Kommen und Gehen – Bild 10

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Bühnenbild Rolf Christiansen

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Kommen und Gehen – Zehntes Bild

Arbeitsraum
Hell, nüchtern, hohe Wände, hohes Fenster, zwei Türen. Schreibtisch, Bücherschrank, Stuhl, sonst nichts.

ER (sitzt am Schreibtisch und liest.)

SIE (kommt herein und wartet. Schließlich:)
Peter.

ER
Ach, du bist ja da, Eva.

SIE
Ja, du hast mich rufen lassen.

ER (begrüßt sie.)
Ja, ich… Ich brauche dich.

SIE
Doch wieder?

ER
Nein, nicht weil ich kapituliere. Die Zeit, die ich ungestört, ohne dich, gearbeitet habe, war sehr fruchtbar. Ich bin sehr viel weiter gekommen. Meine Untersuchungen im Laboratorium haben zu den erstaunlichsten, allerdings auch vermuteten Ergebnissen geführt. Ich bin dem Atomproblem ebenso nahe, wie die Wissenschaftler in den größten Versuchsstätten. Ja, vielleicht näher. Meine Untersuchungen waren allerdings wesentlich billiger, weil ich von ganz anderen Voraussetzungen ausging. Ich glaube, Kenntnis von Zusammenhängen zu haben, die noch kaum ein Mensch auf der Welt hat. Ein unbeschreibliches Gefühl…

SIE
Und du hast mich nie vermisst?

ER
Bisher nicht, nein. Ich war ja wie besessen, Eva. Ich habe wunderbar intensiv arbeiten können, in diesen nüchternen Räumen.

SIE
Nüchtern sind sie allerdings.

ER
Nüchternheit, Klarheit, Sachlichkeit sind die unbedingtesten Forderungen der Gegenwart. Außen. Und noch viel wichtiger: Innen.

SIE
Bilder sind also verpönt in deiner Gegenwart? Bilder, weiche Linien, Blumen etwa…

ER (nach Überlegung:)
Ja! Sie führen ins irdische Leben zurück. Ich will ins geistige. Und einer der schwerwiegendsten modernen Fehler ist die In-Konsequenz in den Menschen. Die Eroberung des Geistes verlangt eine eiserne, unbeirrbare Konsequenz und verlangt Opfer.

SIE
Warum hast du mich rufen lassen?

ER
Weil ich dir ein Manuskript vorlesen möchte. Ich habe den sehr gewagten Versuch unternommen, mit wenigen Worten in knappen Zeilen einmal das Wesentliche unserer neuen Welt für die modernen Menschen niederzuschreiben. Neben dem Wagnis kommt diesem Versuch allerdings noch eine andere wesentliche Bedeutung zu: da ich diese Worte nicht nur auf Grund von philosophischem Erkenntnissen, sondern im gleichen Maße auf Grund von naturwissenschaftlichen Studien ausspreche, glaube ich beweisen zu können, dass es sich nicht um das intellektuelle System einer – wieder einer – Philosophie handelt, sondern eben doch um die endgültige Lösung der Kernfrage. Willst du mich anhören und mit sagen was     d u   darüber denkst?

SIE
So weit ich dazu in der Lage sein werde.

ER
Wie meinst du das?

SIE
Ich bin schließlich eine Frau, und dieses Werk entstand hier in deiner männlichen Einsamkeit.

ER
Erstens bist du eine sehr gescheite Frau, und zweitens wendet sich die Schrift schließlich an alle Menschen.

SIE
Also fang an.

ER
Nimm Platz.

SIE
Wo? Deine Nüchternheit erlaubt dir anscheinend nur einen Stuhl.

ER
Ach so. Setz dich hierher. Ich werde sowieso auf- und abgehen müssen.

SIE (setzt sich.)

ER (geht auf und ab und liest.)
„Überaus interessante Laboratoriumsversuche haben zu der Erkenntnis geführt, dass dem Geheimnis des Atoms niemals in der analytischen, mikroskopischen Forschungsweise beigekommen werden kann. Das Geheimnis liegt tiefer – und zugleich offener auf der Hand. Die Grenzen sind erreicht. Die nur intellektuelle Wissenschaft ist am Ende. Es gilt nun, den Weg nach innen, zur Synthese zu suchen und zu erkennen, dass im Atom Kräfte eminent geistiger Natur wurzeln. Wir müssen den Schritt wagen, vom Atom zu Gott! Nicht dem Gott irgend einer Kirche oder Religion rede ich das Wort. Ich rede von dem Gott, der – wie auch immer – den Menschen schuf, die Welt, das All, den jeder wahrhaft Betende meint, wenn er sich sammelt im Denken und Fühlen. Der Gott, der das Genie befruchtet, der jedem Menschen einen Geist gab, und jedem Atom einen Kern.

Im Atom wirkt Gottes Geist. Es ist töricht, ihn durch Atomzertrümmerung sichtbar machen zu wollen. Man wird ihn dabei ebenso wenig finden, wie beim Sezieren einer Leiche den menschlichen Geist. Es ist nicht nur töricht, sondern auch gefährlich, denn es hat bereits die ungeheure Energie dieses noch immer geheimnisvollen Kerns freigelegt. Wir schaudern mit Recht vor der Atomwaffe. Erst der Weg über Gott in das Atom wird die Energie der Materie zum Nutzen der Menschheit führen, den Weg öffnen in ein Paradies.

Es mag kindisch-märchenhaft klingen, vom Ergebnis streng wissenschaftlicher Forschung auf das Paradies zu kommen. Aber der Weg von der Überwindung von Raum, Zeit und Materie zu einer Welt des Friedens, des Glücks und der Schönheit ist möglich, keineswegs utopisch. Aber er erfordert Glauben und Haltung, Demut nicht zuletzt: es gilt, den Geist als Ursprung, Hintergrund allen Geschehens und als Ziel anzuerkennen.

Das Atom ist ein Stück Materie, wie der menschliche Körper. Die Synthese der Atome und der Zusammenschluss der Individuen bildet ein durchgeistigtes All. Ohne Synthese verenden wir im Nihilismus. Ich bin nichts, wir sind alles. Die Welt steht vor ungeheuren Entscheidungen. Sie wankt in ihren Grundfesten, und die Menschheit wankt mit. Diese Feststellung ist jedoch müßig, wenn sie uns nicht bedingungslos und konsequent den Weg zum geistigen Ziel, zur schöneren Welt, zum glücklicheren Leben gehen heißt.“

SIE (nach einer Pause:)
Bist du zu Ende?

ER
Ja, ich weiß, es ist sehr viel offen gelassen. Aber ich glaube, das Entscheidende ist ausgesprochen und alles Künftige lässt sich daraus entwickeln. Als ich dich Weihnachten verließ, sprach ich doch von Kommen und Gehen. Hier ist das Ziel des Gesetzes: mit offenen Augen den Wert des unaufhörlich Kommenden erkennen, und mit offenen Augen tätig ergreifen, wenn es wertvoll ist. Der Geist öffnet sich uns. Und mit dem Erworbenen schreiten wir zur Erfüllung.

SIE
Oh, ich habe schon erkannt, dass der Ursprung dieser Worte weit zurückliegt. Vielleicht ist es das, was der Krieg dich an Gültigem und Positivem gelehrt hat. (Mit leichtem Zweifel:) Es ist sehr schön, was du sagst, wunderschön, wenn man dich kennt und weiß, wie ehrlich und schwer du dir das abgerungen hast. Auch stilistisch großartig…

ER
Aber?

SIE
Aber ist es der Weisheit letzter Schluss?

ER
Der Weisheit letzter Schluss ist unaussprechbar. Er liegt jenseits des konkreten Wortes.

SIE
Das muss ich zugeben. Da mir trotzdem noch Zweifel bleiben, muss ich vielleicht so fragen: ist das der Weg, der notwendige, endgültige, einzige?

ER
Ich glaube , – ja. Ich habe die Menschheit angesprochen. Die Menschen müssten in diesen Worten das finden, was sie suchen.

SIE
Ja,   d i e   Menschen, aber hast du nicht vielleicht vergessen,   d e n   Menschen anzusprechen?

ER
Ich verstehe dich nicht. Wir sind uns doch darüber einig, dass dieser Krieg alle Menschen zu einer unzertrennlichen Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmolzen hat, auch wenn sie es selbst nicht einmal genau wissen, und man es bei bloßem Hinschauen kaum merkt.

SIE
Ja, das stimmt, aber Peter… Sind deine Worte nicht vermessen und überheblich? Kannst du sie in alle Sprachen übersetzen lassen? Kannst du sie Allgemeingut aller werden lassen?

ER
Ich will es versuchen.

SIE
Ich glaube nicht daran.

ER
Das wäre sehr traurig. Sprich nicht weiter. Du zerstörst.

SIE (sehr klug:)
Was zerstöre ich?

ER
Was? Was ich mir gebaut habe, was ich erkannt habe, was ich mir erarbeitet habe in langen, langen einsamen, schweren Stunden.

SIE
Kann man das zerstören, mit drei Sätzen?

ER
Nein, du hast recht. (Voller Kraft:) Ach Eva, du weißt nicht, welche Kraft ich in mir spüre, diesen meinen Weg mit den Menschen, – unseren Weg zu gehen in die bessere, schönere Welt aus dem Nichts, du. Keine Macht, kein noch so zersetzender Geist kann das zerstören. Das ist etwas in mir… (Leise:) Das ist wohl Gott in mir.

SIE
Siehst du, jetzt wirst du lebendig, jetzt wird der nüchterne Raum farbig, die Linien harmonisch.

ER (voll Sehnsucht:)
Mit dir will ich einen Weg gehen.

SIE
Mit mir? Ja, Peter.

ER (umarmt sie.)
Eva.

SIE (sehr froh:)
Peter, ich hatte Angst um dich in diesem kahlen Raum. Nun bist du dem Leben zurückgegeben.

ER (plötzlich ernüchtert:)
Dem Leben…? Dieses irdische Leben wollte ich doch überwinden! Eben fühlte ich, wie die Ideen dieser letzen Wochen mir unglaubliche Kraft gaben und jetzt: – ist es das Leben.

SIE
Die Kraft, die du eben hattest, die kam von mir, von deiner lebendigen Frau. Du hast in wunderschönen Worten vom Paradies gesprochen, und dass wir es uns schaffen müssen, und dass der Geist notwendig ist. Aber vergiss nicht, dass das Handwerkszeug dazu, das einzige, das wir zur Verwirklichung deiner Ideen haben, unser Leben auf dieser Erde ist, und mit ihm Frühling, Früchte und alle Natur. Du stehst mit großem Gewicht auf der einen Waagschale des Lebens; schau mich an: ich stehe auf der anderen. Die Liebe, Peter, die Liebe.

ER
Ja, du hast recht. Mein Gebäude wankt; es wird zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Das Leben ist stärker.

SIE
Das Leben ist stark genug, das Paradies zu bauen. Dein Gebäude, dein einsam erbautes, steht fest in seinen Grundmauern, aber es muss geliebt, – beliebt werden. So wie Christus‘ Taten erst dem gewaltigen Ideen- und Gesetzesbau des alten Testaments warmes Leben einhauchten. Und ein Gebäude werden die Millionen Menschen, die draußen durch das Leben wandern, schmücken und stützen, ohne viel zu reden, ohne nüchternen Arbeitsraum, ja selbst ohne jedes deiner Worte verstanden zu haben, aber: – im gleichen Geiste und mit dem gleichen Willen. Nicht ohne Liebe bleiben wollen, mein Peter.

ER (kniet vor ihr. Sehr still:)
Ich knie vor dir. Ich anerkenne dir die Macht, die mir fehlt. Ich bitte um deine Liebe, deine Worte, deine Hände. Man soll der Menschheit nichts sagen wollen, wenn man nicht zugleich auch einer Geliebten etwas zu sagen hat.

SIE
Und die Liebe, Peter, ist genauso rätselhaft und undefinierbar und unaussprechbar, wie du vorhin vom göttlichen Geist sagtest.

ER
Und ich zweifle, ob sie nur auf der anderen Waagschale ist. Sie muss die Weisheit krönen, wenn die Weisheit fruchtbar und tätig sein soll.

SIE
Erinnerst du dich, wie du mich einmal zu deiner Königin der Unlogik machen wolltest? Und ich wollte nicht? Wenn ich jetzt eine Krone hätte, dann würde ich dich zu meinem König machen.

ER
Ich würde wahrscheinlich komisch aussehen. (Hockt sich nieder.)

SIE
Ich habe ja auch keine Krone. (Hockt sich zu ihm.) Und deshalb soll ein Streicheln genügen. (Streichelt über seinen Kopf.) Fühlst du die Krone?

ER
Ja. Ganz leicht und schön. Nun darfst du mich nie mehr verlassen.

SIE
Werde doch meinen König nicht verlassen.

ER
Denn wen die Liebe gekrönt hat… Weißt du, fromm und weise soll jeder ruhig für sich sein. Aber Lieben, – das können nur zwei und – Alle…

SIE (steht auf.)
Komm, Peter. Ein Weg liegt vor uns. Der muss gegangen werden. Der erste Schritt ist getan. Du darfst nicht vor mir knien bleiben.

ER (steht auf, umarmt sie.)
Dass ich das entbehren konnte.

SIE
Das ist gut, dass du das entbehrt hast, eine lange Zeit und freiwillig. Spürst du, dass in unseren Umarmungen nun mehr liegt als früher?

ER
Ja…

SIE
Es ist unser Kind dabei. Weißt du, dass es schon lebt, dass es geboren wurde am ersten Tag. Als wir uns lange in die Augen blickten; da war es schon in uns, zwischen uns.

ER
Eva, jetzt möchte ich es aber gerne mal anfassen können.

SIE
Ja, jetzt ist es soweit. Ich muss Abbitte tun, weil ich es mir viel zu früh gewünscht habe. Was sollte es in einer Welt, die nicht einmal den Eltern auch nur halbwegs klar war?

ER
Du glaubst, dass es nun schon das in sich trägt, was wir uns erst erkämpft haben?

SIE
Ganz gewiss. Jetzt können wir ihm doch die Welt in einem viel schöneren und weiteren Licht zeigen. Schon lange haben wir es beschützt und erzogen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: „Die Erziehung eines Kindes endet mit seiner Geburt.“ Man könnte hinzufügen: Sie beginnt mit der Hochzeit der Eltern. Ich bin so glücklich, dass du unser Kind anfassen möchtest. Ich will ihm ein Wiegenlied singen.

ER
Und Märchen erzählen.

SIE
Aber nun komm. Komm in die Sonne, die auch nicht sein kann ohne Liebe. Du?

ER
Ja?

SIE
Es gibt überhaupt nichts, was ohne einander und ohne Liebe sein kann.

ER
Und – ohne uns.

BEIDE (gehen nach einer Pause langsam nach vorn.)

(Der Vorhang schließt sich langsam hinter ihnen.)

ER
So endet unser Spiel vom Kommen und Gehen. Zu diesem Ziel sind wir gegangen in der dunklen Zeit. Erinnern Sie sich, wo wir hergekommen sind? Damals, im Frühling 1939, mit der Lerche und dem Himmel? Nun haben wir uns, – unser Licht gefunden.

SIE
Vielleicht haben auch Sie sich hier gefunden?! Das wäre schön. So viele Liebespaare…

ER
Wir können auch zusammen weitergehen! Ja?

BEIDE (gehen ab.)

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Zu Kommen und Gehen

Claudia zur hiesigen Veröffentlichung

Presseschau und Zuschauerbriefe von damals

Autobiografischer Monolog von 1947 – Das Stück “Kommen und Gehen” berichtet

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