Kommen und Gehen – Bild 6

***

Bühnenbild von Rolf Christiansen

***

Kommen und Gehen – Sechstes Bild

 Wohnzimmer
Mit geringen Veränderungen ad libitum wie zweites Bild.
(Nacht, starkes Mondlicht flutet ins Zimmer.)

ER (kommt barfuß, im Schlafanzug von hinten. Schreiend:)
Nein, nein! (Kann kaum atmen.) Ja, so werden sie eines Tages kommen und Rechenschaft fordern und mich zu den Schuldigen zählen. Nein, war das furchtbar. (Macht Licht.) Licht! Dieser Vollmond hat ja mitgespielt in dem Traum. Ich war ja wach. Ich habe ja mit offenen Augen geträumt. (Sinkt in einen Sessel.)

SIE (kommt von hinten mit seinem Morgenrock und Pantoffeln.)
Peter.

ER
Was denn?

SIE
Ich habe deine Pantoffeln gebracht und den Morgenrock.

ER (zieht den Morgenrock an. Hämisch:)
Ihr Frauen habt eine furchtbare Neigung aus Tragödien Komödien zu machen.

SIE
Ich halte eure Neigung, aus Komödien Tragödien zu machen wie eure Generäle und Staatsmänner, für weit furchtbarer.

ER (seufzt tief auf.)

SIE
Was war denn wieder? Hast du geträumt? Du hast furchtbar geschrieen!

ER
Glaubst du, ich schreie, wenn ich wach bin?

SIE
Grund genug wäre manchmal vorhanden.

ER
Natürlich habe ich geträumt. Ich bin schweißgebadet. Die Toten haben mich wieder mal verfolgt. Einer meiner berühmten Angstträume.

SIE
Komm, du musst dich waschen. Ich mache dir warmes Wasser und suche dir ein frisches Nachthemd. (Will gehen.)

ER (laut:)
Nein. Lass! Ich mag nicht mehr ins Bett. Ich fürchte mich davor, vor dem Schlafen, vor dem Träumen. Ich will mich erkälten, ich will krank werden, am liebsten sterben.

SIE
Peter!

ER
Doch. Vielleicht trauert dann die Welt um mich.

SIE
Ich glaube, nur ich würde trauern. Tausende nimmt die Erde täglich auf, – sie werden vergessen. Das Leben geht… Das Leben?.. Das Sterben geht weiter.

ER
Weißt du, ich habe manchmal das Gefühl, als hielte mein Lebensnerv die Anspannung einfach nicht mehr aus.

SIE (streichelt ihn.)
Es wird schon wieder werden.

ER
Ich träumte von den Toten, die ich … Von denen, die durch mich … Sie standen im Schlafzimmer. Im fahlen Mondlicht erkannte ich sie. Es waren Pinguine, und sie watschelten unerhört graziös und freundlich daher. Dann aber sagte einer – das Gesicht erkannte ich wieder, von – (Erstarrt einen Augenblick.) Er sagte: Sie müssen dich holen, das sei ein Leih- und Pachtabkommen nach der Atlantik-Charta. Ich fragte, was mir bleibt. Und er hat gelächelt, halb Mensch, halb Pinguin und hat gesagt: „Unsere Witwen und unsere Waisen. Hol sie dir aus dem Bett!“ Dann schlug er mir mit seinem Flossenarm auf die Brust und wie betäubt sah ich, wie sie dich aus dem Bett holten und über ihren Köpfen forttrugen. Ich wollte schreien und aufstehen, aber – ich konnte nicht. Ich habe mich herumgewälzt, Traumangst fesselte mich ans Bett. Kennst du das? Alles war leer, tot und still. (Nach einer Pause, ungeduldig:) Sag doch was!

SIE (hilflos:)
Was soll ich denn sagen?

ER
Vielleicht kannst du mir dann einen Kuss geben.

SIE (zögert.)

ER
Trotz der Pinguine.

SIE
Es ist sehr schwer jetzt. (Küsst ihn.)

ER
Den Kuss hättest du dir sparen können. Er schmeckt nach langjähriger Ehe und Pflicht. (Trostlos:) Ich bin also allein auf dieser Welt, auf  d i e s e r  Welt.

SIE
Manchmal ist es mir unbegreiflich, wie ihr in eurer Trostlosigkeit und eurem Pessimismus eure sogenannte Pflicht da draußen erfüllen könnt. Ist das eigentlich männlich?

ER
Ich weiß nicht. Es ist – eben die Pflicht. Tröste mich doch! (Fast herrisch:) Das ist doch eure Pflicht! Dazu bist du doch da!

SIE
Wenn du so leben würdest, dass du keinen Trost brauchst?!

ER
Das sind müßige Worte in der Situation.

(Das Licht geht aus.)

ER (gereizt:)
Geh doch vom Schalter weg!

SIE
Ich habe ihn gar nicht berührt. Stromstörung.

ER
Dann bring Licht. Das Mondlicht macht mich wahnsinnig, – die Pinguine.

SIE
Ich habe keine Kerze mehr. Lass uns schlafen gehen.

ER
Nein. (Geht zum Fenster:) Wer geht denn da unten?

SIE
Peter, ich weiß es doch nicht. Der Verehrer irgendeiner Dulcinea hier unten im Haus wahrscheinlich.

ER
Er schaut immer hier herauf.

SIE
Vielleicht verehrt er mich.

ER
Eva, du weißt, dass ich leicht eifersüchtig bin.

SIE
Es bedarf keiner Aufklärung. Ich weiß es.

ER
Dann mach keine blöden Witze, sondern sag mir, wer der Mann da ist und was er will.

SIE (geht zum Fenster:)
Aber Peter, das ist doch der eindeutig harmlose Fahrer des dort eindeutig harmlos parkenden Autos.

ER
Eva, du solltest mich nicht reizen, wenn ich schon gereizt bin.

SIE
Du bist sehr nervös, mein Lieber.

ER
Es nützt überhaupt nichts, einem nervösen Menschen zu sagen, das er nervös ist. Ich… Mein Gott, was für ein Verbrechen, uns jahrelang von unseren Frauen zu trennen! Ich wollte so glücklich sein mit dir in diesem Urlaub, und ich bin so zerrüttet und eifersüchtig. Ich sehne mich weg von dir. Gib mir etwas, das ich zerschlagen kann.

SIE
Peter.

ER
Gib mir etwas, sonst nehme ich irgendetwas.

SIE
Nein, ich gehe nicht auf deine Albernheiten ein.

ER (nimmt die Vase:)
Du liebst diese Vase. Ich weiß nicht warum. Wenn sie in Scherben liegt, wirst du dich hüten, mich albern zu nennen.

SIE (fällt ihm um den Hals.)

ER (macht sich los und haut die Vase hin. Die Vase bleibt ganz.)

SIE
Musst du Vasen zerschlagen, wenn du nicht wachen und nicht schlafen kannst?

ER
Oh, ich – hasse dich in deinem Zynismus.

SIE
So? Nun, es fällt mir schwer, dir in diesem Augenblick zu sagen, dass ich – dich liebe.

ER (ernüchtert:)
Was soll ich denn tun?

SIE
Setz dich.

ER (setzt sich.)

SIE
Und was soll ich nun tun?

ER
Siehst du, daran krankt die Welt: man weiß immer, was der andere tun sollte und verlässt sich darauf und wartet – meistens vergeblich … Setz dich zu mir und erzähle mir etwas.

SIE (nimmt an seinen Füßen Platz.)
Wovon soll ich dir erzählen?

ER
Das musst du selber wissen. Von mir.

SIE
Du heißt Peter. Peter: Petrus war ein Apostel. Weißt du das? Der Name leitet sich her vom Griechischen „petra“, der Fels. Du heißt Peter. Bist du Peter? Felsen werden heute gebraucht. Die Wogen der Weltmeere gehen hoch. Aber so hoch sie auch gehen, so oft sie ihn auch überfluten, – der Fels steht unbeugsam. Auf ihm können Menschen Zuflucht suchen, kann der Geist leben. An vielen Felsen können sich die Wogen brechen, und geringer werden, nach Zahl, nach Kraft, bis sich schließlich die Meere glätten. Du heißt Peter, bist halb ein werdender Dichter halb ein Mensch. Und das in einer Zeit, die für Dichter verdammt wenig übrig hat, in der Mensch Sein schon sehr schwer ist. Ob Goethe zwischen drohender Einberufung und Lebensmittelkarte den „Tasso“ geschrieben hätte? Du hast eine Frau. (Traurig:) Du hast kein Kind, willst kein Kind. Keinen kleinen Felsen…

ER
Bitte heb die Vase auf. Ich möchte wissen, wieso sie nicht in Scherben ging –

SIE
Vielleicht fand sie, es lohnt sich nicht. Ist eben auch ein Felsenkind.

ER
Vielleicht erfahre ich eines Tages doch noch die Geschichte dieses Benedikt-Souvenirs.

SIE
Wenn du wüsstest, wie alltäglich sie ist.

ER
Erzähle weiter von mir.

SIE (steht auf.)
Es gibt nichts mehr zu erzählen. Männer, die Peter heißen und keine Kinder haben, sind uninteressant.

ER
Dass du immer wieder darauf zurückkommst. Jeden Tag im Urlaub hast du von dem Kind gesprochen.

SIE
Es ist eigentlich unfassbar, welche Macht uns Gott in die Hände gegeben hat. Was er aus seiner letzten Weisheit geschaffen hat als ein Wunder ohnegleichen, das können nun wir schaffen. Aus uns. Unbegreiflich auch, dass wir schon von  u n s e r e m  Kind sprechen, da es doch noch irgendwo anders lebt, nur erst gedacht.

ER
Ich denke nicht daran. Ich bleibe dabei, dass dies keine Zeit für Kinder ist. Erzähl weiter von dem uninteressanten Peter.

SIE (schnell:)
Der uninteressante Peter ist jung, verhältnismäßig hübsch, eifersüchtig, hat sex-appeal. Ist gescheit, klug, manchmal hat er Geist, selten Gefühl –

ER (erstaunt:)
Ich habe kein Gefühl?!

SIE
Doch, du hast Gefühl, aber … du hast unerahnte Zärtlichkeitsideen in dir. Du weißt berauschende Worte, die streicheln wie deine Hände. Aber in den Jahren der Trennung ist mir klar geworden, dass Gefühl noch mehr ist, noch über all dem. Zärtlichkeiten sind letzten Endes – wie soll ich sagen? – sublimierte Erotik. Es gibt noch mehr.

ER
Was kann es mehr geben, als bis zum Äußersten sublimierte Erotik?

SIE
Ja, sie führt zur Liebe. In der Liebe trifft sich alles: Erotik, Religion, Weisheit, Kunst, – das sind alles Wege. Liebe muss man sich erkämpfen. Sie ist schwerer zu erringen als Ruhm und Geld, ja selbst als die Weisheit.

ER
Ja… (nach einer Pause:)
Alle Pinguine sind verschwunden. Nicht wahr, sie werden dir in Wirklichkeit nichts tun?

SIE
Nein.

ER
Jetzt stört mich auch das Mondlicht nicht mehr.

(Das Licht geht aus.)

SIE
Auf dem Elektrizitätswerk scheint heute ein besonders boshafter Kerl zu sitzen. Komm, gehen wir schlafen. Ich werde wachen, bis du eingeschlafen bist.

ER
Meine Mutter sagte früher immer „kommt gleich“, wenn ich nicht einschlafen konnte. Und dann schlief ich wirklich gleich ein. (Steht auf.)

SIE
Werde ich auch sagen: „Kommt gleich“ und „Gut‘s Nächtle“.

BEIDE (gehen hinten ab.)

(Telefon.)

ER (kommt barfuß im Schlafanzug zurück.)
Wer kann denn da anrufen? (Meldet sich:) Hallo? – Ja. 37-2-84. – Bitte? Ja, ein Telegramm? – „Sofort zur Truppe einrücken.“ – Danke. (Legt langsam den Hörer auf.) Ach, „Danke“ braucht man da ja eigentlich nicht zu sagen.

SIE (kommt mit den Pantoffeln wieder.)
Peter, die Pantoffeln. (Stellt sie ihm hin.) Was war denn?

ER
Ich muss sofort weg. Ach, Eva, ich… Du… Ach, was war das alles eben so gut.

SIE
Bleib noch einen Tag.

ER
Ich kann nicht. Ich werde da draußen gebraucht. Das Telegramm kam um 4 Uhr 31, da kann ich den Zug um 5 Uhr 40 noch bekommen.

SIE
Kein Mensch weiß, dass das Telegramm um 4 Uhr 30 kam.

ER
Es kam um 4 Uhr 31.

SIE
Bitte werde nicht dienstlich mit mir.

ER
Es ist auch so egal. Die Dinge bewegen sich in mir. Ich muss weg, sofort. Ich sehne mich nach der Front, nach den Kameraden. Vielleicht kann ich ja gut machen, was ich verbrach.

SIE
Peter, das ist doch widersinnig. Da draußen bestimmt nicht.

ER
Das verstehst du nicht. Da draußen sind Dinge lebendig, die du in deinem Hausfrauenverstand nicht begreifst und die in keiner Zeitung stehen. Entschuldige bitte: viel größere Dinge, die selbst du mit deinem durchaus weiten Horizont nicht erfassen kannst. Die Pinguine werden wieder lebendig. Die gibt es draußen nicht.

SIE (kalt:)
Bitte geh, Peter! Geh!

ER
Sag das nicht so.

SIE
Soll ich mich vielleicht freuen?

ER
Nein, aber helfen. Gehen… Ich will aber nicht.
Umarme mich.

SIE (umarmt ihn.)

ER
Das Leben ist so schwer zu ertragen, da draußen ohne die Wärme deines Herzens. Oh, es ist erbärmlich zu wissen, dass ein Faust schwankte zischen Mephisto und Gott. Unser Problem ist das Schwanken zwischen Ehebett und Front. Wer gibt Antwort…?

SIE
Ich bitte dich zu bleiben, – einen Tag.

ER
Weißt du warum ich gehen muss? Weil manche auf mich warten. Sabotage ist ein so billiges Schlagwort geworden. Es hat tiefere Bedeutung. Sabotage wird den Krieg nicht beenden. Kameradschaft vielleicht. Verstehst du das? Ich kann mich so schlecht ausdrücken, weiß selbst noch nicht alles genau. Ich bitte dich im Namen der Kameraschaft: lass mich gehen. (Geht zur Tür hinten.)

SIE (tritt ihm in den Weg.)
Und wenn ich dich verführe?

ER
Ich weiß, dass du das kannst. Aber du hast vorhin selbst gesagt, dass es mehr gibt als nur Erotik, dass es um die Liebe geht. Im Namen dieser Liebe nun habe ich die letzte Bitte an dich in diesem Urlaub: lass mich gehen.

SIE (überwindet sich:)
Im Namen dieser Liebe: zieh in den Frieden.

ER (geht hinten ab.)

SIE (durch die Tür nach hinten:)
Peter: Zieh in   d e n   Frieden! Nimm diese Worte mit. Lass uns den Frieden in den Herzen vorbereiten. Es geht um so viel. Nicht mehr um Danzig. Der Frieden muss eine Sache der Liebe werden, soll er Wohlgefallen bringen. Staatsmänner werden ihn nicht bringen. Kanonen auch nicht. Das Kriegsende wird nur Verwirrung in die kriegsgewohnten Menschen bringen. Der Krieg geht seinem Ende entgegen. Lass den Frieden seinem Beginn entgegen gehen.

ER (kommt fast angezogen, küsst sie und geht wieder.)

SIE
Was war denn das? Sublimierte Erotik?

ER (von drinnen:)
Dumme Frage! Es war ein Kuss, und wertvoll, denn es war einer der letzten in diesem Urlaub.

SIE
Mein Gott, ich stehe herum. Ich werde dir schnell noch einen Tee machen.

ER (kommt angezogen.)
Du wirst mir keinen Tee mehr machen. Du?

SIE
Was?

ER
Es saust alles in mir. Pinguine, Front, Liebe, Frieden … Tu ich jetzt das richtige?

SIE
Wenn wir es in uns richtig haben, dann können wir nur das Richtige tun, wo wir auch sind, was wir auch tun…

ER
Und wenn wir es in uns richtig haben, dann müssen wir da helfen, wo sie es noch nicht richtig haben. Du hier, ich woanders, wo du nicht hinkannst. Ich bin unglaublich glücklich, dass dieser Urlaub so tief tröstlich endet. Auf Wiedersehen, mein Mädchen, auf Wiedersehen im Frieden.

SIE
Peter, ich hab dich so lieb.

BEIDE (umarmen und küssen sich.)

ER (geht links ab.)

SIE (setzt sich. Fast froh rufend:)
Peter!

ER (kommt wieder, kniet und legt den Kopf in ihren Schoß.)
Du atmest so schön.

SIE
Gott schütze dich.

ER
Wird er schon machen. (Geht links ab.)

SIE (steht nach einer Pause auf und geht hinten ab. Sie kommt mit dem Ring wieder und ruft am Fenster:)
Peter!

ER (von unten:)
Was denn?

SIE
Deinen Ring hast du vergessen. Warte! (Küsst den Ring, wickelt ihn ein und wirft ihn hinaus.)

ER
Danke!

SIE
Peter!

ER
Ja?

SIE
Denk an unser Kind. (Kusshand)

***

Bild 7

Bild 8

Bild 9

Bild 10

Zu Kommen und Gehen

Claudia zur hiesigen Veröffentlichung

Presseschau und Zuschauerbriefe von damals

Autobiografischer Monolog von 1947 – Das Stück “Kommen und Gehen” berichtet

***

Bild 1

Bild 2

Bild 3

Bild 4

Bild 5

Bild 6

Bild 7

Bild 8

Bild 9

Bild 10