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Hätte die Sache nicht mit einem Knall begonnen
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dann wäre alles ganz anders verlaufen
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Jagdszene
Hätte die Sache nicht mit einem Knall begonnen, wäre alles ganz anders verlaufen. Verlaufen nämlich, genau, verlaufen hätten sich Zorn, Gesetz, Diebstahl, sogar Kassenfehlbestand, wie man so schön sagt, im Sande. Leider kam es im Gegenteil zu einem ganz unanständig langen langen Laufen …
Der Knall schreckte den Polizisten Rumpert aus der Ruhe seines friedlichen Reviernachmittags, Reviersamstagnachmittags.
Karlinke, sein Widerpart, war mit der Logik eines Berufsverbrechers, die, wie er selber zugeben würde, einer besseren Sache wert gewesen wäre, vorgegangen. Die von ihm benötigte Menge Geldes war so gering, dass sie sich nicht hinter Panzerplatten verbergen musste, andererseits so um 100 Mark herum, also gewiss in verschlossener Schatulle.
Zum Taschendieben fehlte ihm jede Erfahrung, es sollte auch kein richtiger Einbruch sein, also kleinstes Risiko, zum Erreichen eines limitierten Zieles.
Die geringste Gefahr, entdeckt und verpfiffen zu werden, wähnte Karlinke bei einem vorsichtigen Einsteigen in die an diesem Nachmittag geschlossene Nebenstelle des Amtes für öffentliche Ordnung, die in den Räumen des Reviers untergebracht war und wo sich seiner Schätzung nach eine richtig gefüllte Schatulle für die von reisewütigen Bürgern vereinnahmten Passgebühren befinden müsste. Alles stimmte übrigens, die Schatulle war nicht nur da, sondern enthielt auch 101 Mark und dreißig Pfennige, wie sich später herausstellte.
Karlinke stieg durchs Fenster ein, das sich verhältnismäßig leicht aufdrücken ließ. Die Tür zum Revierkorridor, man bedenke, stand offen. Karlinke nahm’s mit einem verwunderten Blinzeln seiner hellwachen Augen wahr. Die Schatulle war bald entdeckt und nicht weniger bald entwendet.
Da sah Karlinke die Tür sich bewegen. Er stand wie gelähmt, denn er vermutete Menschenhände von hinter der Tür, aber es war der Wind, das himml-, der Zug, der die Tür mit grausam sich steigender Rasanz ins Schloss jagte. Es gab einen fürchterlichen Knall, der aufwühlend durch den Revierkorridor hallte.
Rumpert kannte den Knall. In den Dienststunden des Amtes, insbesondere vor sommerlichen Gewittern, wenn der vorauseilende Wind aufkommt, hatte es schon zuweilen gescheppert. Aber am dienstfreien Samstagnachmittag?
Rumpert war seit 13 Jahren Polizist. In dieser Zeit hatte er nie jemanden verfolgt, bestraft oder angezeigt, zweimal jemanden verwarnt und bei einigen Parksündern des öfteren ein Auge zugedrückt. Dies waren seine einzigen Amtshandlungen. Er hatte niemals im Bahnhofsviertel oder in Seemannsgassen Dienst gemacht.
Er war mit all dem sehr zufrieden, wollte es nicht anders. Und das Schicksal hatte diesen Wunsch sonderbarerweise respektiert. Aus der Sicht Rumperts war die Kriminalität minimal, ansonsten alles in Ordnung, alles in Ordnung…
Und nun dieser Knall, der Rumpert – es sei gestanden – aus einem in unzähligen Stunden erprobten und sich bewährt habenden Dienstdösen schreckte. In echt wachem Zustand hätte er besonnener reagiert. Jetzt sprang er mit einem Satz auf, raste zum Knall- und Tatort, sah einen Mann mit einer Schatulle aus dem Fenster springen und sprang hinterher.
Er war aus einem Dösen übergangslos in eine Verfolgung geraten. Dazwischen lag nicht der Bruchteil einer Sekunde für Nachdenkmöglichkeiten. Deshalb pappten plötzlich Dösen und Verfolgung, obgleich doch von so diametral entgegengesetztem Rhythmus, zu einem Klumpen bedenkenloser Tätigkeit zusammen.
Karlinke rannte, Rumpert rannte. Der Polizist war vom Erfolg seines Rennens so überzeugt, dass er nicht die Aufmerksamkeit der Umwelt durch Rufen erweckte. Auch schoss es ihm durch den Kopf, dass ein Polizist schreienden Menschen beizustehen hatte, nicht aber selbst zu schreien habe.
So gelangten sie durch die vornehme, übrigens menschenleere Villenstraße in den nahen Wald. Karlinke rannte langsamer, Rumpert noch langsamer, denn er war älter. Das Polizeirevier verwaist. Der diensthabende Polizist verfolgte im Wald einen Schatullendieb.
Rumpert nahm jetzt doch die Stimme zu Hilfe: “He! Halt! Stopp! Heda! Stehenbleiben! Menschenskind! Im Namen des Gesetzes.” Letztere Formulierung hatte er nicht aus der Dienstvorschrift, sondern aus einem Film. Er wusste gar nicht, was er rufen sollte. Er verfluchte, dass er in der Villenstraße so zurückhaltend still geblieben war.
Da hätte er doch die Funkstreife anrufen lassen können. Hier erreichte seine Stimme nur den Kerl da vorne, der nicht reagierte. Und die Wipfel rauschten im gleichen Wind, der die Tür hatte zuknallen lassen.
Karlinke wurde die Schatulle beim Rennen zu schwer, er ließ sie auf den Waldweg gleiten. Rumpert sah das nicht und stieß mit den Zehen des linken Fußes heftig gegen das Eisenblech. Er schrie so laut, dass es Karlinke schon wieder leid tat, auf der anderen Seite, war er froh, seinen Vorsprung vergrößern zu können, denn der Wald öffnete sich in ein tiefes Ackerfeld.
Hier nun hätte Rumpert aufgegeben können. Was heißt aufgeben? Mit der Schatulle zurückgehen, das Fenster schließen, die Schatulle an Ort und Stelle, im Dienstzimmer Platz nehmen, als sei nichts geschehen. Wer wollte das mit Aufgeben oder gar Niederlage gleichsetzen.
Aber der Zehenschmerz ließ ihn weiter rennen, ja, entfaltete Rumperts Wut, dass er die Schatulle in die linke Hand nahm und mit der Rechten die Pistole aus der Tasche zog. Wahrhaftig eine Wandlung! Bisher hatte er nur bei regelmäßigen Übungen auf Pappganoven geschossen, mit durchschnittlichem Erfolg. Jetzt nahm er zum ersten Mal ein lebendes Ziel aufs Korn. Komisch, wie dann plötzlich an so einem Wort ein Menschenleben hängen kann.
Mit dem Aufs-Korn-Nehmen wars dann übrigens sehr schwierig, denn der Dieb wurde immer kleiner. Es lag nicht am Abstand, dass er zur Größe eines Zehnjährigen zusammenschrumpfte. Dieses Phänomen stachelte Rumpert an. Der Abstand wurde kürzer, der Dieb wurde kleiner. Rumpert dachte: Ich muss jetzt schießen, wenn er noch kleiner wird – treffe ich ihn nicht mehr, wollte er folgern. Aber er folgerte: Ich kann doch nicht auf Kinder schießen.
Rumpert ließ Pistole und Schatulle fallen und verkürzte auf diese Weise den Abstand noch mehr. Hinzu kam, dass dem anderen mit jedem Schritt die Beine schrumpften. Rumpert verfolgte nunmehr auf dem riesigen Acker ein fünfjähriges Kind.
Rumperts Gefühle schlugen Purzelbäume. Er fühlte sich schuldig, einen erwachsenen Mann in einen Schrumpfungsprozess gejagt zu haben. Mitleid mit dem mühsam über die Ackerkrume stapfenden Dreijährigen zerriss ihm das ohnehin vom Rennen angegriffene Herz. Aber er ließ nicht nach. Auf einen Schritt war er dran. Beim Zugreifen jedoch stürzte er und fiel mit offenem Mund direkt ins Erdreich. Als er schnaubend und pustend aufblickte, kroch ein Baby auf allen Vieren über die Ackerkrume davon, dem fernen fernen Horizont entgegen. Rumpert wollte ihm nach, es retten, schützen, heimbringen, in Schlaf singen und wiegen, mit seiner Jacke zudecken. Aber die erschöpften Glieder versagten den Dienst, und das Baby wurde auch immer kleiner, immer kleiner, ein Punkt, nichts …
“Das gibts doch nicht,” sagte Rumpert, “dass einer einfach vom Verfolgen, vom Rennen, so abnimmt und sich in nichts auflöst, – das gibt es doch nicht.”
Er drehte sich um, weil er glaubte, der Dieb stünde hinter ihm. Aber er war allein auf dem riesigen Acker…
© Peter Podehl
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Angela