Erwins dicke Seele

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Erwin Hahs – Zur Ausstellung in Halle 2014/15

Würde ich denn richtig denken, wenn ich der Meinung wäre, dass Sie nicht nein sagen würden, wenn ich Ihnen eine Tasse Kaffe anbieten würde?
Ich bin durchaus der Meinung, dass Sie da richtig denken könnten.
Mit anderen Worten: Möchten Sie eine Tasse Kaffe?- Ja, gerne.
Die Japaner reden wohl so ähnlich, weil für sie Wörter eine Seele haben, und die könnte durchaus schädlich auf den anderen wirken. Weshalb man also niemals so direkt reden darf, wie wir es in unserer westlichen Kultur gewöhnt sind.

Der Japaner Masaru Emoto war beeindruckt von der Tatsache, dass es keine zwei gleichgestalteten Wasserkristalle geben könne, weshalb er sich furchtbar anstrengte, solche zu fotografieren. Dann begann er, Wasser vor dem Einfrieren mit Mozart oder Hard Rock zu bespielen, was die Form der danach entstehenden Wasserkristalle stark beeinflusste. Dann lobte oder beschimpfte er sie, auch das wirkte, bis er zuletzt den Wassertropfen nur noch das Schriftbild seiner Worte zeigte. Auch das hatte seine Auswirkungen. Wasserkristalle werden schön bei Mozart und geschriebenem Lob und traurig und hässlich bei Hard Rock und schriftlicher Beschimpfung. Kotodama nennen sie die Japaner, die Wortseele.

Was mag mich damals 1987 bewegt haben, mit Kind und Kegel mal rasch zur Leipziger Messe zu fahren, dort den Stempel einzuholen, der uns überhaupt genehmigte, in die DDR einzureisen, nur um dann schleunigst nach Halle zu Erwins Ausstellung zu fahren, wobei wir unerlaubterweise von der Autobahn abfuhren. Gott sei Dank hatte mir das nette Fräulein, das unsere Messebesuche abstempelte, aber gesagt, wir müssten ja schließlich irgendwo essen, oder?

Mich trieb es nur einfach zu Erwins Bildern.

An ihn persönlich kann ich mich kaum erinnern.

Als wir zu harten Mauerzeiten aus der Aretinstraße einmal nach Zernsdorf zu Besuch fuhren, suchte ich, von der Schule auf Demokratie und Rechtsstaat getrimmt, nach einer Verfassung der DDR, um damit laut protestieren zu können gegen all die Unfreiheiten hinter der Mauer. Ich erhielt eine DDR-Verfassung von Dieter – die Jahrzehnte später Ausgangspunkt für die Arbeit einer meiner Doktorandinnen wurde -, aber ich sehe den alten und schon recht kranken Erwin abwinken: Ach Claudia, da stehen ja schöne Sachen drin, aber die haben gar keinen Wert!

Ansonsten wenig Erinnerung an seine persönliche Anwesenheit in meinem Leben.

Die Bilder, ja. Überall hingen sie zuhause an den Wänden, lagen in Mappen unter dem Sofa, wurden ausgetauscht, neu gerahmt.

Als ich erwachsener werdend in die großen Kunstgalerien ging, fragte ich mich dann, wo denn eigentlich Erwin sei, der gehöre doch durchaus da rein.

Auch erzählte man mir ob meiner kindlichen Unnahbarkeit, ich hätte immer zu allen gesagt: “lasse Ruhe!”, da ich von Charlotte hörte: lass sie in Ruhe, mit anderen Worten, die mag es nicht, wenn man ihr zu nahe kommt. So bin ich heute noch. Erwin habe ich aber wohl etwas eleganter abserviert. Er machte bei Tisch in Babelsberg Kinderquatsch mit mir auf meinem hohen Stühlchen sitzend, was ich wohl wieder mal nicht wollte, weshalb ich also konterte: “Nun lassen Sie mich bitte erst einmal in Ruhe!” 

Erwin soll sehr verdattert gewesen sein.

Und nun kam Frau Dr. Angela Dolgner und sagte, sie bereite eine Ausstellung in Halle vor, wieso habe denn Erwin da Bühnenbilder für den kleinen Muck gemalt?

Ich lese also in Peters Tagebuch aus Babelsberg und entdecke, dass Erwin da ziemlich oft gewesen war: Erwin stand heute unangemeldet vor der Tür. Erwin kam mit Gabriele, Erwin hat sich mit einer Postkarte angekündigt. Heute haben wir mit Erwin und Iris Pilze gesammelt. Erwin hat mir gestern den ganzen Nachmittag diktiert. Und auch in kurzen Andeutungen die ganze schief gelaufene Muck-Geschichte, die so wunderbare Bilder aus ihm rausgekitzelt hat. Und das hässliche Theater mit seinem – zweiten – Rauswurf aus der Burg.

Irgendwie muss der in Babelsberg eben doch recht oft anwesende Erwin trotz meines Widerstands durch die Poren meiner kindlichen Haut bis in meine für solcherart gestaltetes Imprinting empfängliche Seele vorgedrungen sein und dort ein paar ganz tiefe Zeichen eingeritzt haben. 

Weshalb wir also im Januar 2015 wieder in Halle sind.

Zunächst ärgere ich mich ob der miserablen Ecken, in die “Die Liebe” bei uns zu hause immer verbannt war. Immer hing sie irgendwo im Dunklen, das das Bild tragende helle Hoffnungsgrün hinter der Trümmerlandschaft erkenne ich erst hier in Halle. Da bin 66 Jahre alt. Peter liebte es, es reiht sich in die Entstehungszeit seines Zwei-Personen-Stück “Kommen und Gehen” ein, das er Anfang 1948 in Weimar am Nationaltheater mit Charlotte spielte.

Dann die wunderbare Iris als “Die Melancholische”, die ich gar nicht so melancholisch finde. Erwins große, tiefe Liebe zu ihr, die sich lieben lässt, lese ich dem Bild ins Gesicht geschrieben. Gianni hat sie fotografiert, was ist das für ein wunderschönes Bild, meint er.

Auch mit dem großen Requiem schließe ich Frieden. Ich sah es immer nur zu dunkel fotografiert und eben auch vor vielen Jahren in Berlin in der Staatsgalerie in einer zu dunklen Ecke. Erwins Bilder brauchen Licht, Luft und Freiheit. Die haben sie hier in Halle.

Dann hängen plötzlich die Muck-Bilder vor mir. Gerahmt jagen sie mich ganz schnell zurück in die Aretinstraße, und zu Thomas, und ein paar salzige Wassertropfen kämpfen sich trotz meines Widerstands aus den Augenwinkeln heraus.

“Das ist der Raum, den ich ganz besonders liebe”, sagt Angela. Nur habe ich diesen ganz kleinen lichten Raum gerade erst ein wenig angeschnuppert. 

Zu “Weihnachten im Zirkus” komm ich mehrmals zurück. Was da alles los ist! Ein Blick darauf genügt ganz bestimmt nicht.  

Bildgespräche:

Ist das in der “Begegnung ohne Gesicht” nun eine Mondfinsternis, oder die Mondsichel, in die oftmals die Muttergottes mit dem Kinde stehend dargestellt wird?  Ein Symbol für das Weibliche also. Die Frage bleibt unbeantwortet im Raum stehen. Wird sie auch bleiben.

Inge hatte mir schon unten vorgeschwärmt, wie schön doch die “Klingenden Gefäße” da oben seien. Welche denn, kenne ich nicht? Nein? Also wenn du raufkommst, dann wirst du sie gleich erkennen, die stechen ja so hervor. Wie wunderbar.

Nun stehen wir davor und Angela berichtet, Martina habe ihr erzählt, dass das Bild niemandem in der Familie gefallen habe, weshalb es bald verkauft wurde. Nein! Das kann ich nicht glauben, protestiert Inge.

Gianni kommt von seinem Alleingang aus der hintersten Ecke des letzten Raums hervor: “Era inesauribile”, sagt er erstaunt. Er war unerschöpflich. 

Ja, einordnen kann man Erwin nicht. Kein gradliniger Mondrian, auf den ersten Blick erkennbar und Inspiration für unzählige Tapetenmuster. Vielseitig, vielschichtig, vielgesichtig, mannigfaltig, nichts, was er nicht in ein wenig enigmatische, expressive Malerei hätte umsetzen können, jedes mal etwas anderes, wie das Weihnachten im Zirkus, das man sich wieder und wieder anschaut und dann mit dem Gedanken – da komm ich dann noch mal zurück – erst mal weiter marschiert. Kein Tapetenmuster.

“Hier auf diesem Bild fehlen Menschen, meinte einer der Kuratoren”, erklärt mir Gabriele zu “Künitsch”, “und das sei schade. Aber dieses Gelb da, das ist das schönste an dem Bild, sagt er.” –

“Aber da ist doch eigentlich einer,” sage ich, “der da lang geht, ein Schatten, wie bei einer fotografischen Langzeitaufnahme.”
Nach einer Weile entdecke ich noch einen zweiten ganz feinen Schatten.

Ein gezeichnetes Porträt seiner ersten Frau, Liebe sehe ich nicht, sie mag eine Menge etwas schräger Fragen aufgeworfen haben, deren Beantwortung sie gar nicht interessierte.

Und die elegante Schattengestalt auf dem “Gespräch”. Aber reden die denn wirklich miteinander? Eine Figur liest, zwei sitzen in Sesseln, zwei andere wickeln Wolle ab, alle gesichtlos. 
“Sag mal, Gabriele,” stichle ich, “meinst du denn, dass die miteinander reden?” – “Ja natürlich, das da ist Erwin in unserem Wohnzimmer in Halle, das ist Gunda, die liest, das ist Iris, das ist Sempronia, und die beiden, die da Wolle abwickeln sind Tizia und Frau Caia.” Ich habe die Namen nicht alle gespeichert.
Naja eben, natürlich Erwin, ganz klar, hatte ich schon erkannt, war aber eben zuvor noch nicht ganz bis auf die Bewusstseinsebene gelangt.
Hm, Erwin beato tra le donne? Er fühlte sich wohl unter Frauen, gemütlich geschäftigen, geschwätzigen, lesenden Frauen. Wie Peter.
Er könnte sich da sogar einfach als Wunschtraum hineingemalt haben. Seine Seele lacht mich an. Unerschöpflich? Er muss eine ganz besonders dicke Seele mit Achterbahnschlingen gehabt haben, gefüllt mit Lebenslust und -freude, über Dummheit konnte sie sich heftig ärgern und dem Ausdruck verleihen, musste auch leiden, eine spannungsgeladene und gefräßige, die nie ruhte und alles aufsog, die bereit war, jedgestaltige Anregung auf ganz eigene, das Fraktale ins Lineare, uns Einsicht gewährende Weise umzusetzen. Ihre Bilder erzählen unerschöpflich viele komplexe Geschichten.

Erwin mag kein leichtes Leben gehabt haben. Die Macht der Dummheit hat zu seinen Lebzeiten  gleich zweimal riesige, absolutistische Dimensionen angenommen, aber Dummheit regiert auch heute noch, in kleineren, aber auch durchaus die Existenz einzelner bedrohenden Maßstäben. Erwin hat gelebt, trotz allem, geliebt, er wurde geliebt, hat seinem Unmut Luft gemacht, oftmals so intelligent, dass die pingeligen Seelen der Schreihälse das gar nicht erfassten. Waren es die gemalten Bilder, die die kleinen und größeren Mächtigen ärgerten, oder eher seine Unabhängigkeit, sein Nicht-Mitläufertum, seine Nicht-Unterwürfigkeit, und die nicht gemalten Bilder leerer Huldigung, die sie so gern geschenkt bekommen hätten? Und die Erwin ebensowenig malen konnte, wie Charlotte am Nationaltheater in Weimar die Phrasendrescherei der moskautreuen Tochter Titos zu spielen vermochte.

Wenn es Erwins Karma war, Zeugnis seiner Zeit abzulegen, dann hat er das erfüllt. In hunderttausend eigenartigen Schattierungen. Japanische Wörter mögen Seelen haben, Erwins Bilder haben eine starke, und die schwebt und flattert hier in diesen Räumen herum und freut sich.

© Claudia Podehl
2015