Henriette Gusič – Claudias Klappentex

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Claudias Klappentext zu Henriette Gusič

Aus dem Theaterleben von Peter und Charlotte im Weimar der ersten Nachkriegsjahre.

Charlotte erlebt den Höhepunkt ihrer Schauspielkarriere, spielt alle damals aktuellen Frauenrollen, erntet großen Beifall, Szenenapplaus, traumhafter Erfolg, Standing Ovations (den Begriff gab’s im sozialistischen Deutschland natürlich nicht). Sie steht mit vollem Einsatz auf der Bühne, gibt alles.

Wie sich die “sonderbare Karriere der Henriette Gusič” entwickelt, ist Charlottes Realität abgeschaut, die Peter damals hautnah miterlebte. Nur wird die ganze Geschichte nach Bucarest verlegt, und die Männer um sie herum haben mit Peter wenig zu tun.

Thema: Die Schauspielerin, die ihre Muttersprache verliert. In einer anderen Sprache weitermachen? Geht nicht. Erinnert an das Malverbot. Wie viele Künstler haben sich den diktatorischen Vorgaben angepasst, nur um weiter kreativ sein zu dürfen?

Es geht also um den Wandel im Leben einer Vollblutschauspielerin, die mit der Macht konfrontiert wird, deren Philosophie sie bejaht, die aber ins Totalitäre abwandert, und damit in die grenzenlose Dummheit, Geschmacklosigkeit, Undifferenziertheit, Herzlosigkeit, Grobheit und zuletzt auch Gewalt, all dem sie sich und ihre Schauspielkunst nicht beugen will. Und auch gar nicht kann. Denn dann wäre es ja keine Kunst mehr, sondern stillose Heuchelei.

Das Symptom? Ich kann den Text nicht auswendig lernen. Der geht einfach nicht rein. Und kommt dementsprechend auch nicht raus. Na sowas? Wieso denn? Die große Primadonna kann das nicht?

Charlotte, meine Mutter, gab auf, wurde umbesetzt und wenig später gingen wir alle vier von Weimar fort. Thomas war 9 Jahre alt, ich zwei. Das war 1951. Sie hätte die vorbildlich moskautreue Tochter des abtrünnigen jugoslawischen Regierungschefs Tito spielen sollen. Die Phrasendrescherei fand in ihrem Herzen und ihrer Seele keinen Ankerpunkt.

Sie hat ein Leben lang nicht aufgehört, Theater zu spielen, zu hause. Verpackte all ihr Sein in den effektvollen Schein, spontan, temperamentvoll, zärtlich, wütend, mütterlich fordernd, witzig, weinerlich, lächerlich, aufbrausend, desinteressiert, verzweifelt, weihnachtlich, tragisch, gemütlich, kratzig, frühlinghaft, grotesk, nie langweilig. Die Blitze, die die Souffleuse und die Kostümbildnerin von der Gusič abbekommen, trafen uns alle, sie kannte keine Kompromisse, entweder du kannst es, dann zeig‘s, oder du kannst es nicht, dann verschwinde. In Peters phantasievolle Höhenflüge konnte sie sich wunderbar einschwingen, flog mit ihm noch höher und übte haarscharfe Kritik an den Schwachstellen seiner phantastischen Arbeiten. Lernprozesse, Abwarten, Geduld gar! gab es für sie nicht, es gab nur das Jetzt, das, was ich momentan spiele, voll und ganz, Maria Stuart darf nicht wissen, dass sie sterben wird. Und ihr sollt alle applaudieren, ich will eure Emotionen schüren, erhitzen und abkühlen, kitzeln und mit Balsam beruhigen, so aufbrausen, dass ihr mich am Ende alle anjubelt.

Einmal erzählte sie mir stolz, Peter habe einen alten Kollegen getroffen, der Bauklötzer staunte, als er erfuhr, dass er mit „der Ulbrich“ verheiratet war: Waaas? Mit der?? Na, die war ja toll! Die hat ja alle an die Wand gespielt!!!! Dazu die entsprechende Ellbogengeste.

Ich war die Kleinste, habe ihr Theaterleben nicht erlebt, verstand sie nicht, widersetzte mich der emotionalen Unordnung im Hause, und je größer ich wurde, desto unerquicklicher empfand ich das An-die-Wand-gespielt-Werden, weshalb ich dann, noch nicht wissend, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, weit wegging, nach Rom.

Als Charlotte nach unendlich vielen Jahren wieder vor einem echten Publikum auftrat, war ich dabei. Meine Kinder waren schon einigermaßen unabhängig und ich war aus beruflichen Gründen in München. Da sollte es in einem winzigen Theaterchen den „Zitatenpudding“ geben. Am Abend davor hatte Charlotte schauerliche Angst, der sie heftigst Ausdruck verlieh, stöhnte: heute nacht sterbe ich. Solche Sätze brachten mich, die Realistin, innerlich auf die Palme. Warum soll sie denn jetzt gleich sterben?! Peter nahm’s mit seinem üblichen Gleichmut: Ach Charlotte, was du da so sagst.
Die Zuschauer im Off-Off-Theater sollten eigentlich den Autor der Zitate erraten, die Charlotte las, wozu Peter dann mit einigen Informationen Ratehilfe leistete. Dann merkte ich, wie das Publikum langsam gar nicht mehr daran interessiert war, Lorbeeren durch Erraten zu ernten, sondern nur noch lauschte, wenn Charlotte die Zitate las. Bitte noch mal! Ja, noch mal! Und dann wartete man gespannt. Charlotte wusste solche Momente mit wohlbemessenen knisternden Pausen zu füllen, bis sie anhob … und das Zitat wiederholte. Es war so unglaublich still im Zuschauerraum, dass man die Luft mit einem Messer hätte schneiden können.

Klavierspielen konnte sie nicht, kochen aber durchaus. Ihre erste Flucht aus dem Theater – vor den Nazis – führte sie in die durchaus erwünschte Rolle der Gattin Ottos, eines angesehenen Arztes, weshalb sie eine Hauswirtschaftsschule auf einem Schloss besuchte. Das Wort “Schloss” war das wichtigste, wenn sie davon berichtete. Ich liebte die Pflaumenknödel mit Zimt und Zucker, meine Töchter ihre Eierkuchen, meine Neffen die Kartoffelpuffer, und wenn alte Verehrer bei uns in der Aretinstraße auftauchten, die sie auf den weltbedeutenden Brettern erlebt hatten,  und nun mit Königsberger Klopsen im Gaumen verwundert feststellten, dass sie ja doch kochen konnte, dann lief der Klops Gefahr, dort stecken zu bleiben, denn sie konterte nebensächlich dahinsäuselnd: „Ach, weißt du, kochen? Das ist nur einfach eine Frage der Intelligenz!“

© Claudia Podehl

Henriette Gusič – Teil 1

Henriette Gusič – Teil 2

Lotte in Weimar

Meiner Homöopatin Antonita gewidmet, deren weise Kügelchengemische solch kontradiktorischen Zeilen zum Fließen verholfen haben. In meinem Stehaufmädchenleben hatte ich meterdicken Ballast aufgebaut, um bestehen zu können und auch ausfahrbare Standbeine. Den Einziehmechanismus wieder in Gang bringen, ist mühevolle, lebenswichtige Erwachsenenarbeit. Und ich entdecke das unsichere Vergnügen, motu proprio zu schaukeln.

Dedicata ad Antonita, la mia omeopata che, con i suoi globuli in combinazione ben ponderata, ha disinnescato il flusso contraddittorio delle mie righe. La mia esistenza di bimba misirizzi richiedeva abbondante zavorra per restare in equilibrio, e anche delle gambe d’appoggio estraibili. Riattivare il meccanismo di retrazione è fatica dura ma vitale. Sto scoprendo l’incerto piacere di dondolare motu proprio.