Lotte in Weimar – und auch Peter

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Aus Peters nicht gerade linearen Erinnerungen
(die er hier bei uns in Mandela schrieb)

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Erinnerung 4

WEIMAR

Da hängt ein Schlüssel zu einem Glücksloch, zu einem Glanzpalast in meinem Leben: Weimar. Vier außergewöhnlich schöne Jahre am Deutschen Nationaltheater. Meine ersten ernsthaften Erfahrungen als Schauspieler. Ich wurde Komiker, nicht nur. Und ich wurde Ehemann und Vater. Vielleicht sollte man die Reihenfolge umstellen: Ehemann und Vater, sodann auch Komiker: Dromio in der KOMÖDIE DER IRRUNGEN, Perin in der DONNA DIANA.

Das begann im November 1946. Erstes Problem war die Wohnungssuche. Ich hatte da an der Ostsee in einem Kurzurlaub mit Gisela und Josse eine Tochter des Hauses Kiepenheuer kennengelernt. Zu der ging ich, und die nahm mich vorläufig auf im Hause des Verlegers Kiepenheuer. Einschneidende Erinnerung: Hunger. Trockenbrot, und davon nicht genug. In Scheiben nach Terminen eingeteilt, die ich alle aß, ohne auf die Termineinteilung zu achten. Nee, war nicht gut, dieser Anfang der außergewöhnlich schönen Jahre, auch wenn ich nicht verhungert bin. In der Kantine lernte ich die Kollegin Charlotte Ulbrich kennen, mit der ich als erstes in UND PIPPA TANZT spielen sollte, Gerhart Hauptmann, den Hellriegel. Ich hatte das Stück mal gesehen, mit Käthe Gold in der Titelrolle, und Eugen Klöpfer. Meine Mutter verballhornte: „Und Tante piepst“. Aber die Russen sagten: Njet, nix dieses pseudoromantische Gesäusel, dieses urgermanische Mysteriöse. Und sie reichten dafür TANJA – DIE ZWEITE GEBURT ins Theater-Gehäuse, ein Stück des zeitgenössischen Arbusow mit einer Glanzrolle für Charlotte, mit keiner Rolle für Pepo. Der Untertitel war für Charlotte natürlich sehr bedeutsam: Es war ihre zweite Geburt nach der Katastrophe mit Ottos Tod.

Die Wohnungssuche endete bei Frau Blasius in der Heckelstraße, wo sowohl Charlotte als auch ich möblierte Zimmer mieteten. Da begann, was über 50 Jahre halten sollte: Die Liebe zwischen diesem Berserker Charlotte und dem so zart besaitet wirkenden Pepo – so hieß er immer noch nicht. Ich war natürlich gar nicht so zart besaitet, sondern hatte viel energisches Beharrungsvermögen in der Seele. Claudia sagte neulich: „Bei dir fühlte sich Mutti geborgen, deshalb ist sie dir auch nie untreu geworden.“ Was man bezüglich der Ehe mit Otto nicht behaupten kann. Verrate ich zu viel? 

Ich spielte erstmal im weißen Smoking BUNBURY, den Algernon, wenn ich mich an den Namen der Rolle einigermaßen richtig erinnere. Das wurde ein netter Erfolg, nichts Aufregendes. Ich bückte mich dem Garderobier, der etwas klein und bucklig war, entgegen, dass er mir die Schleife um den Hals knüpfe, aber das wollte der partout nicht, war empfindlich wegen seines Kleinwuchses. Will-Jo Bach spielte den männlichen Partner, Christiane Enskat, heftig in mich verliebt, schon wieder eine, mein Liebchen, das andere Liebchen war Anne-Marie Hueck (gesprochen: Huck). Ein junger Kollege ließ verlauten, dass meine Rolle eigentlich seine Rolle gewesen wäre, „aber der Podehl musste ja eine Anfangsrolle kriegen.“ Der junge Mann war fortan keine Größe im Ensemble, war alles andere als eine Konkurrenz für mich. So weckste Eifersucht.

Hans Stiebner inszenierte TANJA, er war ein sehr guter Regisseur, aber einer von denen, die sich im ersten Akt festbeißen, dem zweiten Akt einige Aufmerksamkeit widmen und erst reichlich spät vor der Premiere merken, dass es da noch einen dritten Akt vor einiger Bedeutung gab. Es wurde ein Riesenerfolg für Charlotte. Auf der Hauptprobe sagten die Russen: Nicht in diesen Dekorationen, das sind ja Armenhäuser! Verschiebung um eine Woche, bis die neuen, schickeren Dekorationen fertig waren. Im Grunde waren die Sowjets ja sehr bürgerlich. Auf der rasanten Premierenfeier stellte meiner Charlotte der Führer der Ost-FDP Wilhelm Külz nach, was ihr gar nicht behagte. Der sowjetische Kulturoffizier fragte Charlotte, ob er ihr einen Wunsch erfüllen könnte. Ja: eine Wohnung, damit sie ihren Sohn Thomas, der noch bei seiner Tante in Jena wohnte, zu sich nehmen konnte. Charlotte wusste auch schon, wo die Wohnung lag: Haeckelstraße 3 (oder 5?), derzeit noch bewohnt von russischen Soldaten, aber die zögen sowieso aus. Woher sie das wusste, weiß ich nicht. Am nächsten Tag wurde ihr die Wohnung zugeteilt.

Das war eine wunderschöne Wohnung, im Nachbarhaus wohnte die Frau Blasius. Charlotte hatte im Horoskop stehen: ‚In Wohnungsangelegenheiten werden sie im Leben mit Glück zu rechnen haben.’ Ich habe diesen Satz nie so recht geglaubt, aber irgendwann habe ich ihn dann wirklich gelesen. Erdgeschosswohnung mit Garten. Zunächst mietete ich da ein möbliertes Zimmer. Irgendwann kam Amanda, das war die Haushälterin in der Familie Schmidt in Stendal gewesen. Charlotte zögerte sehr, sie aufzunehmen, denn sie war in Stendal ein Tyrann, den Charlotte fragen musste, ob sie mit Thomas ausfahren dürfe. Aber die Zeit nach Schmidts hat sie wohl einigermaßen geknetet, so dass die Tyrannenattitüde abfiel. Es war sehr gut, sie zu haben, Charlotte war frei, Theater zu spielen. Noch dazu, nachdem dann Claudia zur Welt kam. Sie bewohnte mit Thomas und Claudia das Zimmer, das ich anfangs gemietet hatte und ich zog ins Schlafzimmer zu Charlotte.

 „Gutes Spiel“, wünschte uns Amanda, wenn wir abends zur Vorstellung gingen. Ein guter Wunsch, den ich nicht kannte; ich glaube, sie hat ihn erfunden. Das war ja sehr schön: am Abend, wenn die anderen ins Theater gingen, fangen wir Schauspieler an zu arbeiten, ein schönes kleines Mysterium. Naja: nun gleich Mysterium, – kleine Eigenheit. Charlotte spielte fast nur noch Titelrollen. Ich spielte sehr viel, alles durcheinander: komisch, ernst, groß, klein, Hauptrollen, Chargen. Gerne französische Boulevard-Komödien: DIE GLÜCKLICHEN TAGE und HEUTZUTAGE MIT ACHTZEHN JAHREN. War viel Lust dabei. Charlotte plagte sich viel viel mehr als ich, sie wollte immer schon auf der ersten Probe Premierenqualität liefern – Ich war sehr viel unbekümmerter, dafür fehlte mir eher der Ernst am Abgrund. Charlotte hat mich ein Leben lang aufgezogen über einen Abgang bei meiner zweiten Rolle: Leutnant zur See in DIE MATROSEN VON CATTARO. War das etwa von Friedrich Wolf? Ja, war es. Da sei ich nach einer dramatischen Szene völlig privat abgegangen, als spielte ich gar keine Rolle. Dabei hatte dieser Leutnant eine recht dramatische Szene hinter sich, Auseinandersetzung mit den zum Meutern entschlossenen Matrosen. „Geht der ab, als sei er Pepo…“ Nein, damals nannte sie mich noch nicht Pepo. 

Lore Muth, Kollegin an der Schauspielschule in Wien, eine dicke Person, deren schauspielerische Laufbahn wegen ihrer Leibesfülle etwas fragwürdig schien, aber von einigem Pfiff; wenn ich ihr sagte: „Naja, zum lebenden Leichnam von Tolstoij fehlt mir noch das Letzte.“ Dann sagte sie ganz trocken mit ihrem schmallippigen Mund: „Das Letzte? Dazu fehlt dir das Erste.“ Miststück, das die Wahrheit sprach. Ich liebte Tolstoijs Titel und den Text, aber sehr oberflächlich. Heute mag ich den Titel überhaupt nicht mehr, Text weiß ich nicht, ist ja wohl eine ziemliche Gefühlsschmiere. Eiwei, sehr freche Einschätzung. Moissi hatte den gespielt. Lore Muth spielte übrigens die Marthe Schwerdtlein in einer Aufführung des Urfaust, die wir in Salzburg zum Besten gaben. Ich den Wagner.

Es gibt Aufnahmen mit Monologen, die Moissi spricht. Nicht zum Anhören. Der war meiner Mutter noch ein Begriff; ob sie ihn noch gesehen und gehört hatte, weiß ich nicht. Ein Pathos, ein Singsang, – nein! Das hat sich wohl doch eine Menge verändert, zum Guten. Am Nationaltheater war Lothar Müthel, berühmter Mann der zwanziger Jahre bei Jessner am Schauspielhaus in Berlin, etwas korrumpiert als Direktor des Burgtheaters in den Nazi-Jahren. Er neigte zum Pathos, wenn er Goethe sprach, Beate Lenders konnte ihn da herrlich nachmachen: Urworte, orphisch. Auch ‚Aral’ soll er wunderbar gesprochen haben.

Ich rutsche ganz schön weg vom Thema, macht aber doch vielleicht auch Spaß. Nicht vergessen, dass Pathos von Pathein kommt, das heißt leiden. Denkbar, dass wir eine attische Tragödie im Original kaum ertragen können.

Mandela, ohne Datum

Erinnerung 5 – Verschiedene Theaterstücke, am Anfang

Wir spielten in Weimar zuerst in der Weimarhalle. Da war hinten noch ein kleines Haus dran. Das blieb nach dem Einzug in den Neubau als Kleines Haus erhalten, war sehr klein, aber sehr schön. Da gabs die Uraufführung von unserem KOMMEN UND GEHEN . Die Weimarhalle bedeutete für die Regisseure ganz schöne Klimmzüge, denn da war praktisch nur ein großes Orchesterpodium. Aber so was regt ja auch an. Der Chef, Hans-Robert Bortfeldt, konnte besonders gut damit umgehen: WIE ES EUCH GEFÄLLT, seine große Anfangsinszenierung mit Charlotte als Rosalinde. „Blöder Schäfer!“ hatte Charlotte zu mir zu sagen. Nicht so doll, aber von Shakespeare.

Diese Zeit am Nationaltheater Weimar ist in der Erinnerung ein einziger riesiger, wunderschöner Blumenstrauß. Es war eine solche Fülle, dass ich einige Mühe habe, davon einigermaßen linear zu erzählen. Und es war ja doch auch Hochzeit und Claudia-Geburt. Auch hier sollte die Reihenfolge stimmen: Hochzeit und Claudia-Geburt und eine Fülle am Theater.

Helmut Spieß inszenierte Benatzkys MEINE SCHWESTER UND ICH. Die Männerrollen waren mit dem Buffo Karl Lohmann und Gerd-Michael Henneberg besetzt. Und zwar sollten die alternativ die Hauptrollen spielen, das war so eine moderne Variante zum Thema: keine Protagonisten. Premiere mit Karl Lohmann als Liebhaber und Henneberg als Filosel. Nächster Abend umgekehrt, aber Henneberg sagte ab: krank. Hatte offensichtlich so viel Schiss, den Liebhaber zu spielen. Das ärgerte Hans-Robert Bortfeld und Helmut Spieß sehr und sie beschlossen, einen Coup zu landen: Ich sollte in der zweiten Aufführung den Filosel spielen, um Henneberg einen Denkzettel zu verpassen. Das klappte, vom Morgen bis zur Vorstellung. Ich lernte sehr behende den Text samt Singen und Tanzen und spielte am Abend. Ich hatte da auch der blonden Brigitte Gola an den Hintern zu fassen, sie zu stützen, als sie im Schuhladen auf der Leiter stand. Was man so in der Erinnerung behält… Man sagte, es habe den Henneberg sehr irritiert. Als Lohmann mal tingeln wollte und mich fragte, ob ich die Rolle nochmals spielen würde, habe ich Nein gesagt, ich hätte den Text gar nicht mehr parat gehabt. Eine Zeitungskritik lobte mich, als hätte ich die Rolle einstudiert, nannten mich: eine Grande Utilité, das war eine etwas altmodische Fachbezeichnung wie schwerer Held oder Naive: Einer, der für sehr viele Rollen zu brauchen ist. O über die Leichtigkeit solchen Arbeitens – o über die Leichtigkeit, nach sechzig Jahren davon zu berichten. 

Gabs denn da keine Misslichkeiten, Durststrecken? Gabs natürlich. DIE MAUS IN DER FALLE von Gustav von Wangenheim, ein miserables Theaterstück, Hans-Robert inszenierte das mit Friedel Nowack als Gast in der Hauptrolle, das war die Frau von Dr. Erwin Reiche, zurückgekehrter Emigrant, der später Besetzungschef bei der DEFA wurde. Ich notierte nur drei Vorstellungen, danach Übernahme durch wen anderen. Ich glaube, ich war nicht böse. DIE BRESCHE, noch so’n Kriegsschiffstück, ein sowjetisches, aber da spielte sogar Lothar Müthel mit, fast völlig versunken in der Vergangenheit. War greuslich! Spielten die meisten mit lautem oder leisem Zähneknirschen. Aber dann doch mit allem Einsatz – Schauspieler, die nicht mögen, gibt’s nicht! Make the best of it. Auch aus einem grottenschlechten Stück. Woher kommt denn nur dieses grotten-? Irgendwo las ich: er war ein grottenschlechter Liebhaber. Schlecht mit grotten- zu steigern, – es klingt ja sehr gut, aber über die Herkunft weiß ich nichts.

 Erinnerung 6 – Das Ende

Irgendwann ging das Theater-Paradies Weimar zu Ende. Zum Jahreswechsel 1949/50. Über Hans-Robert Bortfeldt gab es Gerüchte – wohlgemerkt: Gerüchte, über deren Wahrheitsgehalt ich nicht das geringste weiß -, er habe Gelder für das Theater in private Kanäle verschwinden lassen. Hans-Robert hatte nie Geld. Eine sehr zuverlässige Pumpstelle war dann Charlotte, noch in Weimar. Nie bekam sie etwas zurück. Eines Tages wurde es ihr zu viel, und sie verweigerte weitere Zahlungen. Als Hans-Robert tot war, hat sie das bitter bereut. Wie auch immer: Er flog die Treppe rauf, wurde Chefdramaturg der DEFA mit dem höchst fragwürdigen Auftrag, nur noch Drehbücher in die Produktion zu schicken, die politisch eindeutig auf der SED-Linie lagen, aber dabei immer hochkünstlerisch waren. Eine Forderung nach der Quadratur des Kreises, die nicht gelingen konnte: Entweder THÄLMAN oder EINE VOM ZIRKUS mit Henny Porten. Hans-Robert ging nach Berlin und nahm viele von uns mit. Mich auch, als Autor. Dazu gab es einen Zusatz im Jahresvertrag als Schauspieler, der nicht gerade juristisch einwandfrei war, wie der Nachfolger betonte. Aber er ließ uns ziehen.

Es war der Tod der Schauspielerin Charlotte Ulbrich. Das klingt sehr brutal. Claudia sagt immer wieder mal: sie hätte Theater spielen können. Dass sie es nicht wollte, kann man so simpel nicht sagen. Sie konnte es nicht. Und sie wurde die Herrin des Hauses in der Aretinstraße 6, das sie in ein Paradies verwandelte. Mit einer Umsicht ohnegleichen. Das wurde jetzt bei der Auflösung noch einmal ganz deutlich sichtbar. Ich hänge übrigens mein Herz nicht an das Haus, bin sehr unsentimental. Wenn Wechsel notwendig sind, sollte man sie unternehmen.

 Wir spielten als Letztes KARL III. UND ANNA VON ÖSTERREICH, ein sehr harmloses Lustspielchen mit Musik, ein Zwei-Personenstück, das aber auch viel Spaß machte. Es war ein Bonbon, den uns der neue Chef da hinwarf: Roland Kaiser, war in Leipzig Schauspieler und Regisseur. Und sehr strammer Parteigenosse. Das war er natürlich auch in Weimar. Seinen Regiesseurseinstand gab er mit dem Stück eines Wiener Kommunisten, Ernst Fischer, wenn ich mich recht erinnere: DER GROSSE VERRAT, ein Stück über Tito in Jugoslawien, der von Moskau abgefallen war, auch ein ziemliches Machwerk, opportunistisch, propagandistisch, Moskau verraten – welch ein Sakrileg! Kaiser besetzte prominent. Da durfte Charlotte nicht fehlen: sie sollte die Tochter von Tito spielen, die sich gegen des Vaters Verrat auflehnt: Propaganda von der ganz plumpen Art, mit Sätzen, die kaum zu sprechen waren. Charlotte mühte sich wahnsinnig, mit Tränen und ohnmächtiger Wut beim Textlernen, aber – sie wurde umbesetzt. Christa Lehmann spielte die Tito-Tochter. Ob damals schon, weiß ich nicht – später wurde sie eine stramme Genossin, blieb bis an ihr Lebensende in Weimar. Ich habe das in meinem Roman DIE SELTSAME KARRIERE DER HENRIETTE GUSIC verarbeitet.

Charlotte umbesetzen, noch dazu in so heikler Rolle! Die die Stuart so gespielt hatte, dass gestandene Männer weinen mussten, die nur Titelrollen spielte, kann keine sozialistischen Texte sprechen! Das hatte ja auch eine politische Dimension. Ich möchte nicht wissen, ob es da nicht eine Stasi-Akte über sie gibt. Es dauerte, bis sie ein Stückchen Freiheit empfand, die Last dieser Rolle loszusein. Dann das Bonbon des Zwei-Personen-Lustspiels. Wir verließen Weimar mit gemischten Gefühlen. Beate Lenders hat uns Jahrzehnte später gesagt, dass der Kaiser ein wenig angenehmer Zeitgenosse und Intendant war.

 Ich inszenierte dann in Weimar noch Nestroys LUMPAZIVAGABUNDUS, was mir nicht sehr gut gelang. Kein wirklicher Flop, aber ich sollte ja dann noch Shaws DIE HEILIGE JOHANNA mit Charlotte inszenieren. Darüber wurde gar nicht mehr gesprochen. Kaiser war sicher eher froh, dass er uns los war, wir waren froh, dass wir fliehen konnten.

 Mandela, ohne Datum

 Erinnerung 7 – Donna Diana

 Ich bin in meinem Leben der spanischen Komödie DONNA DIANA von Moreto, über den ich ansonsten nichts weiß, dreimal begegnet. Das erstemal im Kleinen Haus des Staatstheaters in der Nürnbergerstraße, ein sehr hübsches Haus am Ende der Straße, wo sie auf den Zoologischen Garten stößt. Kaum eine Erinnerung. Werner Kraus spielte den Perin. Ich sehe ihn etwas verloren auf heller leerer Bühne stehen, Maria Bard war die Donna Diana. Ich glaube, Jürgen Fehling hatte es inszeniert. Es ist eine Variante der WIDERSPENSTIGEN, ein schwacher Shakespeare, wage ich zu urteilen. Die zweite Begegnung war auf der Schauspielschule des Deutschen Theaters in der Tribüne am Knie (heute Ernst-Reuter-Platz). Unser Lehrer, Dr. Paul Helwig inszenierte das. Es gab zwei Inspizienten, ich war einer, Tom Engel der andere. Der Grund: Die Bühne hatte kaum Tiefe und war bis in den letzten Winkel Spielfeld, auf jeder Seite ein Inspizient. Gute Erinnerung, aber keine deutliche.

 In Weimar ließ ich gelegentlich die Bemerkung fallen, wie gerne ich den Perin spielen würde. Aber man erwiderte: „Für den Perin ist der Podehl nicht böse genug.“ Wie bitte? Perin – böse? Naja, er leistet sich schon einige ganz schöne Übergriffe auf seine Herrin, die Donna Diana, lässt sie zappeln in ihrer zickigen Anti-Liebe-Haltung und verkuppelt sie an dem herrlichen Don Cäsar. Und zu seiner Floretta ist er auch nicht gerade nett: „Da ist ein allerliebstes Ding, die hängt sich an mich fast wie eine Klette. Und ich bin grob…“ Gibt ein herrliches Foto von Stefan Moses, da seh ich doch ganz schön böse aus. Hans-Robert war weg, die Intendanz lag kommissarisch in den Händen des Schauspielerkollegen Walter Jupé und von Opernboss Carl-Heinrich Kreith. Und dann hing da eines Tages der Besetzungszettel DONNA DIANA, Donna Diana: Charlotte Ulbrich, Perin: Peter Podehl, Regie: Helmut Spieß. Ich freute mich wahnsinnig, nein: sehr. Wir probten mit viel Spaß. Ich war ein ungenannter aber intensiver Regieassistent. Eine Wirbel-Inszenierung mit viel drehender Drehbühne auf offener Szene, ich fuhr da gelegentlich mit, sprang auf und ab. Rolf Christiansen schuf Bühnenbild und Kostüme. Und sagte eines Tages auf einer Probe: „Helmut, Peter, wir müssen für den Bühnenmeister einen genauen Plan machen, damit der weiß, was wann zu geschehen hat, insbesondere die Drehbühnenpositionen. Morgen Abend halb acht in meinem Büro.“

Wir waren pünktlich und fingen an. Nach kurzer Zeit sagte Helmut, er müsse runter auf die Bühne, er habe Abendregie in einer Vorstellung KABALE UND LIEBE, was er inszeniert hatte. Ein Abendregisseur ist eigentlich nur da für Entscheidungen, wenn etwas Außergewöhnliches passiert, da tritt er vor den Vorhang und erklärt, was vorgefallen ist, etwa: „Leider müssen wir die Vorstellung abbrechen, da sich der Hauptdarsteller in der Pause auf der Jagd nach einem schönen Mädchen das Bein gebrochen hat“. Helmut hätte dem Inspizienten sagen können, er sei oben bei Rolf Christiansen. Nein, er ging. Rolf und ich schüttelten die Köpfe. Es war typisch Helmut: dieses Disponieren und Festlegen mochte er überhaupt nicht. Er inszenierte aus dem Bauch. Und als es auf die Premiere zuging, merkte er, dass er das Stück nicht inszeniert, sondern eigentlich nur Gag an Gag gereiht hatte – etwas übertrieben gesagt. Einer seiner schönsten Einfälle: Wenn Diana kapituliert, soll ich, vorne an der Rampe räkelnd eine weiße Fahne schwingen. Tat ich. Szenenapplaus. Damit die Fahne sich gleich voll entfaltete, durfte sie nicht aufgerollt werden, sondern wurde von mir – nicht vom Requisiteur – vor der Vorstellung fein gefaltet an der Rampe griffbereit hingelegt. 

 ‚DONNA DIANA, ganzes Stück, Probebühne’ stand auf dem Probenzettel für den nächsten Tag. Eine Probebühne ist etwas Entsetzliches, jedenfalls etwas sehr Ernüchterndes. Da stehen Bassgeigen in ihren riesigen Etuis, Kesselpauken für das Sinfonie-Orchester, Stühle, keine Dekorationen, die sind nur mit Kreidestrichen markiert. Schauspieler, die nicht dran sind, warten hinter den Kreidestrichen auf ihren Auftritt, gut einsehbar für den Regisseur, der nun das Stück retten muss. Und zunehmend nervöser wird. Helmut Spieß in Nöten. Charlotte hatte eine Szene absolviert und setzte sich hinter den Kreidestrich und holte aus ihrer Tasche das Strickzeug und – strickte. Das war zu viel für Helmut, so im Sinne von ‚Musst du denn jetzt stricken?…’ Stricken beruhigt die Nerven, jedenfalls die der Strickenden. Ein Wort gab das andere, Helmut wurde beleidigend. Und Charlotte zu beleidigen, das war ziemlich tödlich. Schließlich verließ sie die Probebühne mit den Worten, für alle Mitwirkenden verständlich: „Ich gehe jetzt. Wenn du dich ausgekotzt hast, kannst du mich ja wieder rufen.“ Und ab wie Maria Stuart. Nach kurzer Sprachlosigkeit stürzt Helmut hinterher. Und ich auch, nichts Gutes ahnend. Und tatsächlich: auf dem Korridor schrie Charlotte: „Leck mich doch am Arsch!“ Und Helmut: „Waaas hast du gesagt?“ Und stürzt sich auf sie. Ich im Hechtsprung dazwischen. Das Wort ‚Hechtsprung’ benutzte Charlotte stets, wenn sie die Szene schilderte.

Und die Sprache blieb ihr im Halse stecken. Nicht bloß im Moment, sondern anhaltend. Arzt, Behandlung. Fortan sprach sie nur pantomimisch, auch noch in Haupt- und Generalprobe, sodass die Herren kommissarischen Leiter heiter sagten, sie seien gespannt, was die Ulbrich in der Premiere für einen Text abliefern werde.

Technische Probe für alle auf der Bühne. So, jetzt mussten die von Rolf und mir erarbeiteten Positionen dem Bühnenmeister vermittelt werden. Die Tanzgruppe musste ihren Platz finden, das kleine Orchester… Chaos auf der großen Bühne. Ich aber schwieg wie ein Grab, Helmut geriet in schreckliche Nöte. Bis Rolf zu mir kam und mich beiseite nahm: „Peter, wenn du weiterhin schweigst, platzt die ganze Inszenierung, – das ist dir doch klar.“ Ich redete, aber nur mit Rolf oder direkt mit dem Bühnenmeister. Und wir kriegten die technische Probe hin. Hauptprobe, Generalprobe mit heftig gestikulierender, aber nicht sprechender Donna Diana. Ich legte mir für die Premiere eine kleine Rede zurecht, die ich nach dem Schlussapplaus halten wollte, über die obszönen Vorkommnisse off scene. Übrigens die korrekte Etymologie: off scene = obszön. 

Der Vorhang ging auf, erster Szenenapplaus für das Bühnenbild: da schwebten drei reich und geschmackvoll verzierte Gondeln im schwarzen Raum mit drei allerliebst kostümierten Damen, die gegen die Liebe schnackten. Da trat Perin auf und sagte „Was seh ich, Durchlaucht, Wolken auf der Stirne?“ Und Charlotte erwiderte: „Mein Mühmchen hier scheint im Gehirne verwirrt ein wenig und verschmäht es nicht, am hellerlichten Tag, von Liebe – hört mir doch – von Liebe….“ Ob der Text genauso stimmt, weiß ich nicht. So ein Anfangszenenapplaus ist natürlich sehr belebend. Es wurde ein epochaler Riesenerfolg. Immer wieder Szenenapplaus, hauptsächlich für mich – muss ich sagen dürfen. Die Leute waren hingerissen. Es gab einen überlangen Schlussbeifall, weit über den Eisernen Vorhang hinaus. Immer wieder mussten wir noch mal durch die kleine Tür und uns verbeugen-bedanken. Meine Rede? Längst weggespült. Sie wäre die größte Dummheit gewesen. 

 Mandela, 17.5.2008

Erinnerung 8 – Segen und Scheitern

 ‚Möge Gott Sie segnen und zum Segen setzen.’ So endet der Brief einer Zuschauerin aus Ilmenau, wo Charlotte und ich KOMMEN UND GEHEN gespielt hatten. Ich kannte die Formulierung ‚zum Segen setzen’ nicht. Der Brief? Ein einziger Liebesbrief kann man so simpel nicht sagen. Die Aufführung muss die Schreiberin aufgewühlt haben, auch meine ambivalente Haltung zur Religion. Sicher auch ein Brief großer Sympathie (heißt ja Mitleiden). Er klebt auf der ersten Seite eines Tagebuches. Über die Briefschreiberin weiß ich nichts, was ich sehr bedaure. Aber vielleicht auch gut. 

In meiner unbescheidenen Großspurigkeit glaube ich, dass der Wunsch dieser Ilmenauerin wohl in Erfüllung ging: dass ich zum Segen gesetzt worden bin, dass ich vielen Menschen gut getan habe – nicht Gutes! Die Tatsache, dass ich fast überall geliebt worden bin – fast, sicher war ich auch manchmal ein schlimmes Ärgernis -, lässt darauf schließen. Und es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Was sonst? Und Demut. Wenn ich nur wüsste, was Demut wirklich ist. Das Wort erscheint täglich zweimal im Gebet, bleibt aber sehr nebelhaft. Es setzt wohl eine große innere Würde voraus.

Es ist hoffentlich sehr gut, das oben Gesagte einmal so ausgesprochen zu haben. Es ist ja in diesen Erinnerungen oft die Rede davon, dass ich sehr geliebt worden bin. Und die Frage taucht natürlich auf, ob ich das denn wert war. Hier kann man nicht rundweg rational und linear mit Soll und Haben argumentieren, hier spielen Gnade und Segen und vor allem: Liebe eine große Rolle, auch Begabung in des Wortes ernster Bedeutung wäre anzuführen.

 Scheitern? Hats auch gegeben, spreche ich nur nicht so gerne drüber. In Saarbrücken bei der Telefilm Saar saß als Abteilungsleiter für Unterhaltung Hörfunk und Fernsehen ein Kumpel, den ich von der Schauspielschule in Wien kannte. A.C. Weiland. Seine Hauptstütze als Regisseur war Truck Branss, der natürlich Kurt mit Vornamen hieß. Der machte A.C. das Leben schwer mit hochstapelnden Ansprüchen und Kinkerlitzchen, war aber in seiner Arbeit oft sehr gut. Da wollte A.C. einen Entlaster haben. Leute, ich in der Fernseh-Unterhaltung! Was hatte ich denn da zu suchen? Ganz sicher: nichts. Dreimal DER GEMÜTLICHE SAMSTAGABEND, schon ein Spießertitel, mit dem sehr angenehmen Friedrich Schönfelder als Moderator. Ich schrieb die Drehbücher und hatte ein paar klangvolle Namen: Dunja Raiter (sehr angenehm), Hazy-Osterwald-Sextett (witzig, geistvoll), amerikanische Musical-Stars (recht unangenehm)…

Es war die Hölle, regelrecht! Hilflos stand ich diesem Aufgebot gegenüber. Nein, nicht alles war schrecklich! Dunja Raiter stand in schwarzen Vorhängen und sang ein schönes Lied. Naja, ob das besonders schön war… Aber dann kam eines Tages ein Chor von Bergarbeitern und ein Kinderchor. Klingt, als hätte ich das nicht gewusst. Doch, ich wusste das alles. Und es quetschte mich platt. Hätte ich doch rechtzeitig Nein gesagt. Aber da spielte Geld eine große Rolle. Und so genau wusste ich ja nicht, dass das die Hölle werden sollte.

Irgendwann wars zu Ende. Abnahme, das ist die Begutachtung durch die Redaktion, in diesem Falle A.C.Weiland, mit der Möglichkeit noch irgendwelche Änderungen nachträglich zu machen. Ich hatte Charlotte mitgenommen, sagte Weiland: „Wenn die Charlotte dabei ist, kann ich ja gar nicht schimpfen.“ Mensch, das musste ich mir von ihm sagen lassen. Damals fand ich das gar nicht so schlimm, in der Erinnerung kommt mir das kalte Grausen. Gedemütigt. Ist doch ein schreckliches Gefühl. Aber wir wollten ja vom Scheitern sprechen.

Bamberg. Scribes DAS GLAS WASSER als Musical, die Musik von Udo Jürgens (?). Wieder schrillten keine Alarmglocken, als ich das las. Es war ein schlechtes Stück. Man kannte einen berühmten Film mit Gründgens, Hoppe und Krahl. Meine Beziehung zu dem Original war schon nicht sehr doll. Ich war schrecklich verloren in dieser an sich so schönen Stadt, in dem reizvollen Rokoko-Theater. Es endete nicht als Katastrophe, aber als Beinah-Katastrophe. Ich glaube, es gab auch Pfiffe im Schlussapplaus.

Wie kam ich eigentlich zu solchen Gastinszenierungen? Da war in München eine Filiale der großen Agentur für die Bühne, handelte auch mit Schauspielern. Die Zentrale war in Frankfurt, firmierte offiziell als Arbeitsamt. Da bekam ich ein tolles Angebot, in Ingolstadt DES TEUFELS GENERAL zu inszenieren. Naja, toll… Ein schweres Stück mit einem kaum zu bewältigenden Ersten Akt, der im Lokal Horcher spielt. Lutherstraße, gegenüber der Scala. Da verkehrten viele Nazis und hohe Offiziere. Das ging sehr gut. Intendant war Heinz Seiltgen, der es inszenieren wollte, aber ein Gastspiel in Berlin vorzog und dringend einen Gastregisseur suchte, der sich mit den Gegebenheiten auskannte. War ich ja, wohnte doch nur einige Straßen weiter. War ein einigermaßen großer Erfolg, inklusive Liebe der Schauspieler und Schauspielerinnen zu mir. Nicht ganz so erfolgreich wäre vielleicht besser gewesen, denn Seiltgen schwieg fortan beharrlich und holte mich kein weiteres Mal, war wohl eifersüchtig. Wo die Eifersucht hinfällt… Hatte ich sein Ensemble verführt!…

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Claudias Kommentar:
Nein, eine weitere so intensive und erfolgreiche Spielzeit an einem anderen Theater hätte es für Charlotte nie und nimmer gegeben. Und eine mehr oder weniger verwaschene Kopie des Gespielten und Erlebten auf eine andere Bühne zu tragen, das war nicht Charlottes Ding. Alles oder nichts. Punkt. 1945-1950, das war die körperlich und kulturell ausgehungerte allererste Nachkriegszeit, wo alles möglich war. Danach kam Propagandatheater im Osten und kapitalistisches Theater im Westen (wo Geld eigefahren werden musste). Charlotte versuchte es noch einmal von Babelsberg aus in Stuttgart, danach hat sie nie mehr etwas unternommen, um an irgendeinem Theater auch nur ein Gastspiel zu ergattern.
Allerdings kam dann in Babelsberg der Kleine Muck, wo sie als Betreuerin ihren Sohn Thomas zu schauspielerischen Höchstleistungen steuerte. Auch er hat daraus keinen Beruf gemacht.

Wie Peter nach Weimar kam (und einiges mehr zum Kleinen Muck).

Kommentare zu Kommen und Gehen
(Leider habe ich bisher den Brief der Frau aus Ilmenau noch nicht gefunden)