das Stück Papier. Es ließen sich Überlegungen anstellen, ob GROSSE TATEN ein schlimmerer Affront gegenüber dem Publikum ist als eine zärtliche Widerspenstige. In diesem Tendenzschinken wird in höherem Maße eine Lügenwelt propagiert als in allen Klassikerdramen zusammen. Hier wird zu einem Streik aufgerufen, in dem man alle Unternehmer an den Galgen hängen will, und Schlimmeres. Es gibt solche Unternehmer ja gar nicht mehr. Es ist ja eine historische Schau. Was solls? Ja, aber ich stecke ganz tief mittendrin. Und dass es morgen besser wird, ist Null!

Ich habe noch versucht, eine Stunde Text zu lernen, bis ich aufs Bett gefallen und eingeschlafen bin. Ich hasse das: in der Nacht aufwachen, angezogen sein, nicht zugedeckt, sich ausziehen, der Schlafrhythmus ist weg.

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Sofia, am Donnerstag, den 22.9.1947

Todmüde, nein totabgekämpft. Im Grunde: hellwach.

In meiner Verzweiflung habe ich heute mit dem Buch in der Hand probiert. Ich tat dabei ganz selbstverständlich. Kubelik war einigermaßen verdattert. Irgendwann fasste er Mut und monierte: „Verehrte Henriette  Gusič – „ – “Sagen Sie doch nicht immer verehrte Henriette  Gusič zu mir. Verehren Sie mich, aber sagen Sie es nicht dauernd.“ Damit hatte ich ihm erst mal eine Menge Wind aus den Segeln genommen. „Mich irritiert sehr, dass Sie mit dem Textbuch in der Hand probieren. Sind Sie immer noch so textunsicher?“ Ich reagierte überhaupt nicht, sondern las und ballerte einen gerade anstehenden langen Satz in die Gegend, dass es ihm und allen anderen die Sprache verschlug.

„Wunderbar!“ schrie Kubelik. „Das erste Mal, dass ich eine Ahnung davon kriege, wie das Stück mit Ihnen in der Hauptrolle aussehen wird. Aber das muss eben in fünf Tagen passieren!“ Da merkte ich zum ersten Mal, dass ich die Rolle nicht nur nicht spielen kann, sondern es auch nicht will, dass sie mir so schrecklich zuwider ist. Aber ich kann die Rolle nicht zurückgeben, da hat Jon ganz recht, wir sind in den Fesseln einer völlig unbarmherzigen Politik. Kein Schulterklopfen möglich. Wir quälten uns weiter, ich immer mit dem Textbuch in der Hand, aus dem ich die Texte ablas, schlimmer als eine Anfängerin im ersten Jahr, ganz trocken, ganz gefühllos. Kubelik war ganz erstaunt, dass mein einmaliger Ausbruch ohne Folgen blieb. Er war wieder ernüchtert und arrangierte mich dahin und dahin. Ich folgte widerwilligst. Wo soll das enden? Und wie?

Wir quälten uns weiter. Ich bin natürlich auch eine schreckliche Belastung für alle Kollegen. Ich fing den Satz an: „Nur in den solidarischen Gemeinsamkeiten der unteren Parteistrukturen lässt sich die neue Zeit erahnen, die uns Kraft finden lassen wird für eine Zukunft ohne -“ Und ohne jede Pause fügte ich an: „Liebe Kollegen, Genossen, ich muss weiterhin um Eure Geduld bitten, manchmal bin ich schon sehr verzweifelt und bewundere ehrlich eure Nachsicht, für die ich mich sehr herzlich bedanke. Ihr leistet viel.“ Dann las ich wieder in dem Text: „Nur in den solidarischen Gemeinsamkeiten der – was? – unteren – unteren Parteistrukturen lässt sich die neue Zeit erahnen, die uns – was? – Kraft finden lassen wird -„ Ich schmiss das Textbuch mit gewaltigem Schwung hoch in die Luft, es fiel über eine hohe Kulissennwand und verschwand. Ich schrie mit einiger Fassung: „Es ist ein Scheißstück, Genosse Kubelik, der Sozialismus steht so haushoch über diesem Gewäsch des guten Willens! Wir scheitern damit!“ Zum ersten Mal sprach Kubelik etwas aus – und zwar außergewöhnlich ruhig -, was böseste Folgen haben kann, was mir aber gar nicht gleich klar wurde: „Vielleicht scheitern Sie damit, verehrte Henriette  Gusič. Das Staatstheater wird dieses Stück rausbringen – so oder so…“ Au, das war aber teuflisch! „Ich hole mir das – mein Textbuch wieder,“ sagte ich und verschwand hinter der Kulissenwand.

Dahinter war es dunkel, und es standen Möbel herum und Podeste, sehr undurchschaubar. Totenstille der Anderen auf der Bühne. Ich fand das Buch, das übrigens dunkelblau eingebunden war, nicht. Bis ich schließlich rief: „Kann mir mal einer helfen?“ Sofort kamen vier oder fünf, jedenfalls auffallend viele Kollegen hinter die Kulissenwand und suchten eifrig nach dem Buch. Kubelik glaubte wohl, einen guten Witz zu machen und rief: „Frau Gusič, Sie brauchen doch das Textbuch gar nicht mehr, sonst hätten Sie es doch nicht weggeschmissen. Lassen Sie uns weiterprobieren.“ – „Nein,“ rief ich ironisch, „diesen wertvollsten Text kann man doch nicht hier in den Kulissen vergammeln lassen!“ Es dauerte widerwärtig lange, bis ein junger Kollege das Buch fand und unter fast akrobatischen Kletterübungen wieder ans Licht brachte und mir gab. Ich belohnte ihn mit einem Kuss. (Hat er vielleicht gar nicht als Belohnung empfunden?)

Bei Probenende gab ich mich dann wieder sehr leutselig: „Tschüs, Kinder, bis heute Abend.“ – „Nein,“ rief Kubelik, „heute keine Abendprobe!“ Ich schrie sofort: „Doch! Ich brauche die Proben dringend, alle! Wir können da jetzt leider nichts mehr ausfallen lassen. Tut mir das nicht an!“ Aber Kubelik erklärte: „Heute Abend ist die Gründungsfeier der Gesellschaft für die Förderung der Freunde der bulgarisch-sowjetischen Freundschaft. Der Name ist schlecht, die Sache ist sehr gut. Bei aller Liebe zum Theater: Wir sehn uns heute Abend im Saal des Gewerkschaftshauses!“

Ich ging nach Hause und hatte das Gefühl auf einem dünnen Pergamentpapier zu gehen, wie Butterbrotpapier, dauernd in der Gefahr, mit dem Hacken ein Loch zu machen und einen Riss und wegzustürzen. Ich hatte wirklich Mühe, die Realität des Straßenpflasters zu erkennen. Die Situation ist so völlig irreal, so absurd, so ohne – ja wie soll ich es nennen? So im luftleeren Raum taumelnd mit Atemnot und Erstickungsgefühlen. Erbarmungswürdiges Textelaborat soll am Staatstheater aufgeführt werden; Protagonistin kämpft verzweifelten Kampf mit den als positiv deklarierten Texten unter schlimmstem Termindruck. Das endet. Wie?

Alle Stunden, die ich nutzen könnte, um Text zu lernen, verrinnen stumm. Ich stehe am Fenster und gucke auf die Stadt. Gegen drei Uhr kommt Jon. Ich bitte ihn, mir ein Aprikosenmarmeladenomlett zu brutzeln, was er widerspruchslos tut. Zum Glück kamen wir ins Gespräch. Nein, ich kann die Rolle nur um den Preis einer unabsehbaren politischen Drangsalierung zurückgeben. Nein, Jon kann in der Angelegenheit überhaupt nichts tun. Ja, ich stehe vor einer alptraumhaften Flutwelle, die mir den Tod bringen wird. Jon wollte natürlich abwiegeln. Aber da gibt es keine Wellendämpfer. Kämpf ums Überleben, Henriette! Aber wie? Ohne Text und ohne Rauschegold? Die Katastrophe ist terminiert, in fünf Tagen. Ich kriege dann einen Zug um den Mund. Jon kennt und fürchtet ihn.

Jon balanciert in den obersten Regionen seiner menschlichen Möglichkeiten. Mit wahrhaftiger Engelsgeduld schaffte er es, dass ich mich umziehe. Mit fast zwei Stunden Verspätung gingen wir zur Gründungsfeier der Gesellschaft zur Förderung der Freunde der bulgarisch-sowjetischen Freundschaft. Die  Gusič, deren Ruf in der Öffentlichkeit noch kein bisschen angeschlagen ist, kann bei sowas zwei Stunden zu spät erscheinen.

Und ein Anblick, der meiner Seele unendlich wohltat: Unter der selektiven Auswahl von Honoratioren der Stadt mein wunderbarer Tänzer von der Premierenfeier der ‚Widerspenstigen‘, geliebter Graukopf! Der ‚Zahlen!‘ rief, als Kubelik so dummes Zeug quatschte. Ohne Begleitung, wurde von mir augenblicklich registriert, ja: ernsthaft registriert. Und er stand auf, als ich reinkam. Gab keinen ernsthaften Grund dazu. Niemand sonst stand auf. Nichts hielt mich zurück, seine Nähe zu suchen. Auf Gegenseitigkeit. Auch er schien sehr erfreut. Alte Bekannte. Man servierte ein russisches Dessert, ich Nachkömmling wurde vom Kellner gefragt: „Möchten Sie noch das ganze Menü, Frau  Gusič?“ Kellner, der mich kennt, schön. „Nein nein, nur das Dessert.“ Ich bekam nicht gleich eines, er – wer? Na, wer schon? – Er stellte mir seins vor die Nase. Es duftete sehr gut. Alle Reden waren schon gehalten. Erwünscht war, dass nun ’Club-Atmosphäre‘ herrsche. Das kann man wohl wünschen, aber doch nicht eigentlich herstellen.

Da saß ich bei meinem Geliebten. Ihn so zu nennen, geht nur in diesem Kochbuch. Aber er ist es. Ich stellte mit ihm Atmosphäre her. Keine ‚Club-Atmosphäre‘. Wo ist denn Jon? Ich meine, der ist schon da. Aber ich schalte ihn völlig aus. Eine überaus sympathische Unterhaltung bahnt sich an. Da setzt sich dieser Gorilla Kubelik an unseren Tisch – ‚Gorilla‘ nehme ich zurück, die Affen könnten beleidigt sein. Kubelik stellt sich als Intendant vor und sagt: “Ich weiß, wer Sie sind: Doktor der Stimmbänder und Nasenschleimhäute. Doktor, Sie schreiben zu schnell und leichtfertig krank! Ich habe eine Krankmeldung unserer Primadonna Anna Laitzenberger auf den Schreibtisch bekommen. Das bedeutet Gesamtausfall der AIDA am Donnerstag. Das verkraften wir kaum, ein wahnsinniger Einnahmeausfall! Seien Sie doch bitte in Zukunft ein bisschen zurückhaltender im Krankschreiben.“

Doktor also – er nahm Kubeliks Ansinnen recht ungnädig zur Kenntnis und verwahrte sich gegen Vorschriften, wie er krankzuschreiben habe. „Doch keine Vorschriften, Doktor! Ein bisschen Solidarität mit uns vom Theater, mit dem Publikum, mit unserer Kasse. Wer bin ich, Ihnen ins Handwerk pfuschen zu wollen? Nein! Aber vielleicht ein bisschen mehr Zusammenarbeit. Der Buffo geht fast regelmäßig zum Wochenende tingeln, entweder auf Urlaubsschein oder auf Krankenschein. Den Urlaubsschein verantworte ich, den Krankenschein Sie. Beim letzten Intendanten Slatan hatte er es noch einfacher, weil die Frau vom Slatan ja die Soubrette ist und mitging zum Singen im Hühnerstall.“ – „Was macht eigentlich Ihre Frau, Herr Kubelik?“ fragte ich aus ziemlich reiner Neugier. „Ich habe keine – jedenfalls keine ständige,“ glaubte er grinsend hinzufügen zu müssen.

„Was soll ich tun?“ fragte mein geliebter Doktor mit verhaltener Skepsis. „Weniger krankschreiben, weiter nichts.“ – „Ich bitte mir zu glauben, dass ich nach medizinischen Kriterien krankschreibe, nach keinen anderen.“ Das hat er aber fein hochmütig hingekriegt, fand ich.

Kubelik landete einen dicken Coup: „Es ist ja wunderbar, dass die verehrte Henriette  Gusič hier am Tisch sitzt. Passen Sie auf, was ich vorhabe: Wir machen ein Kollektiv auf. Sie, Herr Doktor schreiben krank wie eh und je, nach Ihren medizinischen Kriterien. Sollten Sie einmal nicht so genau abgehört und Sie den Verdacht  haben, dass die Lungen der Laitzenberger in bester Ordnung sind, kann ja mal vorkommen, so eine – also Fehldiagnose, dann rufen Sie mich an, für Sie bin ich dann immer zu sprechen, dann gehen die  Gusič und ich zu ihr und ertappen sie beim Einkaufen oder im Kino statt Bettruhe. Wie finden Sie das?! Das hebt die Gesamtarbeitsmoral. Henriette, machen Sie mit? Wir holen dann auch Presse dazu mit Fotografen, machen das Ganze zu einem allgemeinen Volksfest und steigern die Arbeitsmoral im ganzen Land. ‚Seht ihr,‘ sagen die Zeitungsleser, ‚so gehts Leuten, die sich vor der Arbeit drücken! Und die Henriette  Gusič macht da auch mit. Eine Teufelsperson!‘ “ Und er lachte breit und unangenehm.

Er erntete zunächst Schweigen, aber die Backenknochen meines Graukopfs arbeiteten und er sah bissig aus. Ich war in einem ziemlich ekelhaften Dilemma: Dem Kubelik zu dieser schrecklichen Idee Beifall zu klatschen oder jedenfalls nicht zu widersprechen und auszuweichen, schien opportun, aber die Gefahr, dann in den Augen meines Liebsten als üble Denunziantin dazustehen, überwog. Also fuhr ich die hochmütige Tour: „Genosse Kubelik, über Spitzeltätigkeit steht nichts in meinem Vertrag.“ Der Kerl wiegelte natürlich ab: „Wer redet denn von Spitzelei? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, um den Genossen Lenin zu zitieren. Der Krankenstand im singenden Personal muss runter. Oder den Buffo im Bett treffen und sich mit kleinen Entschuldigungen zurückziehen, mit Foto: Buffo im Bett, hat er gleich zehn neue Freundinnen mehr!“ Kubelik lachte wieder schallend über seinen Witz oder das, was er wohl als Witz empfand. Ich war in Bedrängnis: „Also, ich weiß nicht…“ – „Wir machen das mit der Spaßkiste, mit Ihrer Widerspenstigen haben Sie doch gerade erst die Leute zum Lachen gebracht. Doktor, wie finden Sie die Idee?“ Der wickelte sich geschickt aus der Affäre: „Das sind theaterspezfische Überlegungen, zu denen ich keine Stellung nehmen kann.“ Und ich nahm einigen Mut zusammen: „Schlagen Sie sich die Idee aus dem Kopf, Genosse Kubelik. Oder machen Sie das mit der Kollegin Genossin Slanska.“ (Ja, ich habe ihr die beiden Titel Kollegin Genossin auf einmal verpasst.) „So reizvoll ich es fände, mit dem Herrn Doktor in einem Kollektiv zu arbeiten, aber…“ Oh, diese Weiber!, zu denen ich gehöre. War ja die Wahrheit, aber doch auch feine und gemeine Verführung… Nein, doch nicht gemein. Doch gemein.

Kubelik ging. Endlich. Jon kam. Ungelegen… Das feine Gespräch, das ich nun mit dem Doktor zu führen wünschte, war jetzt nicht mehr möglich. Ich ließ die Männer allein. Sie würden nicht schlecht über mich sprechen. Ich musste auf die Toilette. Gucken sollte man, wohin man geht, nicht, wohin man liebt. Ich stieß sehr heftig und unglücklich mit dem Kellner zusammen. Ihm rutschten drei Eisbecher vom Tablett in der hocherhobenen Rechten, einer so richtig flatsch in mein Dekollté, die anderen auf den Teppich. Mir fiel die Handtasche runter, und ich weiß bis jetzt nicht, wieso ihr Inhalt über den Teppich rollte. Der Lippenstift aus Paris ganz weit weg. Um den kümmerte sich Jon. Mein Doktor hockte sogleich neben mir, um mir zu helfen. Hätte er doch lieber nicht. Da war die Damenbinde, die ich immer zur Sicherheit bei mir habe, die anzufassen er einige Scheu hatte. Ich nahm sie ihm gleich weg. Warum sind wir da so schnell peinlich berührt? Die Menstruation und ihre Hygiene sind seit Menschengedenken natürlichste Selbstverständlichkeit und er ist schließlich Arzt. Aber wir tun so, als sei das eine ganz schmutzige Sache. Ich muss richtigstellen: Mein Doktor blieb eigentlich ganz gelassen, hatte nur Scheu, sie anzufassen. Er griff dann nach dem Brief, aber auch da kam ich ihm zuvor. Ich weiß nicht, ob er in der Handtasche prinzipiell gut aufgehoben ist. Wieso zuckte er beim Griff nach dem Brief so erschrocken zurück, als sei er glühendes Eisen. Schließlich standen wir alle wieder auf Augenhöhe. Um mein Dekollté kümmerte ich mich selber, da konnte mir nur Jon ein wenig zur Hand gehen. Bezaubernde Ausmalungen, dass mir der Herr Professor da geholfen hätte…

Es blieb ein süßer Schleim kleben, der mir so zuwider war, dass ich mich entschloss, nach Hause zu gehen. „Jon,“ sagte ich, „immer, wenn ich zu einer Probe mit dir gehe, freue ich mich. Zu den derzeitigen Proben gehe ich wie zu einer Folterkammer. Doktor, es war mir ein großes Vergnügen, ein bisschen zu süß vielleicht.“ Viel Augensprache meinerseits. Ich konnte gar nicht anders.

Das war ein langer Tag. Und ich habe wunderbar lange durchgehalten, ihn zu beschreiben.

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Sofia, am Freitag, den 23.9.7.47 

Ich war auf dem Weg zur Kostümprobe, sehr früh vor der Probe in meiner Folterkammer. Im Turm die Wendeltreppe rauf zur Schneiderei. Ich schaute aus einem der kleinen Fenster auf den Theaterplatz. Da fuhr eine schwarze Limousine vor, drei Herren stiegen aus, Hüte auf den Köpfen, ich musste an Marias Schilderungen denken. Kubelik kam aus dem Theater gerannt. Unterhaltung am Rinnstein in ziemlich heftigem Wind, die drei Männer mit wilden Gestikulationen der Arme, hatte was von Köpfeabschlagen mit langen Schwertern. Maria Stuart. Mir wurde einen Moment schlecht im Magen. Schlugen die  mir den Kopf ab? Eine sehr heftige Unterredung von einer halben Minute. Kubelik nickte eigentlich nur mit dem Kopf. Dann stiegen die Männer wieder ins Auto und fuhren ab. Und Kubelik rannte in einem für seine stämmige Figur sehr schnellen Lauf ins Theater zurück. Sehr nachdenklich schlich ich langsam zur Schneiderei hinauf. Aus der kam mir Kubelik schwer atmend entgegen. Er konnte nur keuchen: „Genossin  Gusič, verehrte…“ War der hier rauf geflogen? Ich hielt das Textbuch ganz unabsichtlich auf Taillenhöhe in der Hand. Er nahm es mir ab, sagte „Danke“ und verschwand. Zum ersten Mal der Gedanke, ob es hier wirklich um meinen Kopf gehen wird.

In der Schneiderei höchst fatale Situation. Die Kostümmaus wundert sich: „Wieso kommen Sie denn nochmal zur Anprobe, Genossin  Gusič?“ Ich denke, sie will mir doch die zu engen Kostüme aufschwatzen: „Ich spiele die Rolle nicht in diesen engen Klamotten!“ – „Ich denke, Sie spielen die Rolle überhaupt nicht.“ – „Was?“ – „Hat mir der Genosse Kubelik eben gesagt.“ Ich rase runter, ist ein langer Weg durch das ganze Haus von dieser Schneidereimansarde bis auf die Bühne. Irgendwo proben die Symphoniker ein schmetterndes Mozart-Finale. Kaum bin ich durch die Bühnentür, höre ich meine Kollegin Slanska meinen Text sprechen. Ich schleiche mich zum Inspizientenpult und schiele aus der ersten Gasse auf die Bühne. Keiner sieht mich. Die Slanska probt mit den Kollegen eine Szene aus GROSSE TATEN. Plötzlich höre ich in meinem Nacken eine samtweiche Stimme: „Verehrte Henriette  Gusič -“ Ich bin so erschrocken, dass ich aufschreie. Die Probe erstarrt, alle schauen zum Inspizientenpult. „Schade,“ sagt Kubelik, „ich hätte es gerne diskreter erledigt. Ich denke, wir tun uns alle einen großen Gefallen, wenn ich Sie umbesetze.“ Ich bin zutiefst getroffen und maßlos empört: „Was? Mich umbesetzen? Das nennen Sie einen großen Gefallen?“ – „Etwa nicht?“ fragt Kubelik. „Die Kollegin Slanska ist schon wieder am Probieren. Gehen Sie zu Ihrem Freund Jon, er wird sich freuen, wenn Sie die Blanche spielen.“ – „Moment mal!“ Ich gehe mit großen Schritten und weit ausgreifenden Armbewegungen wie eine Schwimmerin beim Kraulen auf die Bühne. „Einen Moment! Eine solche Umbesetzung, – das haben Sie ja nicht allein zu entscheiden. Das kann man ja nur, – das können doch nur wir beide im beiderseitigen Einvernehmen, also nur mit meinem Einverständnis.“ Kubelik ist denn doch sehr erstaunt: „Sie sind nicht einverstanden?“ – „Mitnichten und keineswegs! Man kann einer Henriette  Gusič nicht einfach eine Rolle wegnehmen und sie einer putendummen Kollegin hinschmeißen. Das wird nichts! Noch dazu in einem Stück von so hoher politischer Bedeutung!“

„Gestern beliebten Sie zu sagen, das Stück sei Scheiße!“ – „Dass das Stück Schwächen hat, wird ja wohl Niemand leugnen. Aber in der Gesinnung und so… Wie stehe ich denn da? Die große Henriette  Gusič kann keine sozialistischen Texte sprechen, was? Die kann keine Arbeiterfrau spielen. Die ist ein Fall für die Staatssicherheit. Nein, nicht mit mir! Mich kann man nicht umbesetzen. Das hätten Sie sich früher überlegen sollen. Wir proben weiter, los. Slanska, gib mir mein Textbuch. Wo waren wir?“

Kubelik wurde ziemlich eiskalt: „Wir proben weiter, ja. Aber die Genossin Slanska spielt die Hauptrolle. Und Sie, Kollegin  Gusič, spielen sie nicht. Was Sie da von der Staatssicherheit brabbeln, ist Quatsch, das wissen Sie selber. Ich möchte Sie bitten, die Bühne zu räumen.“ Da stand ich plötzlich am Bühnenrand, rechts vorne an der Rampe. Völlig ungeniert fing Kubelik an zu probieren. Ich rührte mich nicht. Ich ließ es geschehen. Wie ein sanfter Wind wehten die schrecklichen Texte an mein Ohr. Sekundenfetzen von Freiheit glucksten mir durch die Seele. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich da unbeweglich stand. Nur ganz am Rande bekam ich mit, wie die Slanska mit Kubelik flüsterte. Und der dann sagte: „Kollegin  Gusič, wir wären dankbar, wenn Sie die Bühne verlassen würden. Der Kollege Jon wartet auf Sie und Ihre Blanche.“ Ich verstand und ging. Nein, nicht durch die erste Gasse, sondern durch den Zuschauerraum, langsam wie Medea im fünften Akt. Kurz bevor ich die Tür in die Freiheit des Foyers erreichte, fiel mir etwas ein, etwas sehr Ungutes, wie sich herausstellen wird. Ich holte den Brief aus meiner Handtasche und rannte zur Bühne zurück: „Hier habe ich den Beweis meines Rechts! Hier! Wer so einen anonymen Brief bekommt, hat alle Rechte eines loyalen Bürgers, der steht zum Sozialismus ohne Wenn und Aber! Dem kann man nicht eine große Rolle der Staatsbejahung wegnehmen und ins Putendumme schmeißen. Lesen Sie!“

Reichlich verwundert nahm Kubelik den Brief und las. Ich rief: „Genossen, lest mit und seht, welches Unrecht mir beinah geschehen wäre.“ Die Kollegen strömten hinter Kubelik, der ziemlich bald sagte: „Warum zeigen Sie mir das?“ – „Um Ihnen zu beweisen, was das Volk von meiner politischen Gesinnung hält.“ – „Das verstehe ich nicht,“ sagte Kubelik. Ich war so erregt, dass ich nicht mehr wusste, was ich sage und den nächsten Riesenquatsch machte: „Der Brief ist von der Slanska, das ist doch klar.“ – „Was?“ rief die Slanska, „die  Gusič spinnt! Ich habe gar keine Schreibmaschine.“ Kubelik hatte sich das Papier noch einmal genauer angesehen: „Kollegin  Gusič, warum Sie mir diesen Brief zeigen, verstehe ich nicht. Dieses hochspringende A erinnert mich übrigens an andere Schriftsätze, ich weiß nur nicht, welche. Seines Inhalts wegen gehört der Brief zur Kriminalpolizei, das ist doch klar.“ Plötzlich erkannte ich alle Folgen: „Nein!“ schrie ich und wollte den Brief wiederhaben. Aber Kubelik entzog ihn meinem Zugriff und beauftragte seinen Assistenten: „Javer, erledigen Sie das. Bringen Sie den Brief zur nächsten Polizeistation. Das hätten Sie schon lange machen müssen, Genossin  Gusič. Das sind doch eindeutig staatsfeindliche konterrevolutionäre Umtriebe.“ Ich versuchte, an den Brief zu kommen: „Hergeben, das ist mein Brief, hat nichts mit der Polizei zu tun! Ja, ich geh zur Polizei, wenn Sie mir mein Eigentum nicht wiedergeben!!“ Kubelik donnerte: „Javer!, gehen Sie.“ Dieser Javer meinte: „Soll ich nicht lieber gleich rüber zur Staatssicherheit?“ Und Kubelik bestätigte: „Ja, noch besser. Weg mit Ihnen!“

Ich war den Brief los. Schrecklich! Was tun? Dieser Javer ging. Ich auch. Wieder durch den Zuschauerraum, aber nicht wie Medea, letzter Akt, sondern wie von Furien gejagt. Ich wollte Javer noch abfangen. Aber auf der Straße war er nicht zu entdecken. Doch! Da drüben ging er in ein Haus. Genau das Haus, das der anonyme Briefschreiber als Zentrale der Staatssicherheit beschrieben hatte, zwei Straßen weiter vom Theater. Ich war viel zu aufgeregt, um bremsen zu können. Ich rannte hinterher, rein in die Hölle. Nein, war gar keine Hölle. Altes Adelspalais. Da standen lauter Bewaffnete. Einer fragte, was ich denn wolle. Da kam ich langsam wieder zu mir. Wie sollte ich das erklären? Einen anonymen Brief wiederhaben, den der Javer vom Theater – ich stockte und wusste nicht weiter. Der Soldat fragte in die Runde: „Weiß hier Einer was von einem anonymen Brief?“ – „Ja, da kam ein junger Mann, haben wir gleich raufgeschickt zur WOT/III.“ – „Da muss ich auch hin!“ rief ich sofort und rannte zur breiten Treppe. Aber da wurde ich am Arm gepackt und zurückgehalten. „Halt! Das geht nur mit Passierschein!“ Ich schaffte es nicht, den Mund zu halten: „Hatte denn der Javer auch einen Passierschein?“ Nein, der habe doch diesen Brief gehabt, der ja nur so strotzte von volksrepublikfeindlichen Äußerungen, der musste sofort zur WOT/III. „Aber dass das Alles so schnell geht.“ – „Wenns bei der Staatssicherheit nicht schnell geht, Genossin, dann stirbt die Revolution!“ Beim Ausfüllen des Passierscheins durch einen der Soldaten kam es zu blödesten Missverständnissen: Zweck des Besuches: Anonymen Brief abholen. Was? Der sei doch höchst staatsgefährlich! Also – Was also? „Der Brief ist mein Eigentum! Den muss ich wiederhaben.“ Da sähe er aber keine Chance – was einmal in die WOT/III komme, das laufe sehr schnell zu den damit befassten Organen der Staatssicherheit, und dann zu den Ausführungsorganen. „Aber es ist mein Brief.“ Ein Soldat sagte eisig: „Würde ich nicht so laut sagen.“

Da kam Javer die Treppe runter und rief: „Alles erledigt, Genossin  Gusič.“ Ich rief: „Was? Wieso erledigt? Moment!“ und rannte zu ihm, wollte ihn aufhalten, er aber war geschickter und schneller: „Ich muss ins Theater zurück. Der Genosse Kubelik wartet ja!“ Und schon war er weg. Ich rannte noch hinterher, aber er hatte einen zu großen Vorsprung. Und was hätte er mir sagen können? Vor dem Überqueren des Fahrdamms blieb ich abrupt stehen und fragte mich: War ich eigentlich noch in Bulgarien, in meiner Heimat? Zurück in die Staatssicherheit? Unsinn – zu Jon ins Kleine Haus.

Der war mitten in der Probe und wusste natürlich von gar nichts. Nur, dass die Slanska nicht gekommen war, die er doch für die Blanche brauchte. Jon unterbrach die Probe, und wir gingen in meine Garderobe. Ich war außerstande, in einiger Ordnung zu erzählen. Jon verstand das mit dem Brief gar nicht und freute sich wahnsinnig, dass ich die Blanche spielen würde. Ach Gott, war das im Augenblick schön! Aber im nächsten Augenblick stießen wir schrecklich aneinander: „Jon, ich sterbe,“ sagte ich, „die Staatssicherheit -“ Jon kann mich so nicht leiden, das weiß ich, er unterbrach mich: „Red keinen Unsinn! Und red dir nicht ein, dass du stirbst! So leicht geht das nicht.“ – „Leicht! Er redet von leicht. Er ist ahnungslos wie ein blöder Knabe, du hirnrissiger Schwachkopf!“ Da wurde er pampig und drechselte einen seiner berühmt-berüchtigten Sätze: „Wenn ich auch nur ein bisschen von dem verstanden habe, was du heute angestellt hast, inklusive der Beschimpfung deines treuesten Freundes als Schwachkopf, dann scheint mir die Hirnrissigkeit mehr auf deiner Seite zu liegen. Henriette, hör zu, du hättest um die Rolle kämpfen müssen, du musst jetzt noch um sie kämpfen! Du kannst dich nicht einfach umbesetzen lassen.“ – „Um diese Scheißrolle kämpfen? Nein!“ – „Es geht nicht um die Scheißrolle.“ – „Sondern um was?“ – „Ums Politische. Wir kommen in Teufels Küche. Die Staatssicherheit klingelt bei mir und bei dir. Sie durchwühlen unsere Wohnungen.“ – „Ich habe nichts zu verbergen.“ „Du redest Quatsch! Du weißt doch aus dem Brief, wie sie mit Leuten umspringen, bei denen sie den leisesten Verdacht haben.“ – „Hast du etwa Angst?“ – „Ja. Du nicht?“ – „Nicht die geringste. Jon, hilf mir!“ – „Ich kann dir nicht helfen.“ Ich wurde lauter: „Hilf mir!“ – „Wie soll ich dir denn helfen?“ Ich schrie: „Hilf mir!!!“ Ich japste nach Luft und wollte noch was sagen, aber die Stimme gehorchte mir nicht mehr. Nichts, ein leises Röcheln: „Meine Stimme!…“ Sofort wurde Jon wieder fürsorglich: „Red jetzt nicht, das geht ganz schnell wieder weg. Komm rüber, wir proben, du spielst die Blanche.“ Nur mit größter Mühe sagte ich: „Kann ich nicht, Stimme weg.“ Er hatte ein Einsehen: „Wie ernsthaft?“ Gekrächz: „Ganz ernsthaft.“ – „Gut, ich bring dich sofort zum Arzt.“ Ich schwöre, dass ich in diesem Augenblick nicht wusste, wer dieser Arzt ist. Ich folgte Jon, sehr verunsichert.

Jon sagte seiner Spielerschar, er müsse eine weitere Viertelstunde was erledigen. Sie sollten dann bitte wieder da sein. Und wir gingen zum HNO-Arzt Professor Doktor Fabricius Capet.  Als ich dessen Schild sah, wurde mir schlagartig klar, wohin Jon mich führte: Zu meinem Liebsten. Ich wollte nicht. Jon wurde wieder etwas pampig: „Henriette, bitte hör jetzt mit deinen ewigen Widerständen auf. Komm mit rauf zum Arzt und lass dich behandeln. Du kennst ihn.“ – „Ja,“ hauchte ich. Er lieferte mich ab und verabschiedete sich zärtlich: „Ich schaue nach der Probe auf jeden Fall hier noch einmal vorbei. Sonst sehen wir uns bei dir und ich brutzle dir ein Aprikosenmarmeladeomlett.“ Ich konnte nur „Danke“ flüstern. Er ging und ahnte nicht, wo er mich zurück ließ.

Die Sprechstundenhilfe war äußerst höflich und zuvorkommend: „Warten Sie bitte hier, Frau  Gusič. Herr Doktor wird Sie dann gleich drannehmen.“ Sie ging ins Sprechzimmer und meldete mich wohl an. Ja, von diesem Doktor wäre ich liebend gern gleich drangenommen worden. Sehr bald kam sie wieder raus, der Doktor mit weit geöffneten Armen hinterher: „Henriette  Gusič, welch ehrenvoller Besuch in meiner bescheidenen Praxis. Zwei Minuten, vielleicht drei und ich darf Sie bitten.“ Labsal war das ganz einfach. Wo war alles andere, was an diesem Vormittag passiert war?

Es dauerte dann doch fünf Minuten oder gar noch etwas länger. Die Tür ging auf, und ein Patient kam heraus; ich fand, er sah geheilt aus, wahrscheinlich Quatsch der Liebe. Capet hinterher: „Darf ich nun bitten, verehrte Frau  Gusič.“ Wir gingen ins Sprechzimmer, saßen einander in der bekannten Position gegenüber, sein Schreibtisch zwischen uns. Bis er sehr schnell merkte, dass ich kaum sprechen konnte. Da untersuchte er meinen Hals – von innen, mit seinen Instrumenten und den Augen, von außen mit den Händen, Kinn, Wangen, Hals. Für mich waren es Berührungen von großer erotischer Fingerfühligkeit. Für ihn? Arztroutine – oder? „Hm,“ sagte er schließlich, „eine leichte Reizung der Stimmbänder, aber dass Sie so gar nicht sprechen können…“ Er pinselte etwas in den hinteren Rachen, was gar nicht angenehm war. Ich rotzte etwas Schleim hervor, spuckte in die dafür vorgesehene Schale. Nah saßen wir hier einander gegenüber und er erläuterte: „Das sieht nicht irgendwie beängstigend aus. Ruhe, Stimmbänder schonen, soll ich Sie krankschreiben?“ –  „Ja, das wäre sicher gut.“

Er füllte das Formular aus und unterschrieb es und gab es mir. Ich nahm es. Er fuhr fort: „Sowas kann oft psychische Ursachen haben. Frage also: Sind Sie in letzter Zeit psychisch belastet worden? Hat es irgendwie innere Kämpfe oder sowas gegeben?“ Ich nickte lebhaft und versuchte zu erklären: „Ja, Nöte im Theater – und ein anonymer Brief, der mir schwer zu schaffen machte und mit dem -“ „Der Brief ist von mir.“ Ganz erstaunlich ruhig krächzte ich nur: „Die Gladiolen auch?“ Er lächelte ein Dammbruch-Lächeln: „Ja, die Gladiolen auch. Natürlich.“ – „Was ist daran natürlich?“ Dann hastete ich krächzend hervor: „Sie sind in größter Gefahr, der Brief ist bei der Staatssicherheit.“ Er schien mir nur ganz kurz irritiert: „Aber – Sie haben ihn nicht dorthin gebracht?“ Ich entrüstete mich: „Nein! Aber durch meine Dummheit ist er – Sie müssen sofort fliehen!“ Er schüttelte den Kopf. Es klingelte, lange und – wie mir schien – scharf.

Er stand auf. Ich auch, ich umarmte ihn sehr heftig, er erwiderte die Umarmung mit festen, so wunderbar zupackenden Armen. So standen wir, als die Tür aufging und zwei Milizionäre eintraten. “Bürger Capet, Sie sind verhaftet!“ schnarrte der eine Milizionär. Oh, wie bezaubernd er fragte: „Ein Kuss ist noch erlaubt?“ Der Milizionär war irritiert, schaute den Kollegen an. Der nickte. „Ja,“ sagte der andere zu Capet. Und Fabricius Capet küsste mich. Zum ersten Mal… Für die Milizionäre musste es den Anschein haben, als sei es ein Abschiedskuss zwischen lange Liebenden. ‚Gut so,‘ dachte ich, weiß nicht, wieso. Der eine Milizionär wollte Fabricius‘ Arm von meiner Schulter nehmen. Er drehte sich rasch um und sagte: „Ich gehe freiwillig mit Ihnen. Ist das klar?“ – „Ist klar, Genosse Doktor.“ Er ging zur Tür und wies mit dem Arm nach draußen: „Bitte, Genosse Doktor.“ Fabricius nahm einen Arm von meiner Schulter. Mit dem anderen fuhr er über meine Schultern und mit der Hand den Arm hinunter, bis seine Hand in meiner landete. So gingen wir Hand in Hand durch die Tür und durch die Reception zu Praxistür. Er zog meine Hand hoch und küsste sie, innig, anders kann ich es nicht nennen.

Und dann? War er weg. Ich versuchte, mit Trippelschritten das eben Geschehene zurückzulaufen: Tür zu, Abgang Fabricius durch die Tür der Praxis, die ins Treppenhaus führte, Handkuss, kurzer Gang zur Tür, Liebkosung meines Rückens, Hand findet Hand,  Kuss, Umarmung… Nein, ich war nicht von dieser Welt, wie ich da vor der verschlossenen Tür stand. Sehr behutsam fasste mich die Sprechstundenhilfe an den Schultern. Ich wachte auf, zutiefst erschrocken. „Sie haben Ihren Chef verloren,“ krächzte ich. Sehr liebevoll erwiderte sie: „Und wen haben Sie verloren?“ Ich nickte nur. Und fragte dann fast ohne Stimme: „Wie soll das weitergehen?“ – „Vielleicht mit einem Taxi?“ fragte sie nett. Ich nickte wieder. Taxis besorgen, das schaffen bei uns dato nur Ärzte oder Bonzen. „Bitte, zu Hause hinlegen. Nicht oder nur das Nötigste sprechen.“ – „Ich geh mal schon runter,“ sagte ich und öffnete die Tür. „Soll ich mit runterkommen?“ – „Nein nein, das schaff ich schon.“ Ich schaffte ein Lächeln: „Wiedersehn – und schönen Dank. Ich weiß aber nicht, wofür… Doch: für Ihre Liebe.“

Da stand ich im frühen Abendverkehr. Wenige Autos, viele Pferdefuhrwerke vom Land, vom Landwirtschaftsgürtel, Leute mit Schubkarren, Radfahrer. War ich noch in der Heimat, in Bulgarien? Waren die Leute alle meine Landsleute, vielleicht sogar mein Publikum? Oder lauter Spitzel?

Zu Hause war Jon, in der Küche brutzelte ein Aprikosenmarmeladenomlett. Er wollte nun alles ganz genau wissen, hatte ja meine Erzählung von den Vorfällen im Theater kaum verstanden. Sollte ich alles erzählen? Nein, ich erzählte nur das Medizinische, dass ich krankgeschrieben sei, redete mich raus mit der Stimmbandreizung und dem Schweigegebot des Arztes. Kein Wort vom Brief und seiner höchst fatalen Rolle. Nein, es würde schwer werden, über alles zu sprechen, mit Jon oder mit anderen. Was war ich denn nun? Eine Frau zwischen zwei Männern? Klassisches Dreieck? Lustspiel? Lustig ganz bestimmt nicht. Ich bat mit ersterbender Stimme: „Bleibst du bitte die Nacht über hier?“ – „Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.“ Ein wenig erstaunt war er wohl, als ich auf seine Intimitäten nicht einging. Nein, das konnte ich nicht – Fabricius hatte mich umarmt und geküsst. Und da warteten ziemlich sicher noch andere Überraschungen in der Kulisse. Jon flüsterte mit heißem Atem in meinen Nacken: „Meinst du nicht, Amore würde dir guttun?“ Ich kann diese Anspielungen auf die gute Wirkung von Sex nicht leiden und flüsterte zurück: „Amore würde im Augenblick alles kippen.“

Jon schläft. Drei Stunden lang habe ich dieses Tagebuch geschrieben, weiß der Himmel, wo ich die Kraft dafür hernehme.

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Sofia, am Samstag, den 24.9.1947

Alleine aufgewacht. Jon hat sich davongeschlichen. Mir sehr recht. Denn ich muss ja nun Strategien entwickeln. Ja, ich muss Fabricius, meinen Liebsten, aus den Gefängnissen oder Lagern der staatlichen bulgarischen Securitate befreien. Das mag ungeheuerlich klingen, aber es bleibt so stehen.

Zum ersten Mal schreibe ich am frühen Morgen, im Licht der frühen Sonne. Ich bin krankgeschrieben, ich muss nicht auf die Probe, Rolle Blanche geistert irgendwo in einer anderen Welt. Bin ich Schauspielerin? Wer mich fragte, wen ich denn aus dem Gefängnis zu befreien hätte, so hieße die Antwort ganz deutlich: meinen Liebsten. Dass das klar ist: Ich will keinen Coup landen, nicht ausbrechen, nicht einbrechen, ich will nicht meinerseits kriminell werden, es soll keine Sensationen geben. Hoffentlich kann ich das durchstehen.

Maria kam sehr früh, brachte Eier und ein Hähnchen, das sie am Abend zu braten versprach. Ich fragte sie nach ihrem Bruder, der ein Milizionär ist. Sie träfe sich ohnehin heute am späten Nachmittag mit ihm. Ob sie ihn mitbringen solle? Ich sagte Ja. Ich tastete mit ein paar Fragen herum, ob er von der schlimmeren Sorte sei. Nein, ist er nicht, wäre mir als Bruder von Maria auch verwunderlich gewesen. Aber Milizionär bedeutet erst mal gar nichts. Alle Geheimdienstler sind Milizionäre, aber nicht alle Milzionäre sind Geheimdienstler. Ich fragte Maria, in welchen Funktionen ihr Bruder denn diene. Das wusste sie nicht.

Einen Anwalt suchen. Was für eine äußerst heikle Angelegenheit. Wie offen spricht man da, was muss man verschweigen, was ist die effektvollste Vorgehensweise? Vielleicht könnte mir der frühere Intendant Slatan helfen. Wie mag es ihm gehen? Rausfinden, in welchem Gefängnis Fabricius sitzt. Ich muss mir darüber im Klaren sein: an falscher Stelle offen reden, könnte Fabricius‘ Tod bedeuten. Aber: Angst bannen, Angst ist kontraproduktiv, Angst ist ein ganz schlechter Lotse! Mut ist eine Klugheit, dabei radikales Nein zum Über-Mut. Das Schifflein zwischen den mörderischen Riffen mit größter Behutsamkeit steuern. Mensch, Henriette, jetzt wirst du niedlich!… Lass das!

Am selben Tag abends.

Wegen eines Rechtsanwaltes war ich in der Praxis. Die Sprechstundenhilfe war sehr hilfreich, hat mir Fabricius‘ Rechtsanwalt genannt, ihn gleich angerufen, mir einen Termin für übermorgen ausgehandelt, Montag, 10 Uhr 30.

Dann war ich noch dabei, wie die Staatssicherheit klingelte und die Praxis durchwühlte, äußerst brutal und ohne die geringste Achtung vor dem Eigentum eines Bürgers. Das ist sicherlich Absicht, Angst machen steht groß auf ihren Transparenten. Nicht wirklich. Die Sprechstundenhilfe und ich kümmerten die Milizionäre überhaupt nicht. Sie suchten verbissen und fanden nichts, und je weniger Verdächtiges zum Vorschein kam, desto wütender wurden sie. Man darf unterstellen, dass es für ihre Position bei der Truppe höchst wichtig war, Beweise abzuliefern, Erfolge zu haben. Aber hier war kein Flugblatt, keine westeuropäische Zeitung, keine Notizen, nichts Verdächtiges. Aber eins war da: eine Schreibmaschine. Sie zwangen die Sprechstundenhilfe ein Blatt einzuspannen und einige Sätze zu schreiben, „egal was“. „Ich schreibe nur, was Sie mir diktieren,“ sagte sie. „Schreiben Sie: Volksfeind Professor Doktor Fabricius Capet ist ein Schädling im Volkskörper und muss eliminiert werden. Solche wollen wir  nicht. Das genügt.“

Der Milizionär riss das Blatt aus der Maschine und schaute es genau an: „Genosse, das ist die Maschine, mit der der anonyme Brief geschrieben wurde. Immer springt das a hoch. Beschlagnahmt.“ Er klemmte die Maschine unter den Arm und verschwand mit seinem Genossen.

Wir standen sehr belämmert da, die Sprechstundenhilfe und ich. Dann umarmten wir einander, wortlos, heulend.

Mittags habe ich in der Theater-Kantine gegessen. Ich will keinerlei Abschottung praktizieren. Die Slanska saß allein an einem Tisch. Ich setzte mich zu ihr. Sie sagte als erstes: „Ich freue mich sehr, dass du dich an meinen Tisch setzt. Ich hoffe, wir werden ein paar Worte miteinander reden.“ – „Wann ist nun deine Premiere?“ – „Hör auf!“ Ich hielt es für klug, erst mal nichts weiter zu sagen. Wir löffelten Suppe. Die Slanska erzählte dann doch noch ein bisschen was: „Wir gehen alle auf dem Zahnfleisch. Kubelik kann nicht mehr verschieben. Wir haben vier Tage verloren. Die Sache mit dir an meiner Stelle war Quatsch.“ – „Ganz sicher.“ Die  Slanska war sehr erstaunt: „Das sagst du selber?“ – „Was sonst?“ Suppe löffeln. Ich redete dann weiter: „Ich meine, Kubelik fehlt es an ganz simpler Theaterpraxis.“ – „Genau so ist es. Er weiß zum Beispiel gar nicht, was Auswendiglernen bedeutet, dass man dazu nicht Milizionäre abkommandieren kann, dass Geduld auch unter schrecklichem Termindruck praktiziert werden muss,- nun hängt alles an dieser minderbemittelten Souffleuse. Das Stück ist nicht sehr doll.“ – „Aber es ist politisch…“ – „Einwandfrei. Jeden Satz kann ich als Genossin unterschreiben. Aber das macht noch kein gutes Stück.“ – „Genau das fand ich auch. Die beste Gesinnung macht aus Thesen noch keine Kunst, nicht mal Kunstgewerbe.“ – „Du sprichst genau das aus, was ich auch meine. Es hilft nur Alles nichts…“ Ich stand auf: „Ich wünsch euch was.“ – „Danke, wir könnens brauchen.“ Ich ging und fand, dass die Slanska keineswegs eine Putendumme ist. Ich hatte da ein ganz blödes Vorurteil. Nicht gut.

Ich sah Jon aus der Ferne, ich ging ihm aus dem Weg. Wo ist mein Liebster Fabricius? Ahnt er, dass ich ihn suche? Er weiß, dass ich ihn liebe, nicht wahr? Müsste man vielleicht mal ein paar Sekunden Gedanken daran verwenden, ob er nicht gebunden ist? Da könnte eine Ehefrau sein, eine täglich vertraute oder vernachlässigte. Wieso vernachlässigt? Das macht Fabricius schlecht. Nein, aber vielleicht getrennt, in beiderseitigem Einvernehmen. Was man da so alles losspinnt. Da könnte eine langjährige Geliebte sein, da könnte ein junges Reh auf ihn so warten wie ich. Oder geht er mit seiner Sprechstundenhilfe ins Bett? Ja, darüber kann man nachdenken. Oder auch nicht! Lieber nicht. Ich will versuchen, nur an die Dinge zu denken, die zu seiner Befreiung führen. Er wird nicht mit Gedanken befreit, nur mit Taten! Hätte es irgendeinen Sinn, mit der Opposition Verbindung aufzunehmen? Nicht definierbares Feld. Also weg. Nein, vorsichtig suchen.

Am späten Nachmittag brachte Maria ihren Bruder mit zu mir. Sie ging in die Küche und briet das Hähnchen. Ich hatte einige Mühe, mit ihrem Bruder zu sprechen. Aber es war am Ende gut, sehr gut.

„Was tun Sie denn?“ fing ich an. Er blieb das ganze Gespräch über sehr kühl, engagierte sich nicht irgendwie: „Ich bin Milizionär.“ – „Das sehe ich an Ihrer Uniform. Aber nicht alle Milizionäre tun dasselbe.“ – „Nein,“ war alles, was er dazu sagte. Ich holte Luft und sprudelte los: „Ich frage Sie jetzt ganz direkt und weiß, dass es ein Riesenzufall wäre, wenn Sie es mir sagen könnten: Wissen Sie, in welchem Gefängnis mein Liebster, der Arzt Professor Doktor Fabricius Capet eingekerkert ist?“ – „Ja, ich habe ihm heute morgen einen Brief von der Staatsanwaltschaft überbracht.“ Das war denn doch eine erstaunliche Nachricht, viel Grund zur Freude: „Was? Ihm ganz persönlich?“ – „Ja. Durch die Gitter gereicht. Von ihm den Empfang per Unterschrift bestätigt.“ – „Und was in dem Brief drinstand..“ – „Keine Ahnung, nicht mein Dienst.“ Ich wollte es nun genau wissen; „Wo ist er?“ Und er stellte die überaus wunderbare Gegenfrage: „Möchten Sie zu ihm?“ Mein Herz kochte: „Ja.“ – „Ich kann das einrichten.“ Ich wollte wissen: „Offiziell?“ Kühl bis ans Herz: „Nein, nicht offiziell.“ – „Wie nennt sich denn Ihre Funktion?“ wollte ich nun wissen. „Ich bin Bote.“ – „Muss ich verstehen, wieso mir ein Bote zu so einem inoffiziellen Besuch verhelfen kann?“ – „Nein, das müssen Sie nicht verstehen. Muss der eine Bonze zum Mittagessen gehen, ist der andere Bonze noch nicht da. Mehr müssen Sie nicht verstehen.“ Ich wollte wissen: „Ist das gefährlich?“ – „Ja.“ – „Für wen?“ – „Für alle, die mitmachen.“ – „Was kostet es?“ „2.000 Lewa.“ Ich zog ein Gesicht und ließ ein ganz leises „Oh…“ hören. Gleich sagte er: „Es geht auch für 200 Lewa oder 20 oder 2 Lewa.“ – „Wer entscheidet das?“ – „Ich.“  Seine Antworten verblüfften mich immer mehr und mir fiel die Bemerkung ein, die mir klug schien: „Vielleicht entsteht der Eindruck, ich sei  reich.“ – „Nein,“ sagte er, „nichts, keine Lewa für Henriette  Gusič.“ – „Danke. Wann?“ – „Ziemlich sicher am nächsten Mittwoch, Mittagszeit. Ich möchte nicht mehr in dieses Haus kommen. Man wird so schnell observiert. Sie erfahren alles von Maria.“

Ich fühlte mich in surrealistischen Gefilden. „Essen!“ rief Maria und brachte das gebratene Hähnchen rein, schön umrandet mit Bratkartoffeln und Gemüse. Ich fragte den jungen Mann: „Darf ich Sie zu einer kleinen Portion Brathähnchen einladen?“ – „Gern,“ sagte er ganz gelassen. Warum attestiere ich ihm Gelassenheit? Warum sollte er nicht gelassen sein? Ich sagte: „Mehr haben wir nicht. Wir essen mit Ihrer Schwester.“ Das taten wir. Bei der Verabschiedung hauchte ich zwei Küsse auf seine Wangen. Völlig unerwartet wurde er dunkelrot vor Verlegenheit. Ich habe in meinem Leben schon manches Männerrätsel knacken müssen, hier scheiterte ich zunächst. Was für ein Mann ist dieses Jüngelchen?

Und dass er wusste, wo Fabricius einsitzt!… Welch ein Zufall! Immer wieder in meinem Leben, in Abständen muss ich fragen: Was ist Zufall? Dann kroch die Angst vor der Begegnung mit dem gefangenen Geliebten, der er ja noch gar nicht ist, – gefangen schon – über mich. Was sagen, was hören, was entscheiden? Wo hinschauen? Wie ist er gekleidet? Wieviel Wachleute stehen da rum? Viele sehr böse Gerüchte kursieren über die Zustände in unseren Gefängnissen. Und ich weiß doch genau, dass von der Beantwortung solcher Fragen gar nichts abhängt! Um meine Freiheit von mir selbst kämpfen. Nur wenn ich in größter Unabhängigkeit diesen Kampf durchstehe – Hygienischer Quatsch! Vielleicht manchmal die Hände falten statt waschen. Im wilden Durcheinander stecken ungeahnte Kräfte! Muss ich ihm frische Wäsche mitbringen? Nein, eine Gladiole. Wegen der Wäsche werde ich ihn fragen. Heute ist Samstag. Wie soll ich die Zeit bis Mittwoch zur Mittagszeit überstehen? Größten Bammel vor der Leere des morgigen Sonntags. Als ich ein Kind war, gingen wir in den Gottesdienst. Übermorgen wenigstens der Anwalt.

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Sofia, am Sonntag, den 25.9.1947

Aequinoctium, Wort aus der Schulzeit, Tag- und Nachtgleiche. Nein, war, war vor drei Tagen. Fand ich immer sehr aufregend. Warum eigentlich? Ich habe noch eine alte Petroleumlampe, sie hat in Kriegszeiten gute Dienste getan. Jetzt brauche ich sie immer noch, denn die Stadt Sofia kann ihre Einwohner nicht ausreichend mit Strom versorgen. Plötzlich geht das Licht aus, aber ich sitze dann nicht im Dunkeln, sondern kann im Licht der Petroleumlampe dieses Kochbuch schreiben. Hat etwas Altertümliches, auch Gemütliches, auch ein bisschen verführerisch, Urlaub von der Wirklichkeit zu nehmen.

Es war gar nicht der ereignislose Sonntag, den ich befürchtet hatte. Es war ein guter Tag. Weil ich zum Denken gekommen bin. Ich habe einfach mal sehr gründlich überschlagen, was mir bevorsteht: Der Rechtsanwalt am Montag. Der Besuch im Gefängnis der Staatssicherheit am Mittwoch. Wenn ich daran denke, fällt mir das Kinn auf den Hals. Komisch zu sagen, dass ich den Sonntag nütze, damit das Kinn auf den Hals fällt. Auch ein sehr schlimmer Satz. Hinrichtung der Königin Maria Stuart. Der Henker war wohl nicht gut, er soll mehrere Male zugeschlagen haben. Dann irgendwann der Prozess vor der Staatssicherheit. Sie können daraus sowas wie einen Schauprozess machen. Ich fürchte, dass sie das tun werden, und sie werden mich als Zeugin laden. Der Angeklagte hat einen anonymen Brief geschrieben auf einer Schreibmaschine, auf der das a immer hochspringt. Sehr leicht zu identifizieren. Es wird keinerlei Hilfe sein, die Abfassung des Briefes zu leugnen.

Jon kam etwa um 11 Uhr, hatte Angebratenes in der Tasche (nein, nicht doch Angebranntes), sogar Salat, Kartoffeln, packte alles aus wie ein Weihnachtsmann, brutzelte alles fertig und richtete ein wunderschönes Mittagsmahl her. Als wir aßen, einander gegenüber sitzend, fiel es mir doch schwer, dass ich diese Latte mit erotischer Verheimlichung mit mir herumschleppe, nicht nur erotischer, sondern einen Haufen hochbrisanter verschwörerischer politischer Staatsgeheimnisse. Ich wäre so gerne offen gewesen, aber es ging nicht: Mein Liebster sitzt im Gefängnis, und Jon kocht für mich, als sei noch er mein Liebster. Ich kann daran im Moment nichts ändern. Ich gefiel mir nicht in dieser Heimlichtuerei. Ich kann ihm nicht erzählen, dass ich morgen zum Rechtsanwalt gehe, noch gar, dass ich am Mittwoch im Gefängnis der Staatssicherheit mit einem prominenten Gefangenen zusammentreffe. Ist Fabricius eigentlich prominent? Erstaunlicherweise steht kein Wort in der Zeitung. Bis jetzt.

Wir sprachen ziemlich ausführlich über die Rolle der Blanche, die ich ja nun ab morgen endlich proben könnte. Nein, ich bin doch krankgeschrieben (gehe stattdessen zum Rechtsanwalt, was Kubelik dampfen ließe). Die Stimme ist übrigens wieder einigermaßen in Ordnung).

Wir sprachen über Slatan, den alten Intendanten, der sich im Theater gar nicht mehr sehen lässt. Jon hat einen Blick in das kleine Zimmerchen getan, das man ihm zugewiesen hat: vollkommen aufgeräumt und unbenutzt. Es geht die Rede, dass er das Weihnachtsmärchen inszenieren soll. Welch eine Demütigung. Ja? Oder nicht? Eine Kollegin habe Jon zugeflüstert, dass es Slatan gar nicht gut gehen soll. Wer ihn besuchen will und kann, soll es bitte tun.

Und dann kam er doch justament heute wieder auf die Heirat zu sprechen. Nein, erklärte ich deutlich, ich will nicht. „Es ist gar nicht so lange her, da wolltest du. Wir saßen auf einer Bank, aber die Standesämter waren in der Nacht zu.“ – „Ja, aber ich bin zurückgekehrt zu meiner alten Position. Liebe ja, alles, aber nicht heiraten.“ Das hätte ich nicht sagen sollen. Es war ja eine Lüge: keine Liebe mehr mit Jon, Heirat mit Fabricius. Manchmal darf man auch kühne Dinge denken.

Und natürlich hatte Jon Sehnsucht nach mir. Ich wimmelte ihn ab mit Müdigkeit, war mir fatal. Man weiß, wie höchst ungern ich spiele, außer auf der Bühne. Er war ein bisschen verstimmt und ging bald, gab mir übrigens noch die Adresse von Slatan. Ich dankte ihm sehr herzlich, dass er mich so aufmerksam versorgt hatte. Spürt er schon was? Ich zweifle sehr, er ist kein Sensibler. Das steht nun so im Tagebuch: Jon ist kein Sensibler. Ist er natürlich. Aber dass ich ihm verlorengehen könnte – nein, das ist jenseits seines Vorstellungsvermögens. Wer sollte denn da kommen? Ein Jüngerer? Jünger als ich, der wunderbare Jon? Oder ein Älterer? Doch nicht in Henriettes Bett. Wenn die Herren Kerle ihrer selbst so sicher sind – das kann ich nicht leiden, auch so ein Kapitel.

Dann zu Slatan. War das seine Wohnung als Intendant? Ich war nie bei ihm zu Gast. Oder hatte man ihn schon zu einem Umzug gezwungen? Wohnte Kubelik schon in der Intendanten-Villa? Es war ziemlich weit draußen, da, wo sich Sofia ins Umland verliert und nicht mehr sonderlich schön ist. Aber die Busverbindung war gut. Ich suchte am Gartentor des ziemlich verfallenen Zauns nach einer Klingel. „Zu wem wollen Sie?“ keifte – ja, ich kanns nicht anders nennen, auch wenn sich später herausstellte, dass es Slatans Frau, die Soubrette, war: keifte eine plötzlich hinter dem Haus hervorrennende Frau, sehr schlampig angezogen, strähnige Haare, deutlich nicht nachgefärbt, ungepflegt. Mit sehr viel Frage in der Stimme sagte ich: „Ich suche den Herrn Slatan…“ Sie keifte weiter: „Schon wieder so eine Zimtzicke von der Partei oder von der Presse. Ach nein!: die  Gusič ganz persönlich – die  Gusič.“ Zum ersten Mal ein menschlicher Ton in der Stimme. So blieb es leider nicht. Slatan kam durch die Haustür: „Henriette  Gusič, welch wunderbarer Besuch!“ Wir umarmten einander, was wir bis dahin nie getan haben. „Ich schäme mich sehr, Sie ins Haus zu bitten, in ein Haus, das so heruntergekommen ist. Aber der Gartenweg ist ja auch nicht der rechte Platz. Kommen Sie also rein.“

Drin war es weniger erschreckend, als ich befürchtet hatte. Nur Slatans Frau war erschreckend wankelmütig. „Sie hat unter meiner Demütigung mehr gelitten als ich,“ sagte Slatan. „Er übertreibt,“ sagte sie und keifte weiter: „Was wollen Sie hier? Wir brauchen keine Mitleidsheuchler. Wir sind uns selbst genug.“ Ich fragte: „Ist es vielleicht besser, wenn ich wieder gehe?“ – „Ja,“ keifte sie, „Nein, bitte nicht,“ sagte Slatan zugleich. Er wandte sich seiner Frau zu: „Bella, bitte beruhige dich. Henriette  Gusič ist willkommen als eine Gesandte von draußen, die keine Nöte mit der Partei hat.“

Ich platzte heraus: „Hören Sie auf! Sie ahnen nicht, in welche Nöte ich geraten bin, mit der Securitate. Aber erzählen Sie erst mal.“ Sie sagte bissig: „Er erzählt lauter Quatsch! Er ist ein Scheißheld!“ Slatan sprach, etwas genervt von ihrer Hysterie: „Mir hängt ein Parteiverfahren an, das sie absichtlich hinauszögern, um uns zu quälen und zu demütigen. Wir hatten sehr schlimme Tage und Erlebnisse. Bella, machst du uns bitte einen Tee? Wir versuchen alles Menschenmögliche, um nicht aus dem Netz zu fallen. Dazu gehört eine Tasse Tee für Henriette  Gusič.“ Bella stand widerspruchslos auf und ging hinaus: „Gern,“ sagte sie, was mich wieder erstaunte. Slatan fuhr fort: „Das lief schon vor dem Unglück mit Große Taten. Ich hoffte, ich könnte es mit der Inszenierung aus der Welt schaffen und strengte mich wahnsinnig an. Aber Sie wissen ja selbst, dass Anstrengung im Theater im Grunde sinnlos ist und niemals aus einem sehr schlechten Theaterstück ein gutes macht. Goethes Tasso sagt bekanntlich: ‚Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt.‘ Nun soll ich das Weihnachtsmärchen inszenieren, warum nicht?, aber nur, wenn das Parteiverfahren aus der Welt ist. Es ist so völlig absurd, diese Verquickung von Weihnachtsmärchen und Parteiverfahren. In meinem Größenwahn habe ich davon geträumt, Sie, verehrte Henriette  Gusič, mit der Rolle der bösen Hexe zu besetzen.“

„Ihr Größenwahn ist so wahnvoll nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es mit mir am Theater weitergehen soll.“ – „Was? Was ist passiert? Das Staatstheater wird nicht auf eine so großartige Schauspielerin wie Sie verzichten können.“ – „Das steht dahin. Ich weiß nicht, wie viel Verbindung Sie noch zum Theater haben. Wissen Sie, dass Kubelik mich mit der Hauptrolle in dem Stück besetzt hat?“ – „Ja, das wurde mir zugetragen.“ – „Und dass das vollkommen schief gelaufen ist, und nun doch die Slanska spielt?“ – „Also, das wusste ich noch nicht. Ich dachte nur, wenn ich die Rolle mit der  Gusič hätte besetzen können, dass es mir dann doch um Einiges besser gegangen wäre.“ – „Warum konnten Sie mich nicht besetzen?“ – „Weil es eine Art unausgesprochenes Stillhalteabkommen zwischen uns gab, Sie mit dergleichen Propagandaquatsch nicht zu behelligen.“ – „Danke, sehr herzlichen Dank! Es sind Texte von so bodenloser Dummheit, die ich einfach nicht sprechen konnte. Da spielt dann noch ein anonymer Brief rein, voller Beschimpfungen des Staates, der durch mein Versehen zu einer Verhaftung geführt hat, weil ich so entsetzlich töricht war, in meiner Kränkung über meine Umbesetzung, den Brief als Argument vorzuzeigen. Lassen wir das.“

Slatans Frau kam mit dem Tee. Wir tranken und schwiegen eine Weile. „Besonders guter Tee,“ rühmte ich. Slatan erklärte: „Er ist noch aus dem Vorzugsladen für Prominente, den ich nun auch nicht mehr betreten darf.“ Und seine Frau keifte plötzlich wieder los: „Man will uns verhungern lassen! Das ist es, sie sind so unmenschlich, Bestien und Teufel!…“ – „Bella,“ sagte ich, „ich darf Sie Bella nennen, – Sie müssen sich fangen. Die Äußerungen Ihrer Not nützen niemandem. Ja, doch: der Partei. Und genau das wollen Sie doch bestimmt nicht. Machen Sie Slatan zum Objekt Ihres Mitleides, Mitleid in des Wortes Bedeutung. Er braucht Sie, nicht als Widersprecherin, sondern als Fürsprecherin.“ Bella stand auf und kam zu mir und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. Slatan schien richtiggehend gerührt: „Danke, Henriette  Gusič, für Ihre Worte. Brauchen Sie einen Rechtsanwalt?“ – „Nein, danke, ich habe den Rechtsanwalt von Professor Capet, zu dem gehe ich morgen früh.“ – „Zu Professor Capet? Das ist doch der HNO-Arzt?“ – „Nein, zum Rechtsanwalt. Zu Fabricius gehe ich am Mittwoch.“ – „Ist der nicht verhaftet? Ich unterstelle, dass er das Opfer ist.“ – „Ja, durch mein Verschulden! Das ist entsetzlich und macht mir schwer zu schaffen.“ – „Sollen nun wir Sie trösten?“ – „Nein, es ist – ich hoffe, das klingt jetzt nicht zynisch, – es tut mir sehr wohl, wenn ich neben das eigene Unglück das Unglück anderer stellen kann.“ Da wurde Bella wieder fuchsteufelswild: „Sie nascht nur bei uns! Sie ist eine zynische Schmarotzerin, ein Vampir! Raus! Ich will Sie nicht mehr hier sehen!“ Sie steuerte so vehement auf mich zu, dass ich aufsprang und zur Tür rannte. Slatan war bestürzt. Ich ging, um es knapp zu sagen.

Auf dem Heimweg im rumpelnden Bus plötzlich ein riesiger Schreck: Wie weit bin ich denn von diesem Slatan und seiner Bella entfernt? Empfängerin eines staatsfeindlichen anonymen Briefes, den sie nicht zur Kriminalpolizei bringt: ein Straftatbestand. Verhaftung eines Staatsfeindes, als ich in seinen Armen liege. Wie beachtlich ist denn meine Fallhöhe? Wo lande ich, genauer: Wo schlage ich auf? Als wer oder was? Kann ich im nächsten Monat noch die Miete für meine schöne helle Hochhauswohnung bezahlen? Werde ich aus Sofia verbannt, wie es so vielen Menschen ergangen ist? Eine ganz perfide Bestrafung wäre das für eine Schauspielerin, alle Wurzeln gekappt, keinen einzigen Menschen mehr zum Lachen bringen, verdorren irgendwo im Landwirtschaftsgürtel, Rauschegold auf dem Misthaufen. Es kann so schnell gehen. Nein, es muss gar nicht dazu kommen! Es gibt auch Gnaden, völlig unerwartete Pausen im Tragischen, und sei es mal wieder der Zufall.

Dann dachte ich sehr intensiv darüber nach, dass solche Heimsuchung die Erotik zwischen zwei Menschen abtötet. Und dass man sich so einer wunderbaren Größe im Leben begibt, die einem vielleicht doch helfen könnte, mit diesen Anfechtungen fertig zu werden. Ich dachte auch an Jon und mich, an all die Gefahren, die der Liebe drohen, weil die politischen Umstände keinen Raum für sie lassen. Sonderbarerweise dachte ich kaum an Fabricius und mich. Dabei wäre doch Liebe die beste Hilfe, die es geben kann. Was hat diese Bella, der nun die dunklen Haare nachwachsen und der Fingernagellack abblättert, – was hat sie in ihren Operetten von der Liebe gezwitschert, meist mit unserem Buffo zusammen. ‚Deine Küsse, die brennen so heiß…‘ Nein, es war ja eben keine Liebe, es waren Sentimentalitäten, es war Kitsch, kein Romeo, keine Julia, kein zärtliches Morgengetändel: ‚Es war die Lerche – Die Lerche wars – und nicht die Nachtigall‘… Und selbst das ist ja noch Literatur, von der wahren Liebe noch immer meilenweit entfernt.

In mir flackert eine kleine wunderbare Flamme, die meiner Liebe zu Fabricius. Oh Gott, behüte sie, beschütze sie. Lass sie in keinem Sturm verlöschen! Und die Zeiten werden stürmisch für uns. Uns, uns, uns… Dass ich ‚uns‘ schreiben kann, das ist das Wunder. Gnade. Gedanken, die ich mir nie mit Jon gemacht habe.

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Sofia, am Montag, den 26.9.1947

Ein mühsamer Tag war das. Kampf um Fabricius. Am Vormittag bei seinem Rechtsanwalt, der mich überfreundlich empfing. Ich schilderte ihm die Situation so ausführlich wie nur möglich. Ich nahm keinerlei Rücksichten auf eventuelle Umstände, die mit Vorsicht hätten behandelt werden müssen. Nicht ‚Was sagt man, was verschweigt man lieber?‘ Gerade heraus, was Sache ist. Der Rechtsanwalt bedankte sich geradezu für meine Offenheit. Sah sich dann aber außerstande, Fabricius zu verteidigen: „Ich wäre der schlechteste Anwalt für ihn. Ich habe einen Ruf…“ – „Zu verlieren.“ ergänzte ich schnell. „Nein, den habe ich schon lange verloren. Wo immer ich als Verteidiger auftauche, geht mir der Ruf eines Regimekritikers voraus. Das mag sich bei einem Eigentumsdelikt nicht auswirken. In jedem Verfahren, in dem es um Politik geht, bin ich fehl am Platze. Nach allem, was Sie erzählt haben, wird er vor ein Gericht der Securitate gestellt werden. Wenn ich da mein Plädoyer eröffne, werde ich sofort unterbrochen. Das tut mir gerade in einem Verfahrern gegen Professor Capet ganz besonders Leid, den ich – ja, eigentlich sehr verehre. Aber ich würde ihm nur schaden. Bitte, halten Sie mich nicht für feige. Wäre ich feige, hätte ich meinen Ruf nicht verloren. Ich möchte Ihnen auch keinen Kollegen empfehlen, weil ich nicht weiß, wo die politisch stehen. Bitte, suchen Sie behutsam weiter. Es tut mir so Leid, dass ich kneifen muss.“

Auf der Treppe, vom zweiten Stock abwärts, kam mir mit einiger Intensität der Verdacht, dass er gekniffen hat. Oder doch nicht? Jedenfalls war meine Situation durch diese Begebenheit sehr schwierig geworden. Mit solchem Rückzieher seines Rechtsanwaltes hatte ich nicht gerechnet. Ich stieg unverzüglich in den Bus und fuhr raus zu Slatan und Bella. Ich hatte Angst vor ihr, ja. Aber er hatte mir einen Rechtsanwalt empfohlen und ich hatte selbstsicher geantwortet, dass ich keinen brauche, weil ich ja den von Fabricius habe. Henriette, es stehen schwere Tage bevor, du musst übertrieben aufmerksam sein. Was hätte es geschadet, wenn du dir gestern von Slatan die Adresse seines Rechtsanwaltes hättest geben lassen? Erspart hätte es dir jedenfalls zwei Stunden Busfahrt heute und den erneuten Besuch bei Slatan und Bella. Du bist Schauspielerin. Nun musst du noch etwas anderes sein. Was? Eine Liebende gewiss. Wo ist Jon? Sehr weit weg. Wo ist das Theater? Ich bin krankgeschrieben. Wann gibt es Telefon in diesem Unglücksstaat?

Natürlich gab es an Slatans Zaun heute so wenig eine Klingel wie gestern. Aber wieder kam er aus dem Haus, als hätte er mein Kommen geahnt. Ich fing an: „Wir können mein Begehr schnell erledigen: Ich brauche doch die Adresse Ihres Rechtsanwaltes. Der von Fabricius kann die Verteidigung nicht übernehmen. Oder er will nicht.“ – „Kommen Sie kurz rein. Bella ist beim Friseur. Es geht ihr heute viel besser. Gestern ziemlich spät kam noch der Buffo mit zwei Tingelterminen mit Butter- und Speckzusagen. Das hat sie ungemein aufgemöbelt, ja geradezu normalisiert. Sie ist ein so armes Würstchen.“ – „Ich auch.“ – „Ihr Kummer, Ihrer, Henriette, geht mir sehr ans Herz. Und ich wünsche Ihnen so sehr, dass Sie mit meinem Rechtsanwalt klarkommen.“ Er schrieb mir die Adresse auf einen Zettel, Telefonnummer dazu: „Sagen Sie Ihren vollen Namen, er kennt Sie bestimmt.“

Erst wollte ich da draußen eine Telefonzelle suchen, aber ich bekam derartige Angst vor der Pisse und dem Gestank in so einem Häuschen, dass ich erst reinfuhr, auch wenns dadurch um Einiges später wurde, und die Kanzlei möglicherweise schloss. Überhaupt keine Telefonzelle, auch in der Innenstadt nicht, ich ging direkt persönlich zu dem Rechtsanwalt. Und das erwies sich als sehr gut. Schon die Sekretärin erkannte mich. Sehr bald saß ich dem Mann gegenüber und fasste sofort Vertrauen. Auch heikel: Ich könnte Vertrauen fassen, weil ich Vertrauen fassen will. Wir Menschen in Panik sind doch so arm dran: In jedem Strohhalm sehen wir einen Rettungsbalken.

Wieder schilderte ich die Situation, wieder dachte ich nicht darüber nach, was ich etwa verschweigen sollte. „Kein angenehmer Fall,“ sagte der Rechtsanwalt schließlich, „aber meinen Mut haben sie mir noch nicht wegpolieren können. Ich übernehme das. Meine Zusage ist allerdings keine Garantie auf Erfolg. Aber besser als ein Pflichtverteidiger werde ich doch wohl sein. Noch was: Wie weit sind Sie autorisiert, in diesem Fall den Rechtsbeistand zu suchen?“ – „Juristisch gesehen überhaupt nicht.“ – „Und? Erotisch gesehen?“ Ich musste lachen: „Voll autorisiert.“ Er schmunzelte: “Gut. Dann will ichs wagen, auch wenn die Vorschriften ein wenig umgangen werden. Ich mache mir jetzt Notizen, ich rede dabei laut, Sie korrigieren mich sofort, wenn ich etwas falsch oder unzureichend notieren sollte.“

So schnell würde ich auch gerne Text lernen. Ganz erstaunlich, wie präzise er meine Schilderungen wiederholte und aufschrieb. Also: Hier ist Fabricius erst einmal in guten Händen. Und wie mir daran liegt: dass Fabricius in guten Händen ist. „Noch etwas, ganz dringend: Sie sollten nicht als diejenige auftreten, die den Rechtsanwalt für Professor Capet engagiert hat. Wir bräuchten einen Strohmann.“ Ich fragte lächelnd: „Tuts auch eine Strohfrau?“ Er lachte: „Wissen Sie eine?“ – „Ja, seine Sprechstundenhilfe.“ – „Reden Sie mit ihr.  Sie soll möglichst bald zu mir kommen. Sehr gut. Sie kann hier ein- und ausgehen. Sie, Frau Gusič, kommen tunlichst nicht mehr in meine Kanzlei. Es steht zu befürchten, dass sie von Spitzeln observiert wird.“ – „Sagen Sie mal…“ – „Sie haben keine Ahnung, wie gespickt dieses Land ist mit Spitzeln. Hätten wir so viel zu essen wie wir Spitzel haben, – keiner müsste hungern. Ein etwas zynischer Satz. Frau  Gusič, alles, was wir eventuell noch zu besprechen haben, nur über die Sprechstundenhilfe.“

In mir brennt eine kleine Flamme: meine Liebe zu Fabricius. Oh Gott, behüte sie, beschütze sie.  Sie ist so sturmgefährdet, die kleine Flamme…

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Sofia, am Dienstag, den 26 27..9. 47

Früh kam Jon, noch vor der Probe, wollte wissen, wann ich komme, die Blanche probieren, es gebe zwar eine Menge Szenen ohne Blanche, aber er brauche mich denn doch bald. Jeder Besuch Jons war früher eine Freude für mich. Ich teilte alle Nöte mit ihm, natürlich auch die schönen Dinge. Ich konnte mit ihm reden, wenn es etwas zu bereden gab. Jetzt renne ich rum mit meinem Geheimnis in der Gebärmutter. Aber ja nicht nur in der Gebärmutter. Und habe eher Angst vor seinen Besuchen. Blanche? Ach ja, das ist diese Rolle in – aber ich bin doch krankgeschrieben. Nein, ich brauch noch nicht probieren, weil ich doch krankgeschrieben bin – und Blanche – wegen der Stimme… Meine Argumente waren wohl ziemlich durcheinander und verworren, bis Jon mich mit einer Kälte fragte, die ich an ihm sonst kaum kannte: „Henriette, was ist los? Du bist seit Kurzem sehr verändert. Ich bin nicht blind. Was ist passiert?“ – „Ich werde dir wehtun.“ Er schaute etwas verdutzt, sagte dann aber: „Tu mir weh.“ So, jetzt konnte ich nichts anderes sagen als: „Ich bin verliebt.“ Das war der Satz, vor dem ich Angst hatte, dass Jon ihn aussprechen könnte, seitdem ich mit ihm ins Bett ging. Aber jetzt hatte ich ihn ausgesprochen. Und ich muss ihn wohl in die Gebärmutter getroffen haben, wenn Männer eine hätten, diese unzulänglichen Geschöpfe. „Was? Nein. Wie ernst?“ Was konnte ich sagen: „Todernst.“ – „Was? Nein!“ – „Dauernd sagst du Nein, als hätte ich behauptet, es gäbe keinen Mond mehr am Himmel.“ – „Wenn du mich verlässt, gibt es keinen Mond mehr am Himmel.“ Doch eigentlich ein wunderbares Liebesbekenntnis. Er ackerte weiter: „Sag, dass du dir einen Scherz erlaubst – einen sehr faulen noch dazu.“ Aber ich sagte: „Ich bin sehr froh, dass ich es gesagt habe.“ Jon schien nach Worten zu japsen: „Hen- Ich – Wir – Ich muss mich setzen.“ Er plumpste auf die Couch. Ich sagte: „Fühl dich wie zu Hause.“ Er brauste auf: „Ich bin hier zu Hause, verdammt nochmal!“ Ich konterte hart: „Das bist du nicht! Und du warst es nie! Und das weißt du ganz genau!“ – „Was ist in dich gefahren?“ – „Etwas sehr Schönes, wie du dir denken kannst.“ – „Ich bin fassungslos, wirklich fassungslos!…“ – „Jon, wir haben nie über ein Ende gesprochen, aber war es so völlig undenkbar?“ – „Erzähl genauer,“ forderte er. „Nein,“ sagte ich, „da gibt es nichts dir zu erzählen.“ – „Wer ist es?“ Ich schüttelte nur behutsam den Kopf. „Kenne ich ihn?“ Wieder schüttelte ich den Kopf, aber weniger als eine Anwort auf seine Frage, vielmehr als Unmöglichkeit, das zu beantworten. Dann kam seine Frage aus tiefster Seele: „Was wird aus mir?“ Die Frage traf mich, ich redete mich raus: „Ich brüh uns einen Tee auf.“

Ich ging in meine kleine Küche und machte Tee. Nach kurzer Weile hörte ich ein Schluchzen aus dem Wohnzimmer. Was? Ich lugte vorsichtig hinüber: Ja, Jon weinte tatsächlich, saß auf der Couch, und es schüttelte ihn. Nie hätte ich gedacht, dass ihn die Gefühle so überwältigen können. Hätte ich behutsamer vorgehen müssen? Hätte ich behutsamer vorgehen können? Ich blieb froh, dass es ausgesprochen war. Und keine Sekunde zweifelte ich, ob da etwas falsch sein könnte. Nein, wenn Henriette  Gusič den Fabricius Capet liebt, dann können die Tränen des Jon sie nicht wankelmütig machen. Brutal? Nicht doch brutal. Diktat der Liebe. Und dass sie etwas Diktatorisches hat, ist ja wohl inzwischen bekannt. Ich ging mit dem Tee rein.

Jon wandte sich mir zu, das heftige Schütteln hatte sich beruhigt, er sagte: “Und das sagst du mir alles ins Gesicht hinein?“ Mich ritt ein bisschen der Teufel: „Was wäre gewonnen, wenn ich es dir in den Hintern hinein gesagt hätte?“ Er folgerte mit verklebter Stimme: „Dein derzeitiger Umgang ist ein bisschen derbe oder?“ Wieder ein Satz von mir, den es zu bereuen galt: „Ja, ein Kutscher aus dem Landwirtschaftsdistrikt.“ Er schaute fassungslos. Ich beeilte mich zu versichern: „Nein, das ist eine Lüge.“ – „Wir haben Lügen gemieden, seit wir uns lieben.“ – „Ich weiß, und das war sehr gut. Jon, kippen wir keine Scheißbrühe auf unsere vergangene Liebe. Sie war – auch – sehr schön!“ Ich merkte, wie er darauf nicht eingehen wollte: „Ich muss gehen, die warten ja auf mich, kann ja nicht Proben ausfallen lassen, weil du mir abhanden kommst.“ Ich wollte versöhnlich sein: „Ich freu mich auf die Blanche.“ Und er ballerte eine Breitseite gegen mich: „Ich bin gar nicht mehr sicher, ob du die richtige Besetzung für die Blanche bist.“ Weg war er.

Mir mal schön alles abräumen, mich bloßstellen, ausziehen, nackt an die Wand stellen… Ich konnte ja nicht annehmen, dass mir Jon uneingeschränkt erhalten bleiben würde, erführe er die neue Wahrheit. Nun habe ich sie ausgesprochen. Und er ist geflohen. Damit muss ich leben, damit kann ich leben. Aber einsam ist es schon. Der Mann, mit dem ich reden kann, den muss ich mir erst aus dem Gefängnis holen. Morgen werde ich ihn sehen – wenn alles gut geht. Ich bin miserabel vorbereitet. Nein, ich brauche gar keine Vorbereitung, nur Liebe.

Ich dachte an den Rechtsanwalt und dann fiel mir ein, dass ich ja zu der Sprechstundenhilfe gehen muss, um ihr Bescheid zu sagen, dass sie die Strohfrau sein soll. Ich ging zum Essen ins Majestic, dann gleich in die Praxis. Da sauste ein Mann herum und tat furchtbar geschäftig: „Ich kriege dann aber auch alle Unterlagen, nichts aussparen. Ich habe Leute an der Hand, die das bestrafen würden.“ Die Sprechstundenhilfe bemühte sich um einen etwas rigiden Ton: „Herr Doktor Dell, der Inhaber dieser Praxis, Herr Professor Capet ist in Untersuchungshaft. Bevor er nicht etwa verurteilt wird, können Sie in dieser Praxis gar nichts tun, sie gehört Ihnen nicht.“ – „Jaja, aber wenn sie frei wird, dann will ich der Erste sein. Henriette  Gusič, werden Sie zu meinen Patienten zählen? Da freue ich mich schon drauf.“

Henriette Gusič – Teil 2

Claudias Klappentext hierzu

Lotte in Weimar