Kommen und Gehen – Bild 9

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Bühnenbild Rolf Christiansen

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Kommen und Gehen – Neuntes Bild

Barackenfenster.
Weißer Rahmen in Holzwand; von einem Stacheldraht durchschnitten.

ER (steht auf der einen Seite des Fensters.)
Ja, in einem Lager bin ich gelandet. Ist ja keine Schande. Der ist kein guter Europäer, der in diesen Nachkriegsjahren nicht einmal in einem Lager war. Vielleicht gehört das später mal zum guten Ton. Ja, ich bin also geflohen. Ich wollte allen Ernstes nach Tibet, weil ich glaubte, im alten Europa nicht mehr leben zu können. Komische Erfahrungen habe ich gesammelt. Man bekommt zum Beispiel im heutigen Europa leichter von netten Menschen Quartier und Unterkunft, als von einer hässlichen Behörde ein schäbiges Stück Papier.

Als ich neulich bei der Suchtafel stand, entdeckte ich auf der Frauenseite die Beine meiner Frau. Waren mir ja bekannt. Sie ist mir damals gefolgt, und so haben wir uns zufällig wieder getroffen. Sie wird gleich herkommen. Wir lesen jeden Tag an diesem Fenster zusammen die Tageszeitung.

SIE (erscheint auf der linken Seite des Fensters mit einer Zeitung und steckt die Hand durch den Stacheldraht.)
Liebling.

ER (küsst die Hand.)
Was gibt es Neues in der Zeitung?

SIE
Also, in Paris hat man ein Hörspiel von der Atombombe gesendet, das war so realistisch, dass sechs Selbstmorde die Folge waren.

ER
Wie schön hatten es die Überlebenden von 1918. Die hörten „Nie wieder Krieg“ und Pazifismus. Und wir? Wir können uns im Kino die Aufnahmen vom Atombombenversuch auf Bikini ansehen und können auch dementsprechend auf die Zukunft schließen. Welche Lehre zog man aus dem Pariser Hörspiel?

SIE
Man verhaftete den Direktor der Radiogesellschaft.

ER
Und nahm es im Übrigen als nette Anekdote. Oh, wie weit sind wir von unserer Welt? Was gibt es sonst Neues?

SIE
Über Triest konnte man sich auf der Konferenz nicht einigen.

ER
Das ist doch nichts Neues.

SIE
Am 19. Mai kannten wir uns sieben Jahre.

ER
Das kann aber unmöglich in der Zeitung stehen.

SIE
Nein, aber an diesem Tage wurden 300 Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt.

ER
Was soll man dazu sagen? Sollte man sagen: hätten wir uns doch an einem anderen Tag kennen gelernt?

SIE
Tja, man nimmt herzlich wenig Rücksicht auf den Erinnerungstag eines Liebespärchens?

ER
Hast du nichts Erfreulicheres?

SIE
Freut es dich, dass infolge Streik in New York Verdunkelung herrscht?

ER
Schadenfreude. Sie haben den ganzen Krieg keine gehabt. Nun kommen die New Yorker Liebespärchen endlich jetzt auf ihre Rechnung.

SIE
Heftige Unruhen werden gemeldet in …

ER (unterbricht:)
Ist so egal, wo, Eva. Was geschah?

SIE
Die Regierungstruppen verloren 57 Tote, die Aufständischen 112.

ER
169 Tote ist das Fazit. Wahrscheinlich haben sie in der Welt, in die sie nun eingegangen sind, bereits Frieden geschlossen. Das hätten sie billiger haben können, brauchten sie nicht mit dem Leben zu bezahlen.

SIE
Und nun etwas Erfreuliches: In Sachsen wird alles Spielzeug vernichtet, das irgendwie mit Krieg zu tun hat.

ER
Ich muss doch Zeitungsmann werden. Das hätte ich als fett gedruckte Schlagzeile gebracht.

SIE
Es steht unter „Vermischtes“. Die Schlagzeile lautet anders: „Kriegsminister betont ausdrücklich, dass er kein Abrüstungsminister sein will“.

ER
Das hätte ich nun unter „Vermischtes“ gesetzt.

SIE
Du verlangst zu viel, Peter. Das hieße, der Kuh zu verbieten, Milch zu geben.

ER
Ich verlange noch viel mehr: Kriegsminister sollten überhaupt verboten werden.

SIE
Vom Verbieten wird auch nichts besser. Der neue Lagerleiter hat faschistische Umtriebe grundsätzlich verboten. Ob er damit Erfolg haben wird?

ER
Den neuen Lagerleiter habe ich übrigens vollkommen fertig gemacht. Er hat alle neu eingeteilt in riesige Listen: Juden, Faschisten, entlassene Soldaten, Militaristen und – na, was eben heute so auf Europas Straßen wandert. Aber ich? „Europäer will nach Tibet,“ dafür hatte er keine Liste und eine neue extra für mich wollte er nicht anlegen.

SIE
Na und?

ER
Ich habe ihn gefragt, ob er nicht doch alle Lagerinsassen in eine einzige Liste mit der Überschrift „Menschen“ aufnehmen will. Die sicherste Einteilung sei die alphabetische nach dem Geschlecht. Die Frage nach der Nationalität oder nach Gesinnung sei doch im heutigen Europa sehr heikel.

SIE
Und die Antwort ist meist noch heikler, mancher weiß es tatsächlich nicht. Weil das alles doch nur ein Mäntelchen ist um ein armes Stückchen Mensch.

ER
Ja, wie er sich auch nennt. Und ob er schiebt, oder hungert, nach Hause will, oder soll. Müde, wandernde Überbleibsel des Krieges, die sich mit wenigen fanatisierten Ausnahmen nach irgend einer Heimat sehnen, wo ihr Herz seinen stillen Takt unbehelligt schlagen kann. Zurück zur Natur, sagte man früher. Heute kann dem kranken Europa nur geholfen werden, wenn wir zurück zum Menschen finden.

SIE
Noch aber haben wir gar nichts gefunden.

ER
Nein, wir leben ja auch nicht, wir spielen Theater, wir alle – (zum Publikum: ) auch Sie – wir spielen ein grauenhaftes Stück. Eine zweifelhaft interessante Dekoration: Trümmer, Pappfenster, Einschüsse in den Wänden friedlicher Bürgerwohnungen, Konferenzen und Menschenschlangen. Aber in dieser Dekoration spielen wir Menschen nichts anderes als aufstehen, anziehen, das Wenige essen, gelegentlich einen Kuss, ins Bett gehen und schlafen. Sonst nichts. Ja, doch, manchmal sprechen wir von Arbeit, Frieden, Brot.
Und alle Parteien versprechen uns das. Aber das ist auch alles. Das spielen wir Tag für Tag, en suite, immer dasselbe Stück und immer – vor leerem Haus. Das Leben läuft ganz woanders.

SIE
Ich fürchte, es wird uns weglaufen, wenn wir ihm nicht bald die Hauptrolle in diesem faden Stück zuerkennen.

ER
Ja, und das ist die Angst, die auf mir lastet, dass das Leben uns wegläuft, – für uns alle eines Tages verloren ist. Ich bin aufgewacht, hier im Lager, zwischen Essen Holen und Dösen unter diesen vielen stillen, sturen Menschen. In der sogenannten Masse, die es gar nicht gibt in Wirklichkeit. Es gibt ja doch nur eine Ansammlung von Einzelnen. Und in diesen Ansammlungen lebt etwas, sehnt sich etwas. Ich glaube, ich hätte ein Verbrechen begangen mit meinem Fliehen nach Tibet, oder sonst wohin.

SIE
Ich glaub, wir wären des erwarteten Friedens und Glücks gar nicht richtig froh geworden.

ER
Das Leben und die Menschen, die wollen ja etwas. (Stutzt:) Von mir?

SIE
Was wollen Sie denn?

ER
Nun, ganz banal: eine bessere Zukunft.

SIE
Als du damals sagtest, dass in Tibet angeblich Europas Schicksal bestimmt wird, da fand ich, dass sie es da anscheinend nicht sehr gütig mit uns meinen. Wir sollten versuchen, unser Schicksal selbst zu bauen.

ER
Aber es ist schwer. Ungelöst liegen die Probleme vor uns. Das Glossieren und Kommentieren der Tageszeitung ändert da auch nichts. Worauf sollen wir bauen?

SIE
Auf das, was geblieben ist. Auf den Schutzengel etwa, der uns alle beschützt und geleitet.

ER
Hat der Krieg den Glauben an einen Schutzengel nicht vernichtet?

SIE
Nein, ich glaube, dass es Vergeltung und Belohnung des Guten gibt.

ER
Und die Unzähligen, deren Leben zu früh beendet wurde?

SIE
Ist Sterben eine Strafe? Wer kennt des Sterbenden Empfindung? Wer weiß, ob die, die heute zum Tode verurteilen, nicht härter bestraft sind, als die Toten? Schau sie dir alle an, Peter, die du liebst. Sie gehen nicht wirklich unter. Doch, manchmal: aber das ist dann die Tragik, die es nun einmal im Leben auch gibt.

ER
Aber auf den Schutzengel allein können wir uns doch als Menschheit nicht verlassen.

SIE
Nein, der ist Geschenk und Gnade. Aber hast du nicht selbst so viel von Geist und von der Zukunft im Geistigen gesprochen?

ER
Ja, gesprochen, aber … Er kann so aufbauen in stillen Stunden, wo man verzweifelt an der Machtlosigkeit des Geistigen. Die ersten kleinen Schritte weiß man vielleicht, und den Weg kann man undeutlich sehen.

SIE
Was aber soll ein solcher Weg, wenn man ihn nicht begeht? Muss ich dir sagen, dass die geistige Welt weder da noch ein Geschenk ist?

ER
Sie ist Ziel, das erkämpft werden muss.

SIE
Eben! Ziel das erkämpft werden muss.

ER
Ich gehe mich umziehen für das letzte Bild.

SIE
Ja, geh!

ER (geht ab.)

SIE
Ja, nun kommen wir also zum letzten Bild unseres Spiels. Es ist das schwerwiegendste, natürlich. Wir wollen die Quintessenz ziehen, das, was übrig geblieben ist aus den vorhergegangenen Bildern, aus dem vergangenen Krieg. Vielleicht empfanden Sie dieses Spiel gar nicht wie ein Zeitstück. Ja, wir haben vielleicht nicht so sehr aus dem Vollen der – Moment: aus dem Leeren der Zeit geschöpft. Ja, die Zeit ist leer, so leer, wie die ausgebrannten Häuserruinen da draußen. Und deshalb haben wir diese Ruinen; die Sie tag täglich sehen, nicht auf die Bühne gebracht. Ganz unter uns: die Ruinen, die leeren, die sind nämlich von gestern. Und was heute wichtig ist, das kann nicht der schwarze Markt oder die hohe Kriminalität, sondern kann doch nur das sein, was für ein besseres Morgen wichtig ist. Ich möchte Sie bitten, sich noch einmal ganz ehrlich zu fragen: Hat nicht der Krieg auch in Ihnen irgend welche Spuren hinterlassen, auf denen Sie aufbauen könnten? Kameradschaft, Hilfsbereitschaft, oder so etwas? Auf diese Spuren kommt es an. Sie sind wohl im Chaos geboren, aber sie führen aus diesem Chaos heraus.

Mein Mann hat sich dann zurückgezogen in ein Forscherstübchen. Ich darf ihn nicht besuchen, will auch nicht, denn ich sage mir, so wie er jetzt ist, können wir keine Ehe führen. Vielleicht wird er in der Einsamkeit mein Mann. Er will mich dann rufen lassen und das wird dann das letzte Bild.

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Bild 10

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Zu Kommen und Gehen

Claudia zur hiesigen Veröffentlichung

Presseschau und Zuschauerbriefe von damals

Autobiografischer Monolog von 1947 – Das Stück “Kommen und Gehen” berichtet

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Bild 1

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Bild 10