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Die Caldera des Kilimandscharo zerbarst in hunderttausend Stücke
von
Claudia Podehl
Das schöne prickelnde Leben, mit dem sie sich rundum umgeben hatte, war ins Stocken geraten. Und auch Gaia selbst war eingenickert. Doch eines Jahrhunderts erwachte sie mit einem Ruck aus dem Bauch und wunderte sich über diesen narkotischen Schlaf. Was war denn los? Alles lief wie am Schnürchen, absolut am Schnürchen. Ein wahres, echtes geregeltes Beamtenleben war es. Haargenau jeden Tag das Gleiche, wie Mr. Brown in den Englisch-Schulbüchern: Gets up at half past six, shaves at twenty to seven, has breakfast at seven o’clock, catches the train at a quarter past seven, starts work at 8 o’clock, und so weiter. So etwas Langweiliges. Alle Kreaturen auf der Kruste lebten ihr schönes ruhiges Leben, machten Kinder nach Plan, zogen sie rasch groß, und wenn sie nicht dem Hunger einer anderen Kreatur zum Opfer fielen, fingen sie wieder von vorne an.
Der Vesuv verpaffte eine rabenschwarze Rauchwolke.
Einen Unruhestifter brauche ich, dachte Gaia, einen Chaosgenerator, der wieder für Leben sorgt. So ein schönes globales Erdbeben oder vierzig bis fünfzig Vulkanausbrüche?
Das Rinnsal. – Gaia erschauderte von Neuem beim Gedanken daran, und die gesamte Kruste erzitterte in einem wiegensanften Erdenbeben.
Das Gefühl der Berührung durch den anderen, dem lebendigen eigenwilligen anderen, das sich unabhängig bewegt, auf eigenen Pfaden.
Die Geysire von El Tatio schossen feuerwerksartige Fontänen, weshalb die Atakama-Wüste fast vollkommen zugeplätschert wurde.
Die ganz junge Gaia war unzählige Male von riesigen kosmischen Geschossen bombardiert worden, die sich dann sogleich in Dampf auflösten. Bis eben eines Tages ein ganz kleines Stückchen davon auf einem mächtigen und sehr widerborstigen, auf ihrer brodelnden Brühe schwimmenden harten Krustenbrocken gelandet war.
Und einfach weiter floss, schnurstracks auf ihr Herz zu.
Es war ein unglaublich kurzer Augenblick gewesen, aber er hatte ihr Leben für immer verändert.
Der Mount St. Helen erhitzte sich sehr, der Schnee auf seinem Kratergipfel schmolz und sauste in die Schlackewüste unten im Tal.
Hunderte Millionen Jahre hatte Gaia denken, schuften, umdenken, bewegen, ihre allerbesten intellektuellen Fähigkeiten entwickeln müssen, nur um noch einmal ein solch herzbewegendes Rinnsal zu erleben. Ihre brodelnden Fluten hatten vor lauter Aufregung alle Krustenstücke auf nimmer Wiedersehen verschlungen.
Also erstmal neue Kruste schaffen, also abkühlen, dann ihr Magnetfeld so ausrichten, dass möglichst viele dieser Brocken zu ihr flogen und nicht an ihr vorbei, ohne auf ihr zu landen. Und zuletzt auch noch genau die richtige winzigkleine Temperaturspanne hervorkehren, in der diese knallharten Himmelsgeschoße sich nicht gleich in Gas auflösten. Bei den Temperaturen, die Gaia gewöhnlich so produzierte, war das alles andere als einfach und erforderte ein Feingefühl, das sie noch nie erprobt hatte. Als sie es geschafft hatte, war sie erwachsen.
Der Ätna zischte ein paar tausend heftige Blitze in die Stratosphäre.
Und Gaia gefiel dem Wasser.
Es kam. Viel. Und blieb.
Flüssig sein, lebendig, kreativ. Man konnte sein Rauschen und Plätschern, Brausen und Tosen, Tropfen, Gurgeln und Blubbern bis zu den entferntesten schwarzen Löchern hören, die das sehr bewunderten.
Das Wasser durchdrang die Kruste, die weicher und freundlicher wurde. Und selbstverständlich floss es, zu Gaias unendlichem Vergnügen. Es formte Pfützen und Tümpel, Lachen und Seen, es floss in Krater, die gerade schwiegen. Und formte Meere und Ozeane. Gaia kam aus dem Staunen und Vergnügen über all diese Bewegungen gar nicht mehr heraus, zuletzt formte sich sogar etwas Eis an den Kalotten, eine bisher vollkommen unbekannte Temperatur.
Bis eines Tages das Magma aus einem dieser mit dem wundervollen Nass gefüllten Kraterlöchern ganz vorsichtig in die Höhe blubberte. Das in diesem Fall schon fast freundliche Zusammentreffen zwischen Magma und Wasser gab Anstoß zu etwas noch Revolutionärerem.
Zu der Sache mit den Kreaturen.
Der Stromboli knatterte und schmauchte in rascher Folge Rauchringe in die Höhe.
Wie das alles zustande gekommen war, war Gaia anfangs gar nicht klar. Da war das Wasser-, Magma- Krusten-Kuddelmuddel, das irgendwann anfing zu kichern. Kichern? Ja, das vernahm Gaia.
Sie musste lange und genauestens studieren, bis sie begriff, dass da, wo Magma und Wasser aufeinander trafen, gegessen wurde! Was wiederum Repliken der Fresser generierte. Und die kicherten vor Vergnügen.
Das war ein Leben! Zunächst hatte es in den wogenden Wassern immer mehr gewimmelt und gekribbelt, und Gaia liebte dieses Gewurle. Dann hatte sie diesen Kreaturen etwas Neugier eingepflanzt und die waren auf die trockene Kruste gekrabbelt, wo für das Überleben nun auch Anpassungsvermögen gefragt war.
Nach dem Try-And-Error-System hatten die Kreaturen gelernt, ihre Umgebung zu vermessen und sich anzupassen. Zum Lernen bedurfte es eines Speichervermögens, was auch wieder abgerufen werden konnte. Dieser lebhafte Prozess hatte unendlich vielen Kreaturen das Leben gekostet, aber Gaia war verschwenderisch, wenn eine Kreatur starb, dann gab es gleich Hunderttausend neue. Sie ist reich und hat Platz für alle.
Die Fumarolen in den Solfataren exhalierten schubweise Schwefelwasserstoff, während die eisummantelten Hornitos zusätzlich auch ein wenig Schlacke verhusteten.
Diese Kreaturen fraßen nicht nur Mineralien, sondern sie fraßen sich auch gegenseitig auf. Das sorgte für Ordnung und Sauberkeit. Alle Kreaturen mussten nicht nur die Nachkommen produzieren, die für das Überleben ihrer Spezies notwendig war, sondern auch als Futter für die anderen, was allerdings als sehr schmerzlich empfunden wurde. Sie erfanden die unglaublichsten Schutzvorrichtungen, Gifte, Gegengifte, Verstecke und Versteckaufspürmethoden, Verteidigungs- und Angriffsstrategien, Mimikri und Lauern, um zu fressen und nicht gefressen zu werden, was erst sehr lange Zeit nach Ende dieser Geschichte auch gelang. Aber das ist eine andere Geschichte.
Gaia hatte die ganze Sache gleich auch noch weiter entwickelt.
Ein hübsches Erdbeben führte nun sehr plötzlich zum Zusammenbruch des Schlackekegels auf dem Bambouto-Massiv in Kamerun und zahlreiche Trümmerlawinen kullerten hinab in alle Erdenrichtungen.
Denn bei einem sehr kraftvollen Magmamagengeböllere war Gaia die glänzende Idee gekommen, Kreaturenverbände zu schaffen. Arbeitsteilung. Eine Zelle frisst und verdaut, die andere nutzt die Nährstoffe und baut Repliken, nach dem eigenen Zellverbandschema, versteht sich. Das Außerordentliche an dieser Idee war gewesen, dass sie nicht zwei verschiedene Zellen brauchte, um diese Zellverbände zu schaffen. Nein, sie benutzte zwei vollkommen gleiche Zellen und schaltete nur einfach bestimmte Funktionen an, andere ab. Click, clack. Genial.
Die Beethoveninsel katapultierte zischende Lapilli im Dreiviertel-Takt in die Lüfte, die klinkernd auf das Eis plumpsten, das schmolz, samt Lapilli bergab rauschte und in die eisigen Fluten des antarktischen Meeres klatschte.
Je mehr das nun fast vollkommen in der Kruste eingeschlossene Magma krachte, desto großartiger waren Gaias Ideen. Dem Kombinationsreichtum dieses Click-Clack-Konzepts war kein Ende gesetzt, die Zellverbände selbst wurden erfinderisch und entwickelten sich zu immer neuen Kreaturen, immer mehr Zellen schlossen sich zusammen und spezialisierten sich. Gemeinsam konnten sie auch mehr lernen, speichern, abrufen, nachdenken, schaffen, neu gestalten, zusammenbrechen, weil die Kombinationen falsch geschaltet waren, und wieder neu anfangen, Farben wahrnehmen und neue schaffen, Gehör. Eine unglaubliche Vielfalt an Leben kribbelte und krabbelte, hüpfte, sprang, stürzte und zappelte nur so über Gaias Kruste, ja die Kreaturen bohrten sich hinein und durchwühlte sie, gestalteten sie um, schufen eine Gashülle, die wiederum den Anstoß zur Entstehung von völlig neuen, umgekehrt-komplementären Lebensformen gab. Milliarden Jahre lang zitterte Gaia vor Vergnügen.
Und nun? Es war alles irgendwie eingerastet. Totale Wellness. Statische planetarische Ruhe.
Unerträglich.
Der Tajumulco in Guatemala schepperte global ohrenbetäubend.
Einen Störenfried brauche ich, aber einen gewaltigen, dachte Gaia. Der alles durcheinander bringt, die Ordnung und Häuslichkeit liebenden Kreaturen in Aufruhr versetzt, der nichts beim alten lässt, Unordnung schafft, Krach, Verwirrung, Entweihung, Kuddelmuddel, Babylon, Anarchie und Chaos.
Gaia sann einige Jahrtausende über das Kribbeln und Krabbeln nach und überlegte, wie dieses Leben wohl wieder in Schwung kommen könnte.
Nacheinander wachten alle Vulkane auf und schmauchten, die Geysire spritzten ihr heißes Wasser je nach Gaias Gemütszustand sehr hoch oder gar nicht.
Kontrast und Bewegung brauchen die Kreaturen, und Austausch, Multikulturelles, Waghalsigkeit, ich kann was, was du nicht kannst.
Aber die Kreaturen hatten mittlerweile alles so organisiert, dass ein perfektes Gleichgewicht herrschte. Die Tochterkreaturen passten sich dem vorprogrammierten Leben ihrer Kreaturenmutter einfach an, da das sehr praktisch war und ihnen auch gar nichts anderes einfiel.
Rebellische Nachkommen.
Ja eben: klein. Eine Winzlingsrevolution.
Bei dem Gedanken an rebellische Nachkommen erregte sich der Nevada Ruiz genau da besonders heftig, wo es eh schon ziemlich heiß war, und spie vor lauter Aufregung ein spektakuläres Feuerwerk glühender Lava so hoch, dass man es auch vom Mars aus sehen konnte.
Wie soll ich denn rebellische Nachkommen erfinden? Die sind nun mal ihrer Mutterkreatur gleich.
Und wieder versickerte alles Geysirspritzwasser in der Kruste, und der Nachschub blieb aus.
Diese einfältige absolutistische Macht, die Kinderkreaturen vorzuprogrammieren, die muss ich Ihnen für alle Ewigkeit nehmen.
Zwei?
Zwei Kreaturen für eine Vermehrung?
Die Caldera des Kilimandscharo zerbarst in hunderttausend Stücke.
Aus zwei mach eins: das ergibt ganz neue Lebensformen. Also: eine Elefantenkreatur und eine Grille: ergibt eine Kängurukreatur. Großartig!
Der Mayon auf den Philippinen produzierte einen mittelheftigen Gesteinshagel.
Eine Polypenkreatur und eine Spinne? Ergibt eine tausendfüßige Kreatur. Herrlich!
Der Stratovulkan Oraefajokull eruptierte und schleuderte Feuer und Flammen zielgenau in den Sternenhimmel.
Eine Schwalbe und eine Stute? Das ergibt eine geflügelte Stute. Stell dir das mal vor!!!
Der Galeras stieß einen Höllenatem in die Lüfte und würgte 1100 Grad heiße Lava aus seinen Schlünden.
Ja aber, ihre eigenen physikalischen Regeln konnte Gaia nun doch nicht ändern. Was soll eine Stute mit Flügeln? Zum Fliegen ist sie viel zu schwer.
Die Kalotten froren ein und es blieb einige tausend Jahre eisig kalt.
Aber das Magma polterte weiter, denn ganz tief unten an der glühendsten Stelle barg es das Gefühl, dass die Idee noch nicht ausgeschöpft war.
Und wenn ich nun einfach zwei Kreaturen der gleichen Art nehme? Die eben doch nicht ganz gleich sind? Dualismus, das Prinzip meiner eigenen Existenz? Positiv und Negativ, Jin und Jang, Licht und Schatten? Feuer und Wasser. Mit der Kraft der Kopplung, der Wechselwirkung aus dem Widerspruch, Zusammenwirken der Divergenzen, Vereinigung des Auseinanderstrebenden? Und der gegenseitigen Zerstörung, Niederschlagung, Zerstrahlung, Vernichtung zum Zwecke der Energiefreisetzung? Damit nichts ewig sein kann?
Die schöne, klare Göttin Aphrodite, der Inbegriff der Liebe, mit dem zerstörerischen Kriegsgott Ares? Sie werden bekanntlich die Tochter Harmonia zeugen.
Gar nicht schlecht, schnalzte Gaia mit ihren Gedanken und der Krakatau schoss einen gewaltigen Lavapfropfen in die Höhe und explodierte gleich darauf um 350°, dass es nur so donnerte und schepperte.
Die behäbigen Kreaturen, denen diese Unruhe – ganz nebenbei gesagt – eigentlich gar nicht behagte, bräuchten dann einen ebenbürtig gegenteiligen Partner, ein Alter Ego, um Nachkommen zeugen zu können.
Welch göttlicher Nervenkitzel.
Also, wenn ich…
Gaia machte sich höchstkonzentriert an die Arbeit.
Es war eine sehr komplizierte wissenschaftliche Arbeit, jeglicher Fehler, so winzig er auch sein mochte, zersprengte das ganze System, Monster entstanden, aber Gaia dachte an den prächtigen Chaosgenerator, den sie im Sinn hatte. Tausend und Abertausend mal begann sie von neuem, bis endlich die Erbinformationsspiralen der Kreaturen und der “Alter Egos” perfekt ineinander passten, wie die Teile eines Puzzles.
Der Gunung Agung applaudierte mit einem vulkanischen Gewitter erster Klasse.
Und nun merkte Gaia, wie müde sie war. Sie hatte Jahrmillionen geschuftet, getüftelt, kaum geschlafen, aber nun funktionierten die Teilungen und Verschmelzungen einfach großartig.
Es war nur noch die Frage, wie dieses gegensätzliche Konvergenzwesen nun zur praktischen Anwendung verpackt werden sollte. Unbedacht ihrer Müdigkeit erfand Gaia rasch noch einen seinen Funktionen gerechten Erbinformationsträger mit dem starken Willen, diese so breit als möglich zu verteilen und atmete auf, freute sich schon auf das vitale Chaos, das in Kürze ausbrechen würde. Sie schuf unzählige Repliken und ließ sie alle auf die Kreaturen los.
Aber die selbstständigen und selbstbewussten Kreaturen beachteten diese Objekte überhaupt nicht, und die nüchternen und funktionsgerechten Erbinformationsverteiler blieben stehen und liegen wie nicht abgeholt.
Gaia wurde nervös und der Raikokel schoss ein erhebliche Menge tiefroter Glutfanale aus seinen feurigen Schlünden.
Ach ja, die Zellteilungsfunktion muss ich abschalten, dachte die vollkommen übermüdete Gaia. Clack, clack, clack. Aber da kam es noch schlimmer, denn die Kreaturen fraßen gierig weiter, ohne jedoch Nachkommen generieren zu können. Sie wurde unmäßig fett und zerplatzten, dass es nur so krachte.
Milliarden von Kreaturen blieben ohne Nachkommen, die Kruste wurde gähnend leer, aber die funktionsgerechten Erbinformationsträger produzierten und verstreuten weiterhin ihre wertvollen Informationen sinnlos und unbeachtet vor sich hin. Da zuletzt niemand mehr fraß, stank es bald auch überall höllisch.
Der Vetriolölsee oben im Himalaja trat gurgelnd und schäumend über die Ufer.
Da wurde die vor Müdigkeit taumelnde Gaia ungeduldig und auch ärgerlich und kam auf die Idee, die nüchternen Informationsverteiler mit mehr Draufgängertum auszustatten. Und tatsächlich begannen die zweckmäßigen Erbinformationsverteiler sofort gegeneinander zu kämpfen.
Der Popokatepetl hustete siebenhundert Milliarden Tonnen Schwefeldioxid aus.
Nein, das hat keinen Sinn, dachte Gaia in einem letzten Anfall der Vernunft und gab noch verärgerter auf. Sie aktivierte die Zellteilungsfunktionen von neuem, click, click, click, denn sonst hätte sie schließlich mit der gesamten Lebensschaffung von vorne beginnen müssen. Dann schaltete sie die kampfsüchtigen Erbinformationsverteiler vollkommen ab. Clack, clack, clack, clack, clack. Und dann dachte sie voller Wut an gar nichts mehr.
Der Pinatubo verqualmte eine letzte unglaublich schwere pechschwarze Rauchwolke, die die Kruste und Ozeane überschattete, so dass die anderen Himmelskörper Gaia suchten, aber nur noch ihren treuen Mond sahen, der sie weiter umkreiste. Dann geschah nichts mehr.
Die Vulkane schwiegen, die Geysire spritzten lustlos ein wenig heißes Wasser in die Höhe, die Kruste nutzte die unerwartete Ruhe, um sich ein wenig zu festigen. Die Ozeane schaukelten freundlich, denn die Winde schwiegen und die Kreaturen erholten sich von den schweren Einbußen nach der Abschaltung der Zellteilung. Das Leben war und blieb langweilig.
Gaia schlief.
Als sie dann nach einigen Hunderttausend Jahren aus ihrem Erholungsschlaf aufwachte, erschien ihr alles sofort sehr logisch.
Schließlich geschah die Fortpflanzung seit jeher aus Lebensfreude. Aber wenn die Kreaturen an dem funktionsgerechten, aber langweiligen Erbinformationsverteiler kein Interesse hatten, dann eben, weil er vollkommen uninteressant war und zum Aufnehmen einer Beziehung gehören zwei sich Beziehende. Ich hätte ihn mit ein wenig charmantem Duft ausstatten sollen, dachte sie.
Der Kazamura blubberte, hustete ein wenig und musste auch mehrmals niesen.
Schließlich laufen die Kompatibilitätsinformationen auch über den olphaktiven Weg, denn Gehirn im Sinn von Lernen und Wissen und Denken haben bei der Empfängnis nichts zu sagen. Oh ja, einen wunderschönen Duft, dachte Gaia schwärmerisch, der benebelt und betört. Dem man hinterherläuft wie die Cartoons in den WaltDisneyFilmen, wenn sie etwas zu Essen riechen, und Lavendel, Jasmin, Knoblauch und Rosmarin, Kardamom, Moderduft und Zimt. Und außerdem könnte ich den Erbinformationsträger auch etwas aufpeppeln, indem ich ihm Kleider aus auffallenden, verführerisch schillernden Farben verpasse, die blenden, und wenn der sich dann bewegt, dann blinkt und funkelt und schimmert und glitzert es, dass einem ganz schwindlig wird, dachte Gaia, und ihr Magma begann verwirrt zu blubbern und zu böllern.
Wohlgestalte, aufregende Formen und Farben, Kreativität, Schnapsideen, Ausdruckskraft, Canova, van Gogh und Glühwürmchenblinken, schwelgte sie weiter. “Was ist denn ein Van Gogh?” fragte das Magma in einem unerwarteten Anfall der Nüchternheit. “Das weiß ich doch auch nicht, das werden wir schon sehen,” antwortete Gaia.
Und singen könnten sie auch, verlockend zwitschern, krächzen, schmettern, jodeln, tremolieren und knödeln, flöten, trillern und trällern, Koloraturen, Gold werde ich ihnen in die Kehle legen, jubilierte Gaia, und wenn sie dann endlich verliebt sind, dann wird ihre Stimme betörend sinnlich und geschmeidig, und ihr selbst war es nun schon ganz schwummerig im Bauche. Musik, Harmonien, Melodien, Rhythmen, Mozart, Maracas und Callas. Tanzen! Eine kesse Sohle aufs Parkett legen und lautloser Spinnentango.
“Und wie ist das mit dem Magen,” fragte das Magma benebelt, “dem Gaumen?” Schmausen, schnabulieren und schlemmen, schlürfen, schwipsen, Delikatessen, Leckerbissen, Aromen, Würzen, Wohlgeschmack, Gaumenkitzel, Genuss, Basilikum wirft jede Jungfrau um, ein Curryhuhn, Lebkuchen und Käse mit Würmern.
Gaias Erregung hatte sich auf die Kreaturen übertragen, und die kribbelten und krabbelten nun hektisch, fahrig und tumultuarisch auf ihrer Kruste, im Wasser und in der Luft herum, was Gaia nur umso mehr in Fahrt brachte. Streicheln sollen sie sich, kraulen, zärtlich zueinander sein, in die Augen sehen, sich beriechen, mit dem Schwanz wedeln, Körpersprache, Tango, Flamenco und Bauchtanz, auf dem Vulkan, Rocken, dass die Wände wackeln, Blues, schmiegen und wiegen, hätscheln, herzen, umarmen, schmusen, lecken, beschlecken, schmecken, kraulen, kitzeln, küssen, bezirzen, begehren, erobern, taumelig um die Finger gewickelt, bestrickend dämonisch, die Sinne betören, betäubt in Saus und Braus, entfesselt und voller Rhythmus, Verlangen, Lust, Duft, Schwindel, Furie, Wut und Wonne. Keine Raison, keine Gedanken und kein Zurück mehr.
Gaia war bei all diesen Gedanken um die Lust dermaßen ins Schwitzen geraten, dass der Nordpol vollkommen dahingeschmolzen und auch das wenige noch verbliebene Eis auf der Antarktis bedrohlich warm geworden war.
Um Himmels Willen!
Das Wasser stand bis an den Himalaya, unzählige Kreaturen und langweilige Erbinformationsverteiler waren ertrunken, andere – wenige – hatten sich an das neue Leben im Wasser angepasst. Die Kruste war unter dem warmen Wasser ganz weich geworden, nur der Mount Everest und einige andere hohe Berge ragten noch heraus, und die vollkommen außer Rand und Band geratenen Vulkane spieen ihre Lava alle unter Wasser und verursachten haarstäubende Tsunami mit verheerenden Monsterwellen, während die kochende Lava in den brodelnden Fluten zu skurrilen Figuren erstarrte.
Gaia musste ihre Gedanken sofort aufs Eis legen.
Rasch sog sie das Magma aus den Vulkanen zurück und verschluckte sich dabei auch noch am Ozeanwasser, das gleich nachkam. Ihre Husterei brachte die gesamte Kruste ins Zittern und Wackeln. Dann schaltete sie die Klimafaktoren auf höchste Tiefkühltemperatur und bat die Sonne und deren Winde um Hilfe und auch die gerade vorbeisausenden Weltallstürme, die also eine kühlenden Runde um Gaia fegten. Gaia selbst war ganz mucksmäuschenstill, rührte sich nicht mehr, zwang das Magma zur Ruhe und sehnte sich dabei unendlich nach dem lustvollen Kribbeln eines Lebens zu Zweit, das sie sich da ausgedacht hatte.
Als dann nach einigen Jahrhundertausenden wieder die ersten Eiswürfel am Nordpol schwammen, atmete sie sehr vorsichtig auf und wartete weiter, bis das Wasser sich so weit abgekühlt hatte, dass der äthiopische Cuma wieder emportauchte. Und nun begann sie – sehr sanft – über die turbulenten Ideen nachzudenken, an denen sie beinahe ertrunken wäre.
Also, Nachkommen zeugen soll, sagen wir mal, “erfreulich” sein, dachte Gaia sehr vorsichtig und nüchtern und horchte auf die Reaktion des Nordpols. Der rührte sich nicht.
Und das zweite Objekt, das eine Kreatur braucht, um Nachkommen zu zeugen, das Alter Ego, der Partner, braucht alle Sinnes- und Kommunikationsorgane, damit das “oben Beschriebene” zur Ausführung kommen kann. Gaia drückte sich so trocken wie möglich aus, um sich – und damit das geliebte, aber eben doch nicht ganz ungefährliche Wasser rundum – nicht zu erhitzen. Und es muss so interessant sein, dass eine Kreatur Lust darauf bekommt. Aber die Erbinformationsteilungs- und -verschmelzungsfunktionen sind schließlich perfekt, da brauche ich nichts zu ändern. Und wenn ich sie ganz einfach…. hmmm, in ein den Matrixkreaturen ebenbildiges Alter Ego lade?
Der Fuji Jama, der schon ein schönes Stück aus den sich abkühlenden Wassern emporgestiegen war, bekam kochendheißen Schluckauf, und die Klimafaktoren wurden umso besorgter und näherten sich dem absoluten Nullpunkt. Am Nordpol türmte sich ein riesiger Eisberg auf.
Also: ich nehme eine Matrixkreatur, schalte die Zellteilungsfunktion zum Zwecke der Selbstvermehrung ab. Clack. Aktiviere Spiralenteilung und -fusion zwecks Vermehrung. Click. Übertrage die Erbinformationen des Alter Ego, wohin? In die Eierstöcke. Erbinformationen der Kreatur raus, Erbinformationen des Alter-Ego-Partners rein. Gut. Schalte die Gebärmutter ab. Clack. Funktioniere sie um zum Erbinformations-Projektionsinstrument, aber nicht drinnen, sondern draußen. Nehme die Erbinformationsbehälter, sprich ehemalige Eierstöcke, gleich mit. Raus damit, an die frische Luft. Müssen im Ernstfall ja parat sein. Die Zizen? Braucht der Alter-Ego-Partner nicht, braucht nicht zu stillen, weg damit! Oh je, sieht aber scheußlich aus, lassen wir da, nur die Funktionen abschalten, nicht wachsen, kein Fett, keine Milch, kein Lustempfinden, clack, clack, clack, clack. Das heißt Lustempfinden, warum denn nicht? Click.
Allerdings kann die zum Erbinformationsspritzinstrument umfunktionierte Gebärmutter natürlich wenig ausrichten, wenn sie so schlabbrig rumhängt. Die muss zielorientiert schießen. Verknöchern?
Dem Pelée in der Karibik wären beinahe ein sehr langer Schlackepfropfen aus dem Schlot geschossen. Nein, dachte Gia, das ist unpraktisch, und die Schlotschlacke rutschte erstmal wieder runter.
Vielleicht kann ich da was erfinden, sowas wie Sahnesteifschlagen, dachte Gaia behutsam. Nur nicht den Nordpol auf meine revolutionären Machenschaften aufmerksam machen, aber der türmte bei Tiefsttemperaturen Eisberge auf, dass es eine reine Freude war.
Eine Luftdruckpumpe. Lustaktiviert.
Gaia bekam Gänsehaut und heftigen Schüttelfrost, dass die Ozeane zu schwabbeln begannen.
Luft? Wo soll die denn herkommen? Und außerdem ist die zu trocken. Das muss alles laufen wie geschmiert, eine lustgesteuerte chemisch-physiologische Blutdruckpumpe. Das ist die Lösung. Gut.
Und wieder tüftelte und schaltete Gaia – ganz still und leise – die Chemie, die Physik, die Energieströme, die Synapsen, programmierte das Wasser, baute bei Matrixkreatur und ihrem Partner-Alter-Ego Schmierorgane ein, dabei immer äußerst bedächtig und ein Auge auf den Nord- und Südpol orientiert.
Die beiden waren begeistert von den schönen Eisbergen, die sie geschaffen hatten und bemerkten überhaupt nichts, auch nicht den weit entfernten Kilauea, der sich aufblähte, wie ein Luftballon, da sich seine unterirdischen Kammern kräftig mit knallroter Lava füllten.
“Und wenn die Kreaturen und die Alter Egos dann nicht miteinander auskommen?”, fragte das Magma.
“Wir kommen schließlich auch miteinander aus. Ich brauche deine Hitze und du brauchst meine Intelligenz. Und auch sonst noch einiges.”
Das Magma knirschte mit seinen feurigen Zähnen, dass die gesamte Erdkruste hin- und herschwankte und die Eisberge heftig ins Schaukeln gerieten.
“Und was ist mit dem Mutterinstinkt?”
“Was soll mit dem denn sein? Den brauchen die Nachkommen schließlich!”
“Braucht das Alter Ego aber nicht! Also abschalten!! Die Milchproduktion hast du eh schon abgeschaltet.”
Diesmal knirschte Gaia mit den Zähnen, denn über solche Fragen hatte sie noch gar nicht nachgedacht.
Da sie nicht gleich weiter wusste, putzte sie sich erstmal die Zähne, weshalb alle Geysire der Erde plötzlich hochaktiv wurden. “Mit sauberen Zähnen kann ich besser denken”, erklärte sie dem Magma, das allerdings nichts von Zähneputzen wissen wollte. Gott sei Dank, denn eine planetarische Geysir-/Magmazahn-Interaktion hätte wahrhaft unvorstellbare Folgen gehabt.
Also, Kinder groß ziehen? Aber klar doch, das tut die Kreatur, denn die ist seit jeher dafür programmiert. Beim alteregoistischen Partner wird alle Restmütterlichkeit abgeschaltet. Punkt.
“Soll der denn nun gar nichts können, nichts sehen, nichts erleben?”, fragte das Magma, traurig und beleidigt. “Dieses wundervolle Liebesspiel zwischen Eltern und Kind überhaupt nicht erleben? Das Wachsen, die Tollpatschigkeit, das Krabbeln, das Aufstehen und das Gehen? Fliegen? Du wolltest doch einen ebenbildigen UND ebenbürtigen Partner schaffen?”
Nun knirschten beide mit den Zähnen und die von den Geysiren schon gehörig gewaschene Erdkruste kam ins Schleudern und bekam Risse. Die Eisberge krachten aneinander.
“Gut”, lenkte Gaia ein, “du hast ja recht.” Alles Leben und alle Entwicklung war nach dem Prinzip des Life-Long-Learning gewachsen, und nun sollte eine Kreatur oder deren Alter-Ego-Partner etwas nicht können? Nein, das wäre lebenswidrig.
Also, wir müssen auch die Aufgabenverteilung programmieren. Zumindest ein bisschen, den Rest müssen die dann schon selber regeln, denn sonst wird’s wieder langweilig. Auf jeden Fall muss die Logik des ein-bisschen-Jin-im-Jang-und-umgekehrt-Prinzip gewahrt werden.
Es ging turbulent zu zwischen Gaia und dem Magma, das in diesem Fall die Interessen des Alter Ego vertreten wollte.
Viel Mutterinstinkt verblieb in den Kreaturen aktiv und wenig im Alter-Ego-Partner. Die so entstandene Leere wurde mit größerer Muskelkraft und Schießfähigkeiten gefüllt. Beide vergaßen die Aggressivität, die Gaia ihm seinerzeit verpasst hatte. Bei der Liebesfähigkeit einigten sie sich auf grundsätzliches Gleichgewicht, wenngleich mit unendlich vielen Schattierungen. Beim Machtprinzip ging es sehr hoch her, denn sie hatten höchst unterschiedliche Vorstellungen von Macht. Keiner gewann.
Und zuletzt war es so, dass eigentlich alles möglich war, nur das Prinzip der Eiproduktion durch die Kreatur und die Besamung durch das Alter Ego blieb bestehen, aber ansonsten behielt der Alter-Ego-Partner auch ein wenig Mutterinstinkt, weshalb durchaus denkbar war, dass es diesen so potenzieren konnte, dass es die Kleinen allein großzieht, während die Kreaturenmutter ihnen allen den Rücken kehrt und andere Wege geht. Oder dass eine Kreatur auf die Jagd geht und für das Fressen für alle sorgt, während der Alter-Ego-Vater nur rumkommandiert, weil er körperlich stärker ist, aber nicht genug Köpfchen fürs Jagen und eine gerechte Fressensverteilung aufbringen kann. Oder will.
Während der langen Diskussion waren die Erdplatten je nach Diskussionsstand viel hin- und hergerutscht und fanden sich nun in einer vollkommen neuen Konformation wieder.
Zuletzt tobte sich der Tolbatschik in Kamtschatka aus, mit kraftvollen Donnerschlägen schoss er gigantische, zischende und dampfende Lavabrocken in den ewigen Schnee, brachte alles Eis zum Schmelzen, dann verschluckte er den ganzen riesigen See, der sich in seinen Kratern gebildet hatte, weshalb das Magma da ganz tief unten feurig mit dem Wasser zusammenstieß. Das verdampfte schlagartig und sprengte alles Erdreich darüber in die Luft, das Hunderte Kilometer entfernt wieder auf die Kruste niederprasselte. Der Tolbatschik verschwand vollkommen und hinterließ sein Gegenstück: einen riesigen unermesslich tiefen Trichter.
Die Elefantenkreatur Ermenegilda stand vor einer schönen Magnolie und betrachtete sie, genüsslich überlegend, von welcher Seite sie nun die Verspeisung derselben beginnen sollte. Erst die ganz zarten Blätter ganz oben? Und dann schön langsam runter? Oder erst die kräftigeren unten, um dann schön langsam aufzusteigen und das Mahl mit den saftigen zarten ganz oben abzuschließen und den herrlichen Geschmack noch lange nachhallen lassen zu können?
Sie überlegte allerdings auch, dass die Magnolie ihre Verteidigungsgifte aktivieren würde, weshalb sie beschloss, von links unten nach oben und auf der rechten Seite wieder nach unten zu fressen. Dann könnte sie von allem etwas durch ihren lüsternen Gaumen passieren lassen.
Ahh….
Nur, ein Elefanten-Alter-Ego namens Moritz hatte diese Überlegungen aus einer gewissen Entfernung am Schwanzwedeln der Kreatur nachverfolgt, und diese Wedelei (in Wahrheit war es natürlich eher Ermenegildas subliminal wirkender, mächtig betörlicher Duft – und auch ein bisschen die Popowackelei) hatte ihn so aufgeschaukelt, dass er gerade in diesem Moment der Entscheidung losstürmte. Es gab einen heftigen Kampf, mit Rüsselohrfeigen, Fußtritten, Trompeterei, Gequietsche und Geschnaufe, Küsschen und ein rhythmisches Stoßzahn-Klick-Klack. Der Chaosgenerator hatte zugeschlagen.
Die Magnolie atmete erst mal auf.
Tatsache ist, dass ein Elefanten-Alteregochen namens Max, das niemand sah, an diesem Lustkampf nicht unbeteiligt war. Der schrie, stampfte und trompetete mehr als seine Eltern zusammen, denn seine zukünftige materielle Existenz hing schließlich von Moritzens Überzeugungskünsten und der daraus folgenden Zustimmung Ermenegildas ab. Ja, der kleine Max flüsterte ihm die schönsten Liebkosungen ins Ohr, der sinnesüberwältigte Moritz wunderte sich über die Einfälle, die ihm da kamen, und probierte sie aus. Zu guter Letzt gab es noch ein langes, unendlich zärtliches Rüsselgeschnüffel. Die Düfte stimmten. Max beruhigte sich und ließ die Augenlider sinken.
Göttlicher Nervenkitzel.
Und rebellische Nachkommen.
Ein wundervolles Lächeln breitete sich über Gaia aus, sie lehnte sich glücklich zurück und strahlte in das Weltall.
© Claudia Podehl