***
Eupa und Ro
*
Szene 1
EINLEITUNG
***
Szene 1
EINLEITUNG
Vor dem geschlossenen Vorhang links ein halbiertes D-Zug-Abteil: eine Sitzbank mit Gepäcknetz und Leselämpchen darüber, nach vorne angedeutetes Fenster, nach hinten Abteilschiebetür und Gang und Gangfenster; Auftrittsmöglichkeit von links in den Gang. Das steht vermutlich etwas schräg und ist etwas hochgebaut und nur über Wagontreppen zu erklettern. Es ist allerdings in der letzten Szene erforderlich, dass es fahren kann.
Während sich der Zuschauerraum noch füllt:
/aus dem Orchester drei- oder viermal ein melodiöses oder ganz wüstes Tutti oder ein gekonnter Schlagzeugwirbel. Das bricht aber auch plötzlich wieder ab. Dann werden weiter die Instrumente gestimmt. Und dann ein bisschen Begleitung für/
EINE KLEINE PUTZKOLONNE, die das Abteil säubert, mehr mechanisch, auch nicht gründlich, vielleicht ein wenig tänzerisch. Von außen werden die Scheiben mit Geräten an langen Stangen geputzt.
/Schließlich der gute alte Theatergong./
Es wird dunkel im Zuschauerraum.
/Noch ein Gong
Attacca ein knalliger schmissiger Foxtrott./
Der Vorhang geht auf.
Eine nach vorn geneigte Schräge ist der Schauplatz für alle Szenen, in Abständen drum herum Treppchen zum Besteigen und Betreten der Schräge. Auf ihr sind die Konturen Europas deutlich gezeichnet, desgleichen die politischen Grenzen, die Flächen der Nationalstaaten farblich voneinander abgehoben, alle Geographie, wie Flussläufe, Gebirge spielt eine geringe oder gar keine Rolle. Der derzeitige Graben zwischen Ost und West ist geradezu schmerzhaft verdeutlicht.
Spätere Bauten auf der Schräge sind leicht, lassen den gezeichneten Boden erkennen, die Ausstattung ist nie aufwendig im Sinne von festen Wänden oder etwa Plafond.
Am oberen Ende der Schräge eine übermenschengroße Figur in einem langen, vielleicht etwas gräzisierten Gewand, als Kopf eine Maske, in der die Gesichter eines Mannes und einer Frau schön verschmolzen sind.
Hinter der Schräge eine große Projektionsfläche. Darauf in dieser Szene 1, sanft wechselnd, Landschaften Europas, je wüster es auf die Schräge zugeht, desto lieblichere Landschaften.
Das Ganze im schwarzen Rundhorizont.
All dies liegt zunächst im unerkennbaren Halbdämmer. Scharfes Licht von beiden Seiten und von oben auf
EINE GIRL-TRUPPE, die in pink, mit sinnigen Tschakos mit Kinnriemen schicke kickings tanzt. Die beiden Außentänzerinnen halten je eine Transparentstange, darauf die Worte ‚GLEICH TRITT AUF TUTOU DER TURNSCHUHTOURIST’. Die Truppe tanzt nach rechts ab.
/Foxtrott endet./
LAUTSPRECHERDURCHSAGE, trocken:
„Gleich.“
/Vorlauter Lauf auf der Pikkoloflöte./
LAUTSPRECHERDURCHSAGE, trocken:
“Jetzt.”
TUTOU, der Turnschuhtourist, geht von links nach rechts über die Bühne, zielstrebig, nicht hastig, holt sein Portemonnaie aus der Tasche. Er trägt einen ziemlich gewaltigen Rucksack, und natürlich Turnschuhe, ansonst ist er mit der schnodderigen Zweckmäßigkeit dieser Sommerkinder gekleidet, im Accessoir heiter, verspielt, witzig. In der Bühnenmitte geht ihm unverhofft der Rucksack kaputt: Irgendetwas löst sich, irgendetwas ziemlich Voluminöses baumelt herunter samt einem Stück Metallrahmen. Auch kullern zwei Äpfel. Tutou hebt sie auf, will den Rucksack reparieren, ohne den Rest abzunehmen, aber es gelingt ihm nicht, jedenfalls nicht bevor er vorne rechts abgegangen ist.
/Foxtrott./
DIE GIRL-TRUPPE tanzt einmal über die Bühne, von rechts nach links, ohne Transparent.
Dabei wird der Kontinent auf der Schräge grellhell. Könnte vielleicht reizvoll sein, wenn sich das Licht mit der Bewegung der Tänzerinnen von rechts nach links aufrollt.
/Musik endet./
TUTOU kommt von rechts wieder, den reparierten Rucksack auf dem Rücken, ein Ticket in Händen, das er einigermaßen aufmerksam studiert:
„Tramper-Ticket – finde ich unheimlich gut, für 450 Mark einen ganzen Monat kreuz und quer durch ganz Europa.“
Er schaut auf:
„Da liegts ja. Witzig. Kenne keinen Kontinent, der so witzig aussieht, wie der hier. Das ist Kreta. Hier ist mal ein Stier an Land gegangen, das war gar kein Stier, sondern der griechische Götterchef persönlich. Hatte an Libyens Küste eine Königstochter auf die Hörner genommen. Gibt Leute, die behaupten doch glatt, der Gaddafi sei uns jetzt noch böse, weil der griechische Lustmolch ihm die schöne Prinzessin gekidnappt hat. Die bella donna hieß Europa- Muss man sich mal klarmachen: Europa wäre in Libyen geblieben: – Thüringer Wald, Oslo, Po-Ebene, alles in Nordafrika, – nee, kann man sich gar nicht vorstellen…“
LAUTSPRECHERSTIMME, bahnhofsverzerrt, aber gut verständlich: „Zum Europa-Express nach Kreuz über Quer, Abfahrt Null Uhr Null, bitte einsteigen. Die Türen schließen auf Knopfdruck des Lokomotivführers selbsttätig. Wir wünschen eine angenehme Reise!“
Auf das Stichwort Null Uhr Null ist es Nacht geworden. Schlaglichter und –schatten auf dem Kontinent. Im Abteil brennen Leselampen.
TUTOU ist zum Abteil gerannt. Dabei ist ihm der Rucksack genauso kaputt gegangen, wie schon einmal. Wieder kullern Äpfel, die er aufhebt. Er steigt ins Abteil, schmeißt den Rucksack auf die Sitzbank, untersucht ihn:
„Mist! Ich hätte mir doch den teureren kaufen sollen! Denkste, weil du ein billiges Ticket kriegst, musst du auch ‚n billigen Rucksack kaufen!… So ein Blödsinn!“
/Unterdessen: Trillerpfeife, Erwartungsgeräusche der E-Lok (gibt’s ganz bestimmte echte), automatisch schließende Waggontüren, Zug-Fahrgeräusche./
Tutou löst den Schlafsack vom Rucksack, holt ein Comics-Heft und einen Apfel raus, stemmt den Rucksack unrepariert ins Gepäcknetz. Er legt sich lang, den Schlafsack unter dem Kopf, liest, isst Apfel.
/Die Musik hat heiter schwingend eingesetzt, vielleicht mit zärtlichem verjazzten ‚Fa la nanna, bambin’./
Auf der Schräge beginnt die Verstopfung des Kontinents mit Raketen. Es ist die choreografierte, ja tänzerische Arbeit von sehr sachlich uniformierten Soldaten, leise, unböse, dienstlich, und nicht im Geringsten denunzierend! Es gibt keine Aha-Erlebnisse für terrible Simplifikatoren. Es herrscht unheilige Nüchternheit. Zunächst ist gar nicht so genau zu erkennen, was da eigentlich geschieht: Ein dauerndes Kommen und Gehen der Soldaten, sie laden Sachen ab, holen neue, packen aus Köfferchen und Koffern in Plastiktüten, holen Nachschub. Und Logistik. Da werden ringförmige Gebilde auf die Schräge gelegt und hochgezogen, – fertig ist eine Rakete mir ihrer ganzen fatalen Phallussymbolik. Erinnert irgendwie an die fernöstliche Ballon-Lampenschirme, die ja auch ganz flach gekauft werden; weitere Hilfs-Prinzipien: Chapeau-claque, Regenschirm, Periskop. Der Graben zwischen Ost und West bleibt deutlich frei. Die Logistik erfordert Silos, Rampen, Computer- und Radarschirme, Kabel, Kabel, Kabel, Kopfhörer, Kehlkopfmikrofone, Elektronik aller Arten, Scherenfernrohre, Munition aller Arten – nur zu bald ist das ein emsiges Tänzchen. Das Ganze hat was von schrecklichem Spiel mit schrecklichem Spiel-Zeug. Will sagen: an Realität oder Realgewichten ist wenig gelegen.
TUTOU merkt von den Vorgängen auf der Schräge gar nichts. Er hat die Lampen ausgeknipst und schläft.
DER SCHAFFNER kommt von links aus dem Gang, öffnet die Abteiltür, macht mit dem Schalter darüber ein ekelhaftes Neonlicht an:
“Die Fahrausweise bitte!“
/Die Musik, die schon nicht mehr so happy war, wie in den ersten Takten, wird etwas leiser – die Vorgänge im Abteil sollen ungestört bleiben -, aber versteckt böser, bedrohlicher./
TUTOU hat’s aus dem ersten Schlaf gerissen. Er durchsucht mancherlei Taschen, auch des kaputten Rucksacks, ehe er das Tramper-Ticket findet und vorweist:
„Wann kommen wir denn an?“
DER SCHAFFNER kontrolliert:
„Wo?“
TUTOU:
„Na, in Europa.“
DER SCHAFFNER gibt das Ticket zurück und blättert in einem dicken Dienstbuch:
„Luxemburg, Brüssel, Straßburg … Nee, also tut mir leid: Die Ankunftszeit in Europa steht nicht fest.“
TUTOU legt sich wieder hin:
„Ist nicht so schlimm, – ich muss noch ne Runde poofen.“
DER SCHAFFNER versteht nicht:
„Poofen, mein Herr?“
TUTOU:
„Pennen, schlafen – würden Sie mich bitte wecken, bevor wir ankommen?“
DER SCHAFFNER:
„Wo?“
TUTOU:
„Na, in Europa.“
DER SCHAFFNER:
„Also Wecken gehört nicht eigentlich zu meinen Dienstobliegenheiten, – „
Er schnüffelt ein bisschen herum:
„Ich wittere Äpfel – Sorte Morgenduft.“
TUTOU gibt ihm einen:
„Können Sie gerne einen haben.“
DER SCHAFFNER beißt genüsslich rein:
„Danke. Dafür werde ich Sie auch gerne wecken. Angenehme – angenehmes Poofen.“
Er macht das Licht aus und geht ab.
Zugleich wird es wieder grellhell auf dem Kontinent, der nun ziemlich zugerüstet ist. Eifrigst wird an der Vollendung zum Tode gearbeitet.
/Aus der Musik ist alle Heiterkeit und aller Swing oder Rock gewichen. Sie wird immer mehr enervierendes Geräusch. Aber der Übergang ist ganz unmerklich gewesen. Vielleicht werden die Geräusche, die auf der Schräge bei der Stationierung entstehen, verzerrt, verhallt, laut, rückgekoppelt wiedergegeben. Das Öffnen eines Kofferschlosses: ein Gewehrschuss, ein Reißverschlussziehen: ein zischendes Geschoss auf seiner Bahn, Plastiktütengeraschel: apokalyptisch.
Plötzlich der Foxtrott, etwas langsamer./
DIE GIRLTRUPPE quert über die Bühne, mit kleinen schmalen Raketchen spielend, zwischen den Beinen, oder sonst wie. Sie beeinträchtigen etwas die ohnehin fragwürdige Ästhetik ihres Tanzes. Obszöne Wirkungen durchaus erwünscht. Sie tanzen ab.
/Aus dem Foxtrott wird ein ohrenbetäubendes Lärm-Schluss-Chaos
Dahinein ein scharfes Zug-Bremsen-Quietschen, grelle Lokomotivenpfiffe./
Dann Stille.
TUTOU fällt durch die Notbremsung von der Bank, der kaputte Rucksack auf ihn drauf, drei Äpfel rollen.
DER SCHAFFNER wird durch die Notbremsung im Gang nach vorne geschleudert, so dass er hinfällt. Noch im Aufrappeln, im Knien macht er bei Tutou die Schiebetür auf:
„Haben Sie die Notbremse gezogen?“
TUTOU rappelt sich auch auf, grabscht Äpfel:
„Nein.“
DER SCHAFFNER sagt aber auch gleich:
„Keine Panik, keine Verletzten, keine Toten!“
TUTOU mit kleinem Vorwurf:
„Sie wollten mich doch wecken!“
DER SCHAFFNER hat für solche Ermahnungen wenig Sinn:
„Machen Sie mir keine Vorwürfe, mein Herr, Sie sind doch wach. Außerdem sind wir noch gar nicht da.“
TUTOU:
„Wo?“
DER SCHAFFNER:
„Na, in Europa.“
Er will weiter und stößt mit dem von rechts kommenden
LOKOMOTIVFÜHRER zusammen.
DER SCHAFFNER fragt auch ihn mechanisch:
„Haben Sie die Notbremse gezogen?“
DER LOKOMOTIVFÜHRER:
„Ja, es war eine Notbremsung.“
DER SCHAFFNER
„Das ist strafbar! Jeder Missbrauch der Notbremse ist strafbar!“
DER LOKOMOTIVFÜHRER:
„Aber Otto!, ich bin doch der Lokomotivführer! Ich musste so scharf bremsen. Kuck dich mal um! Wir kommen nicht weiter. Bei der großen Einzugskurve nach Europa musste ich notbremsen. Dabei stand das Signal auf Freie Fahrt!“
DER SCHAFFNER erschrocken:
„Das ist ja Sabotage!“
TUTOU ist mit seinem kaputten Rucksack, der ihn im Folgenden immer wieder reichlich unbeholfen machen wird, dazu getreten:
„Sind wir angekommen?“
DER SCHAFFNER:
„Wo?“
TUTOU:
„Na, in Europa.“
DER SCHAFFNER mag Unregelmäßigkeiten gar nicht:
„Aber mein Herr, schauen Sie sich das doch einmal an. Wie soll ich Ihnen da eine Auskunft geben, ob wir in Europa angekommen sind?!“
TUTOU will auf die Schräge:
„Geh ich eben zu Fuß weiter.“
DER GENERAL, der am vorderen Rand der Schräge erscheint, eine durchaus sympathische Erscheinung, nur auf empfindsamere Gemüter mag er etwas zu smart wirken, versperrt Tutou den Weg:
„Für Zivilisten verboten. Nur Waffenträger. Was haben Sie denn in dem Rucksack?“
TUTOU:
„Äpfel. Morgenduft.“
DER GENERAL:
„Kein Platz für Obst.“
DER LOKOMOTIVFÜHRER:
„Herr General, wieso steht hier auf den Schienen eine Rakete?“
DER GENERAL:
„Weil anderswo kein Platz mehr war. Ist doch logistisch.“
DER SCHAFFNER, etwas dümmlich einsichtig:
„Also logistisch ist das sicher, aber – „
DER LOKOMOTIVFÜHRER:
„Otto, komm wir gehen da rüber und essen erstmal ne Bockwurst, bis das hier alles klar ist.“
Er geht mit
DEM SCHAFFNER weg.
TUTOU hat zunächst ganz persönliche Interessen:
„Aber mein Tramper-Ticket gilt auf allen Schienen Europas! Ich bin Tutou, der Turnschuh-Tourist. Ich verlange mein Recht!“
DER GENERAL:
„Junger Freund, Sie verlangen Ihr Recht, mit Recht, möchte ich mal sage, aber die Rechtslage ist nach Abwägung aller Notstandsgesetze eindeutig auf den Schienen der Nachrüstung, junger Freud.“
TUTOU, etwas abweisend:
„Was meinen Sie mit junger Freund?“
DER GENERAL, besonders smart lächelnd:
„Aber, aber: wer wird denn gleich auf Konfrontationskurs gehen, junger – äh… Sie entschuldigen, aber die Pflicht im Innern der Rüstung ruft.“
Er will gehen.
TUTOU will ihn aufhalten:
„Moment, bleiben Sie! Sie machen doch das alles für die Zivilisten, für die Bewohner, also für europäische Leute wie mich?“
DER GENERAL:
„Selbstverständlich! Doch keine Raketen zum Selbstspaß!“
TUTOU folgert schlüssig:
„Also: – ganz klar, dass Sie Zeit für ein Gespräch mit mir haben müssen!“
DER GENERAL:
„Sie suchen die Auseinandersetzung.“
TUTOU:
„Nein, das Gespräch!“
DER GENERAL,
„Das ist doch dasselbe. Ich bin auch Friedensfreund, aber im Generalstab. Sie betreten den Kontinent nicht. Ende!“
Er verschwindet im Raketendickicht.
TUTOU fast schon kläglich:
„Bleiben Sie! Solange wir miteinander reden, passiert nichts!“
/Foxtrott, wieder langsamer./
DIE GIRL-TRUPPE tanzt mit größeren Raketen, die schon sehr hinderlich sind, über die Bühne. Ihre Bemühtheit um Lächeln, unveränderte Disziplin und Exaktheit hat schon etwas Rührendes.
TUTOU, etwas abfällig:
„Und wenn hier mal was fürs Herz auftritt, dann kommen diese Hampelmänner, diese Hampelmännchenriege…“
DER US-SOLDAT landet unterdessen neben dem etwas erschreckenden Tutou. Er sollte wirklich, wenn irgend möglich, von oben einschweben, auch wenn er in der Luft wie ein Plumpsack wirkt. Er löst die Halterung wie einen Sitzgurt. Sie wird nach oben weggezogen, Und er pfeift über die Girls. Er spricht ein breit optimistisches Amerikanisch:
„Just landed in the Middle European Theater and already girls!
ZWEI SOLDATEN, deren Uniformen man den ‚Osten’ einigermaßen ansieht, sind unauffällig rechts erscheinen, Sie tun genau das gleiche, wie Tutou und der US-Soldat, spiegelbildlich und gespenstisch still und stumm, sie öffnen zwar den Mund zum reden, aber nur pantomimisch.
DER US-SOLDAT:
„Where’s the ramp?“
TUTOU, mit etwas verwundert-surrealistischem Bezug auf die Theaterrampe:
„Die Rampe? Das ist hier die Rampe.“
DER US-SOLDAT schaut sich das skeptisch an:
„That’s not the ramp I mean.“
TUTOU weist zögernd zur Schräge:
„Und da oben – gibt’s bestimmt auch jede Menge Rampen.“
DER US-SOLDAT dreht sich und entdeckt erst jetzt den Raketenwald
„Oh! That’s fine, lovely, what a theatre! You come up with me! You show me Rampstein!“
TUTOU:
„Ich darf da nicht rauf. Off limits.“
DER US-SOLDAT:
„With me du darfst. Willst du?“
TUTOU läuft in eine Falle:
„Ja, andauernd will ich da rauf, aber – “
Er muss lachen:
„Und wenns bloß ist, um den General zu ärgern!… OK, I show you Ramstein.“
DER US-SOLDAT hat ein Bandmaß aus der Tasche geholt, so eines aus flexiblem Metall, das ekelhaft in die Finger schneiden kann und unangenehme helle Geräusche macht. Er gibt es Tutou, zieht den Anfang ein Stück heraus und erklärt recht lauthals und schnell plappernd:
„OK. I take this. I have to measure the radius, you know. I do the dangerous part – penetrating into enemy’s theatre. You just hold this in Rampstein and tell me, whenever I ask you, the distances. OK?“
TUTOU hat etwas Mühe, so schnell mitzukommen:
„Moment mal, Moment mal, langsam – also: der will die Entfernung messen, wahrscheinlich von den pershings und so – er macht den gefährlichen part und geht ins Feindtheater – das ist vielleicht ein Wort: Feindtheater … Und ich sag ihm die Zahlen… OK.“
DER US-SOLDAT hat zu Tutous Äußerungen an der passenden Stelle immer
„Yeah!“
gesagt. Jetzt meint er:
„Now you lead me to Rampstein!“
TUTOU:
„Der sagt immer Rampstein, das heißt Ramstein, in der Pfalz…“
Er geht zur Schräge nach links, auf eine Treppe, aber bevor er die Schräge betritt, will er zurück:
„Listen: ich möchte doch lieber nicht.“
DER US-SOLDAT ist ihm gefolgt, den Anfang des Bandmaßes in Händen. Ein Eindruck von gegenseitiger Abhängigkeit mag entstehen. Jetzt schiebt er Tutou auf die Schräge:
„Hey, come on, where’s Rampstein?“
TUTOU betritt die Schräge, arbeitet sich irgendwie zur deutschen Pfalz durch.
DIE ZWEI SOLDATEN betreten wiederum spiegelbildlich, den östlichen Teil des Kontinents und tun weiterhin alles, was Tutou und der US-Soldat tun.
TUTOU bleibt stehen:
„This is Ramstein.“
DER US-SOLDAT:
„OK! Now hold tight!“
Er geht mit dem Bandmaßanfang nach rechts, nach Osten, bis sich das Bandmaß quer über den ganzen Kontinent erstreckt. Er überklettert und umgeht irgendwie Stationierungseinrichtungen, Raketen, Soldaten und Grenze.
DIE ZWEI SOLDATEN tun dasselbe, so dass der Kontinent von zwei Bandmaßen überquert ist, das westliche weiter vorn, das östliche weiter hinten.
DER US-SOLDAT ruft recht ungeniert:
„How much?“
TUTOU liest ab, ruft auch:
„Zweitausendachthundert.“
DER US-SOLDAT:
„Twothousandeighthundred, right?“
TUTOU:
„Yes, right!“
DER US-SOLDAT geht noch etwas weiter in ‚Feindesland’:
„How much?“
TUTOU:
„Almost exactly dreitausend.“
DER US-SOLDAT:
„Very good.“
Er hebt den Bandmaßanfang über den östlichen Soldaten hinweg, der das andere Bandmaß hält, und geht nach oben-hinten.
DER EINE SOLDAT von den ‚Östlichen’ mit dem Bandmaßanfang tut das gleiche bei Tutou, geht aber nach vorne, nach ‚Süden’.
DER US-SOLDAT:
„How much by now?“
TUTOU:
„Dreitausendeinhundertzweiundfünfzig!“
DER US-SOLDAT:
„OK, I got it!“
DER EINE SOLDAT kehrt auch ‚heim’.
DER US-SOLDAT zu Tutou:
„Just push button to roll up!“
TUTOU will aufrollen, aber – die Bandmaße sind ja ineinander verschlungen. Das eskaliert nun ziemlich rasch zu einem Alarm, optisch und akustisch, ohne dass recht deutlich wird, wie das funktioniert, aber es ist jetzt ganz hart und böse. Es beginnt damit, dass die Bandmaße von beiden Seiten heftig bewegt werden und dementsprechend klirren.
/Diese Geräusche sollten wieder elektrisch vergrößert, vergröbert, verzerrt, rückgekoppelt wiedergegeben werden. Sodann Alarmsirenen, zuerst ganz leise, dann immer lauter werdend./
Zwei, drei Modellflugzeuge
/mit dem überdimensionalen Krach echter Düsenjäger/
könnten das Beängstigende steigern.
DIE SOLDATEN auf der Schräge werden zunehmend auch wieder tänzerisch, busy, schreien durcheinander:
„Hey! –Hep! – Up! – Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter! – Flexible response! – Abschreckung ab! – Pershing! – Backfire! – Point kill! – Overkill! …“
Dazwischen deutlich:
„Wo ist der zweite Schlüssel? – Was? – Wo der zweite Schlüssel ist!?“
DIE GIRL-TRUPPE tanzt mit Raketen, die sie eigentlich am Tanzen hindert, über die Bühne. Sie sind heroisch aufopfernd um ihr Image bemüht. Aber sie kommen gar nicht ganz rüber, stürzen übereinander und bleiben wie Raketensalat mit Fleischbeilage liegen.
/Dazu Foxtrott, erschreckend langsam und ebenfalls zusammenstürzend.
Attacca ein sehr pompöses Schlachtengemälde, sinfonisch, Tutti, Blech, Schlagzeug, insbesondere Becken. Bei Smetana gibt’s solche Passagen, gar nicht weit weg von der lieblichen ‚Moldau’. Die Sache hat auch einen Witz darin, dass das Stück fast nicht zu einem Ende kommt, beziehungsweise an jedem bombastischen Ende hängt ein noch bombastischeres.
Rhythmisch integriert ist eine/
LAUTSPRECHERDURCHSAGE, sehr nüchtern, count-down oder hoher Sopran, anschwellend und akzelerierend – am Ende sind das dann keine ganzen Sekunden mehr:
„Twenty – neunzehn – eighteen – siebzehn – sixteen – fünfzehn – fourteen – dreizehn – twelve – elf – ten – neun – eight – sieben – six – fünf – four – drei – two – eins – „
/Die Musik bricht mit einem riesigen Halbschluss ab./
DER GENERAL ist schon lange an die Rampe geeilt. Er dirigiert, Gesicht zum Publikum, mit einem langen Zeigestock in großer emotionaler Hingabe das sinfonische Intermezzo, allerdings durch die vielen Schüsse zunehmend genervt.
DER TOD ist während des musikalischen Schlachtengemäldes aufgetreten. Er ist riesig und eigentlich nur ein Maul. Ein Puppenbauer wird zu seiner Herstellung wohl vonnöten sein. Er besteht nicht aus flexiblem Material, ist irgendwie ledrig starr. Er hat ein Riesenschwert in der Hand, mit dem er immer den Bandmaß-Knoten zerschlagen will. Aber er ist unbeholfen in seiner Riesigkeit. Er spricht furchtbar undeutlich, sabbel-sabber-schwafelt fast ununterbrochen vor sich hin:
„Häwäsa – wann denn nu? Säsämi –Zuschlagn – Knon –hachlatoff… Tassa – Hunga!…“
Dieses ‚Hunga’ steht laut in der Stille nach dem Halbschluss.
/Auch alle anderen Zuspielungen und verfremdeten Geräusche auf Null./
DER GENERAL, noch ohne sich umzudrehen:
„Wer quatscht denn da kurz vor der Null-Lösung dazwischen?“
DER TOD, laut genug, aber undeutlich:
„Chndato!…“
DER GENERAL dreht sich um:
„Wie bitte?“
DER TOD sabbelt-sabbert zwar ununterbrochen weiter, hat aber eine Phase von einiger Verständlichkeit:
„General kenn mich nich! Ich bin der Tod!“
DER GENERAL, erschrocken:
„Was?!“
DER TOD holt mit dem Schwert weit aus:
„Hau den Knon hia kaputt!“
DER GENERAL stürzt zu ihm:
„Halt! Nein!“
Er haut ihm geschickt das Schwert aus der Hand, das zerbricht:
„Das wäre die richtige Propaganda auf die Gebetsmühlen der Friedensfreunde!“
Er befiehlt, ganz Herr der Lage:
„Großaufnahme des Konflikts auf die Projektion!
Er rennt nach hinten.
Auf der Projektionsfläche erscheint der Bandmaßknoten.
DER GENERAL klettert bei der Projektionsfläche auf eine Rampe oder ‚Giraffe’ – es gibt solche Dinge in den höchsten Kommandostäben – und erklärt mit dem Zeigestock eifrig, seine Stimme sollte über Lautsprecher dröhnen:
„Zwei Bandmaße aus elastischem Material ineinander verknotet. Herkunftsbezeichnung auf den Bandmaßen: feindlich einander. Lösung des Konflikts nicht durch Zerschlagung des Knotens, sondern durch Loslassen, durch Loslassen und Aufrollen des Bandmaßes. Lage des Konfliktherds: Töpen-Juchhöh zwischen Ramstein und drüben!“
Niemand außer dem General atmet mehr als unbedingt notwendig, geschweige denn rührt jemand den kleinen Finger. Sogar der Tod ist verstummt.
DER GENERAL rennt-robbt-springt zum Knoten und arbeitet sich am Bandmaß zu Tutou und dem US-Soldaten nach Ramstein:
„Lösung durch Loslassen.“
Er befiehlt dem US-Soldaten:
„Loslassen!“
DER US-SOLDAT UND DER EINE SOLDAT lassen los.
DER GENERAL befiehlt Tutou:
„Aufrollen! Press button!“
TUTOU und DER ANDERE SOLDAT gehorchen.
DER GENERAL erkennt Tutou wieder:
„Ach, der Zivilist mit dem Tramper-Ticket!“
Ziemlich scharf:
„Wie kommt das Gerät in Ihre Hände? Anklage wegen Sabotage!“
TUTOU wehrt sich verlegen:
„Nein, der wollte – ich hatte…“
DER GENERAL nimmt ihm das Bandmaß ab, rollt es, wenn noch erforderlich, zu Ende auf:
„So, Bandmaß auf Null. Null-Lösung, haha. Das kommt unter Verschluss!“
Nochmals abfällig sich an Tutou wendend:
„Tutou, der Mann, der die Auseinandersetzung suchte – „
TUTOU ist nicht wohl in seiner Haut:
„Ich suchte das Gespräch!…“
DER GENERAL:
„Das ist doch dasselbe! Wirklich sehr merkwürdig, an der Quelle des Großalarms Sie zu treffen! Und mir den Frieden zu verdanken! Verlassen Sie augenblicklich den geheim gehaltenen, abgesicherten Kontinent!“
TUTOU steigt von der Schräge.
DER GENERAL kommt vor und befiehlt:
„Die Girls ins Lazarett. Die Sanis sollen auch mal Spaß haben.“
DIE GIRLS rappeln sich auf und hinken davon. Sie kichern und piepsen:
„Au – ah – ich – ohhhch…“
DER GENERAL respektlos zum Tod:
„Hauen Sie ab, Tod, hier ist nichts zu holen!“
DER TOD:
„Kein Respek, der General. Wo krieg ichs Maul voll?“
DER GENERAL:
„Meine Kollegen in den Regionalkonflikten sind nicht so heikel.“
DER TOD wackelt missmutig ab:
„Die paar Soldächen – will Mega-corpse!… wenn ich zuschnabbe, da bleib kein Fußbrei Leben, kein Fußbrei… Feia General!…“
DER GENERAL geht zur Rampe, flüstert ins Orchester:
„Entwarnung!“
Er verschwindet im Raketenwald.
/Kleine Musik, beginnt mit einem Entwarnungston, dann vielleicht eine Reprise von ‚fa la nanna, bambin’, später Übergang in die Musik vom Ende der Szene./
TUTOU sucht seinen kaputten Rucksack zusammen:
„So fängt das wohl an mit der Schuld…“
Er findet ein goldenes Kreuz an goldener Kette:
„Was denn das? Hat einer sein Kreuz verloren. Muss ich irgendwo abgeben.“
Er steckt es ein.
DER SCHAFFNER kommt zu ihm:
„Völlige Ungewissheit über die Weiterfahrt, mein Herr. Völlige. Aber das Abteil steht Ihnen zum Weiterpoofen selbstverständlich zur Verfügung. Gute Nacht.“
Er geht.
Stille, Ruhe nach dem Sturm, wenig Licht. Aber die hohe Figur am Ende der Schräge wird
/unter sirrender Musik/
heller.
TUTOU ist ins Abteil gestiegen, verstaut den Rucksack und legt sich hin:
„Tramper-Ticket – 450 Mark für Raketen…! Das kann doch nicht alles gewesen sein?! Die ganze Reise schon vorbei?““
EUPA und RO, Schauspielerin und Schauspieler, die hinter Figur und Maske verborgen zu denken sind, sprechen sehr schön:
„Wer sagt Vorbei auf einer Bühne, die nur Wandlung kennt?“
TUTOU schaut sich erstaunt um, weiß nicht, wo er die Stimmen orten soll:
„Hei?!“
EUPA und RO:
„Suchst du das Gespräch?“
TUTOU steht rasch auf:
„Noch mal!“
EUPA und RO:
„Suchst du das Gespräch?“
TUTOU wendet sich der Figur zu:
„Mit aller Entschiedenheit: Ja! Wer spricht?“
EUPA:
„Ich – “
RO:
„ – bin – “
EUPA:
„Eu – “
RO:
„ – Ro – “
EUPA:
„ – pa – “
TUTOU, nach kurzer Pause:
„So redet!“
EUPA und RO, Tänzerin und Tänzer, modern gekleidet, vielleicht etwas weniger im Flohmarkt- und second-hand-look als Tutou. Sie sind jung, Mitte/Ende des dritten Lebensjahrsiebents.
/Angaben über die Musik sind ins Libretto verwoben./
Auf der Projektionsfläche könnten von der Musik gesteuerte Farben und Formen spielen.
Es ist die Geburt von Eupa und Ro. Wie jede Geburt ist sie zunächst dem Tode näher als den Jahrzehnten Leben dazwischen. Eupa und Ro werden in die Welt geworfen, unsanft, ‚zur Welt kommen’ ist ein schmerzhafter Vorgang. Mag sein, dass die Rampe, auf der der General stand, als Geburtshelfer dient, mag sein, dass sie auf sich aus der Figur lösenden, aufklappenden Rutschen ins Leben sausen, mag sonst etwas behilflich sein, – sie sind da!, vor der Schräge, liegend, gekauert, verstört, voneinander getrennt.
Das Licht lässt den Raketenwald weniger bedrohlich erscheinen, er ist jetzt zur skurrilen Dekoration verblasst. Unter den Soldaten kaum mehr Bewegung.
Zwei Kinder erwachen: Freude, Neugier, Zähigkeit, Sprunghaftigkeit, Lust, Witz, wenn auch kaum Ironie, Eroberungen, Lernprozesse von einer Intensität, wie sie im späteren Leben nie wieder absolviert werden, Lachen, Lächeln, Rieseninteressen für Staubkörner, Anmut, Erstaunen, auch Groteske… (Kaum nötig zu sagen, dass in diesem Libretto nichts süßlich oder gar kindisch gemeint ist.)
Ich sehe und höre immer einen zweistimmigen Kanon in Musik und Choreographie, beginnend mit den Tönen eines einzelnen, gleichsam zart klopfenden Instruments. Dann ein zweites Instrument. Hintereinander erwachen erst Ro, dann Eupa, heben den Kopf, richten sich auf, knien, hocken, krabbeln, stehen, schwanken einen ersten Schritt, stürzen, gehen, laufen, rennen – tanzen! Ein Weg vom Schrecken zur Lust der Apperzeption, eine einzige Liebe zur Welt. Ro ist wohl meist ein wenig voraus, realistischer, Eupa meist ein wenig hintennach, verträumter. Kommunikation im Sinne eines Pas de deux findet nicht statt. Aber der Kanon erlaubt doch die zärtlichsten Entsprechungen des Welt-Erfahrens.
Am Ende des Tanzes finden Eupa und Ro je eine Nische auf der Schräge, wo sie erstarren: Eupa sitzt, Beine flach auf dem Boden, auf die hinter sich ausgestreckten Arme gestützt, Blick in die Luft; Ro wohl verhaltener, eher geradeaus schauend, Unterarm auf dem angewinkelten Knie, Kinn darauf oder Kinn in der Hand.
/Fermate, dann Musik-Akzent./
Noch einmal volles Licht, das des Paares bisherige Sonderung aufhebt. Sie sind fast im Rüstungswald verschwunden.
Rascher Vorhang.
***
***
Eupa und Ro – Peters Podehls Kommentar von 2010
Eupa und Ro – Titel und Personen
Eupa und Ro – Szene 1 – EINLEITUNG
Eupa und Ro – Entre act 1 und Szene 2 – BILDENDE KUNST
Eupa und Ro – Entre act 2 und Szene 3 – OBDACHLOSIGKEIT
Eupa und Ro – Entre act 3 und Szene 4 – MASKENBALL