Märchen für den Sonntag – Aus dem Tagebuch eines Schutzengels

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Aus dem Tagebuch eines Schutzengels

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Liebe Sonntagskinder!

Liebe Teile eines Großen und Ganzen. Nicht nur die zwei Teile Eurer Zweisamkeit, sondern auch der unzählbaren und unschätzbaren Teile unserer Gemeinsamkeit.

Eure Zweisamkeit und unsere Gemeinsamkeit mögen nie ein Ende nehmen. Aber Märchenbücher enden, und wenn sie sieben Märchen für sieben Wochentage enthalten, dann enden sie – heute.

Was habt Ihr getan? Wart Ihr unterwegs? Oder hat es geregnet? Ich möchte so gern mehr von euch wissen. Mir fällt der Abschied von Euch nicht ganz leicht. Die tiefste und festeste Bindung der heutigen Welt ist liebesbedingt, nicht wahr?

Oder nicht? Ist auch die Liebe fragwürdig geworden? Ich glaube nicht. Ich glaube, was die Menschen der Liebe zuschieben, was sie immer wieder mit ihr verwechseln, – das lässt sie fragwürdig erscheinen. Sie ist es in Wahrheit nicht! Mit solch einer Anschauung schaffe ich vielleicht eine große Kluft zwischen mir und vielen anderen. Ich will diese Kluft zu überbrücken versuchen – mit Liebe… Und wenn die anderen mir entgegen kämen? Oder muss   i c h   als Liebender die   g a n z e   Brücke schlagen? Sind die Brücken von heute Brücken aus lauter Liebe…?

Das sind Fragen, die mich sehr bewegen.

Das Sonntagsmärchen hat eine Vorgeschichte wie ein Märchen. Es war einmal ein kalter Märztag, nicht lange nach dem Krieg. Ich ging durch ein unfreundliches und jeglicher Wintermärchenromantik entbehrendes Schneegestöber. Da fielen mit plötzlich statt Schneeflocken Zettel auf di Nase. Keine Möglichkeit weit und breit, wo ein Mensch diese Zettel hätte verlieren können. Sie wirbelten vom Himmel wie die Schneeflocken. Ich sammelte sie und ging nach Hause in mein kaltes Zimmer. Beim Lesen und Ordnen der Blätter wurde mir warm. Ich fand eine Liebe tagebuchartig geschildert von einem Darüberstehenden, einem unsichtbaren Wesen, einem Wir. Die Schilderung, die ich mit zunehmender Freude las, war in einer Weise tiefmystisch oder hochgeistig, gar nicht abstrakt, sondern verständlich und verständig, nur ein wenig über uns stehend, gleichsam aus unserer anderen Welt.

Meine Freude über den Fund überwog weit das Bedauern, dass ich offensichtlich nicht alle Blätter gefunden hatte.

Gleich auf dem ersten schreibt dieser Schutzengel einer Liebe, er wolle durch die Niederschrift seiner Erfahrung helfen, dass es besser werde in der Welt. Nun hat er die Zettel verloren und sich nicht, wie beabsichtigt, einem nachfolgenden Wir als Hilfe und Belehrung übergeben.

Vielleicht hat er in einem “Zwischenreichlichen Anzeiger” inseriert: “Tagebuch einer Liebe im Schneegestöber verloren. Abzugeben gegen Händedruck und Kuss bei Wir 17348.” Da ich aber nie so einen Anzeiger in die Hände bekommen werde, kann ich das Tagebuch nicht abgeben. Ich kann es nur veröffentlichen in der Hoffnung, dass die Liebenden den Nutzen daraus ziehen mögen, dessen ein junger Wir infolge des heftigen Schneegestöbers verlustig gegangen ist.

Und das ist ein Gedanke, mit dem ich meine letzte und sonntägliche Vorrede gern beende: Wir müssen helfen und handeln! Das lernen wir unter anderem

AUS DEM TAGEBUCH EINES SCHUTZENGELS

Es war einmal ein Wir, der wollte Tagebuch führen über seine Tätigkeit. Ob er es getan hat, weiß ich nicht. Jedenfalls will ich diesen löblichen Gedanken neu aufgreifen und ausführen, damit meine Nachfolger vielleicht daraus lernen können, wie man die uns anvertrauten Schützlinge behandeln muss. Mit dem Gang eines jeden Paares werden Erfahrungen gesammelt, aber wenn wir sie nicht aufschreiben, dann geraten sie in Vergessenheit und die nachkommenden Wirs wiederholen bei jedem Paar die alten Fehler. Es muss ja einmal besser werden auf der Welt, und dazu können die Wirs entscheidend beitragen. Daher dieses Tagebuch.
Zunächst einmal bin ich etwas verwirrt. Äußerlich scheint alles zu stimmen. Er kam gestern zu ihr zurück. Sie haben einander jahrelang nicht gesehen, wozu in den jüngst vergangenen Zeitläuften ja wohl viel Gelegenheit gewesen sein soll. Sie freuten sich sehr und waren glücklich. Sie umarmten einander in der ersten Freude und schämten sich gleich darauf ein bisschen, weil die Eltern zuschauten. Die finden ganz besonders, dass sie sehr gut zueinander passen. Zur Liebe gehöre zunächst einmal ich. Aber ich finde gar nicht, dass sie zueinander gehören. Weniger wichtig sind passende Größe und passendes Alter. Auch die Tatsache, dass sie einander von Jugend auf kennen, ist unerheblich. In einer langen nächtlichen Unterhaltung wurden sie  sich über die Notwendigkeit eines sozialistischen Positivismus und das Herrschen einer kulturellen Stagnation (die vielen Fremdworte, die sie benutzten, reimten sich alle auf -ion und –ismus) einig. Aber das sagt sich leicht, und ist gar kein Beweis für Liebe, höchstens für gegenseitiges Verstehen.

Das ist doch wohl auch noch nicht passiert, dass man heruntergeschickt wird, und nur die Hälfte eines Produktionsmittels vorfindet. Was sich da gestern umarmt hat, gehört jedenfalls nicht zusammen. Ich komme mir vor, wie ein hilfloser Einbeiniger. Ich humple herum auf der einen Hälfte eines Pärchens. Ich muss die richtige Hälfte bald finden, sonst wachsen die Falschen, weil äußerlich alles so gut passt, immer näher zusammen.

Ich kenne Berlin, die Stadt, in der ich nun bin, von einer früheren Tätigkeit, als ich eine Caroline und einen Adalbert geleitete. Damals sah die Stadt anders aus. Sie soll – wenn ich die verworrenen Reden der heutigen Menschen recht verstanden habe – vermittels viel Mühe und Arbeit sowie so genannter Bomben so gewachsen und verändert worden sein. Es müsste viel aufgeräumt werden.

Susanne soll laut meinen Anweisungen die eine Hälfte heißen, Frank die andere. Was da aber aus der Gefangenschaft zurückgekommen ist (so sagt er immer; ich finde allerdings, dass das Leben in der großen Stadt keineswegs frei ist, dass er vielmehr aus einer Gefangenschaft in die andere gekommen ist), heißt Anton. Und er ist es eben einfach nicht.

Susanne tut mir etwas leid, weil sie so falsch glücklich ist. Ihre Freude, mit der sie das heutige Wiedersehen mit Anton im Voraus behängt, ist so zärtlich. Es ist wohl eine sehr liebesarme Zeit. Bedenkenlos verlieben sich die Menschen in ganz grundlose und ungefestigte Möglichkeiten. Und doch: auch diesmal berühren und bezaubern mich die Menschen wieder, wie jedes Mal, wenn ich auf der Erde zu tun habe, – und ein wenig beneide ich sie auch. Wie man manchmal Kinder beneiden mag, weil sie das Einmaleins noch nicht können. Aber das sind wohl etwas sentimentale Atavismen.

Auf den heutigen Abend freue ich mich gar nicht. Sie werden eifrig einen Faden anspulen, der achtlos auf die Erde fallen wird, weil der Webstuhl Liebe ihnen fehlt. Und das Aufwickeln macht dann so viel Mühe für uns alle; erst findet man kein Ende, und hat man endlich eines erwischt, dann muss man es durch tausend Schlingen und Schleifen ziehen und tausend Verhedderungen entknüppern.

Scheußlich, – so ein Anfang, kenne ich aus meiner ewigen Praxis gar nicht. Der Anfang war meistens leicht und unbeschwert. Ich komme ja so nicht weiter, wachse nicht. Kann doch nicht dauernd ein Wir-Baby auf einem Bein bleiben…

Ich habe Frank gefunden. Er besitzt nur zwei gleiche rotkarierte Hemden, die er abwechselnd trägt. Sie kennt die Hemden genau und glaubt, es sei nur eins und die Frage seiner Säuberung hat sie schon manchmal beschäftigt. Sie kennt auch seine braunen schönen Haare, und er kennt ihr Lächeln. Aber dieses gegenseitige Kennen ankert so tief, dass wohl beide noch nicht einen Gedanken davon ins Bewusstsein genommen haben.

Nun habe ich meine Zwei und meine zwei Beine und kann sie ordentlich leiten. Ich bin so glücklich wie ein eben zur Welt gekommenes Kind, das doch ganz tief innen auch weiß, dass es nun losgeht; und dann den ersten Schrei ausstößt.

Sie sind schippen gegangen, Aufräumungsarbeiten. Ich sitze auf seiner Schulter, habe dieses Tagebuch auf seinen Kopf gelegt und schreibe. Ab un zu blinzle ich fröhlich in die Sonne und zu Susanne. Ich habe natürlich meine Schützlinge zur gleichen Kolonne eingeteilt.
Halt, Liebling! So, neben Susanne und schmeiß   i h r   die Ziegelsteine zu, nicht dem miesen Kumpan da rechts. Ja, ihr braucht dem gar keine Bedeutung beizumessen. Ihr könnt ja nicht wissen, dass ich auf Franks Schulter sitze und etwas vorhabe mit euch.

Ich könnte in die Luft gehen, wenn ich nicht schon darin wäre. Es war große Zusammenkunft: Susanne, Anton und zwei Elternpaare. Und man benahm sich als wären es drei Ehepaare.
Vater Anton sagte unter großer Zustimmung der anderen ungerechtfertigterweise so benannten Erwachsenen, dass eine möglichst rasche Bindung der Kinder besonderes aus finanziellen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Gründen von großem Vorteil für alle Anwesenden wäre.
Mich glaubte man mit dem lakonischen Satz “Aber auch so…” abtun zu können. Das sollte wohl bedeuten, dass die zu erwartenden Kinder weder verkrüppelt noch geistig anormal zu werden versprächen, und dass sie das Klassenziel jeweils erreichen würden. Sie fanden alles in bester Ordnung.

Ich bin die beste Ordnung!
Ich habe getan, was ich konnte, aber Frank ist ein Stiesel, ein sturer Bock.

Das Essen bildet zur Zeit bei den Menschen das ergiebigste Gesprächsthema, wohl weil es meistens nicht in genügender Menge vorhanden ist. Und darüber lässt sich endlos reden; was die Kauwerkzeuge zu wenig zu tun haben, gleichen die Sprechwerkzeuge aus. Auf Grund dieser mir neuen Erkenntnis habe ich sie heute nebeneinander gesetzt beim Essen. Aber Frank, der doch ihr Lächeln kennt und ihr schon Ziegelsteine zugeworfen hat, löffelte seinen Eintopf und dachte an chemische Formeln; er schaute zuweilen sogar in sein Buch. Und sie, die seine Haare und Hemden kennt, ist natürlich zu wohlerzogen, um ein Gespräch anzufangen.

Also ein verlorener Tag.

Ich habe sie wieder nebeneinander gesetzt und ihnen anstatt Eintopf Topinambur 1947 vorgesetzt.

Und dieses Essen, der erste Bissen schon brachte den Stein ins Rollen.
Er begann, mehrfach zu sich selbst murmelnd: “Was is’n das?”
“Topinambur.” antwortet sie.
“Was? Wie schreibt man denn das?” fragte er. “Und warum sagen Sie nicht gleich, dass es Teltower Rübchen sind?”
“Weil es Topinambur sind.” ist ihre schlichte Antwort.
“Komisch.” sagt er. “Schmeckt wie Teltower Rübchen und klingt wie französischer Minnesänger.”
“Und gehört zur Gattung der Helianthus.” ergänzt sie. “Sonnenblume, Helianthus tuberosus.”
“So.” sagt er. “Na, von der Sonnenblume bis zu dieser mittel bis untermittel schmeckenden, recht unoriginellen Rübe ist aber ein weiter Weg.”
“Vier Meter.” sagt sie.
“Was?”
“Von der Sonnenblumenblüte bis zu dieser Wurzelknolle sind es etwa vier Meter.”
“Ach so.” sagt er ohne zu lachen. Und dann: “Na, Mahlzeit.”

Mit Stiesels muss man Geduld haben.

Mein Kollege am Lago Maggiore hat es natürlich leichter als ich; ihm steht eine natürlichere Liebesumgebung zur Verfügung als so eine zerstörte Stadt. Aber Möglichkeiten gibt es auch hier. Lässt er einen Fischer “La paloma” schmelzen, schicke ich meine Schützlinge in eine Razzia.
Das Wesen einer Razzia wird Geistwesen unserer Art wohl immer unverständlich bleiben. Jedenfalls wird viel geschrien und geschimpft, Schuldige verwandeln sich durch wenige Worte in Lämmer und umgekehrt. Ein Mann war auf dem Weg zu seiner im Sterben liegenden Frau. In der verständlichen Aufregung beging er eine moderne Todsünde: er vergaß den so genannten Personalausweis und wurde so lange festgehalten, bis er die letzten Worte seiner Frau nicht mehr hören konnte. Und sie hatten einander geliebt…
Susanne und Frank schickte ich vom wiederum gemeinsam eingenommen Essen mitten hinein in eine Razzia. Sie konnten sich ordnungsgemäß ausweisen und waren bald wieder heraus. In seiner Tasche befanden sich zweihundert Zigaretten, in der ihren fünftausend Mark. Auf diese so selbstlos anmutende Weise hatten sich von der Razzia Ertappte ihres gefährlichen Ballasts entledigt.
Frank raucht nicht. Anton, so erklärt Susanne, ihr Freund, sein leidenschaftlicher Raucher. Darauf gibt Frank ihr die Zigaretten, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie gibt ihm das Geld. Beide legen diesem merkwürdigen unkommerziellen Handel gar keine Bedeutung bei. Frank meint nur, er wüsste nicht, was er mit dem Geld anfangen soll.

“Kaufen Sie sich ein zweites Hemd.”
“Aber liebes Fräulein, ich habe doch zwei Hemden, genau die gleichen.”
“Na, das konnte ich doch nicht wissen.” meint sie.
“Nein nein! Ich mache Ihnen ja auch keine Vorwürfe!”
“Ja dann…” sagt sie. “Dann heben Sie das Geld auf. Vielleicht können wir es einmal gebrauchen.”
“Ich wüsste nicht, wann und wofür.” sagt er.

Kann er ja auch nicht wissen, sage ich.

“Ich weiß es im Moment auch nicht.” sagt sie. “Auf Wiedersehen. Vielen Dank für die Zigaretten.”
“Vielen Dank für das Geld.”
“Nichts zu danken!” sagt sie mit einigem Recht.
Daraufhin er: “Ja, mir brauchen Sie für die Zigaretten auch nicht zu danken.”
Etwas kopfschüttelnd haben sie sich getrennt. Ich freue mich. Es war ein bedeutsamer Tag. Zwei Menschen bedenken oft gar nicht, was es bedeutet, wenn sie eines Tages beginnen, von sich als “Wir” zu sprechen. Unbewusst nennen und erkennen sie mich damit zum ersten Mal.

Wieder ist ein schöner Tag zu Ende.

Er begann allerdings etwas unfreundlich. Anton wollte wissen, wie sie zu den Zigaretten kommt. Anstatt die sie in keiner Weise kompromittierende Wahrheit zu sagen, hat sie mit etwas schlechtem Gewissen ziemlich unklare Auskünfte gegeben. Ich habe mich fast diebisch gefreut über das schlechte Gewissen, denn es ist ja wieder ein Beweis… Jedenfalls kam es zu einer Auseinandersetzung, in der wenig Liebe schwang. Er wiederholte des öfteren, dass er die Annahme der Zigaretten verweigere, bis er sie schließlich widerwillig annahm. Dann ging er fort. Sie ließ ihn gehen mit einem kleinen Stachel im Herzen und ging ihrerseits zum Essen.
Das bedeutet zu Frank. Und auf dem Wege wich der Stachel aus ihrem Herzen. Sie wurde froher mit jedem Schritt, mit jeder Schiene, über die die Bahn fuhr, denn alle Schritte und alle Schienen führten zu ihm. Und als sie neben ihm saß, konnte sie sich nicht enthalten, ihm ruhig und sachlich zu sagen:
“Ihre Augen sind wie Vergissmeinnicht in Buttermilch!”
Einen Augenblick hat er den Kopf gehoben und in ihre Augen geschaut, die dem Blick mutig und liebevoll standhielten und bestätigt fanden, was sie gesagt hatte.
Dann zogen beide ihre Seelenfühler schnell wieder ein, mit denen sie sich schon erschreckend weit in den anderen hineingetastet hatten.

Während ich jetzt abends schreibe, denken sie aneinander. Sie kommt dabei zu keinem Anfang und keinem Ende. Er denkt an den reizenden Ausspruch, und dass sie einen Raucher zum Freund hat. Sie denkt an Anton, und dass Franks Augen wirklich sehr schön sind. Schließlich schieben sie alles Für und Wider, alles Hin und Her über den Rand in jenen Abgrund, den die ja doch weise eingerichtete Welt für Spekulationen aller Art immer bereithält. Und wenn ich recht bemerke, lächeln sie jetzt beim Einschlafen.

Wie im Leben der Menschen, so gibt es auch in unserem Dasein ein Auf und Ab. Ich fühle mich richtiggehend krank von all dem Gerede, das ich heute unter mir ergehen lassen musste. Und das an einem Sonntag, dem einzigen Tag in der Woche, an dem meine Liebenden einander sowieso nicht sehen. Dafür haben Anton und Susanne sich gründlich auseinander gesprochen; sie behaupten allerdings, sie hätten sich ausgesprochen.
Dass es mit der Größe ihrer Liebe einen Haken hat, haben sie nun bemerkt. Dass sie diesen Haken für ein mehr oder weniger natürliches und unvermeidliches Entwicklungsstadium halten, ist ihr Fehler – und ich muss zugeben, meine Unfähigkeit. Aus diesem Stadium entwickelt sich nichts. Man kann noch so gescheit darüber reden, man kann sich noch so einig sein, dass in einer wahrhaften Liebe das Ego zugunsten einer Gemeinschaft ausgeschaltet werden muss und … Quatsch! In die Liebe muss alles eingeschaltet werden, auch und gerade das Ego. Gelenkt muss es werden, still muss es sein, wenn es notwendig ist. Anton will sich “lösen aus dem Ego”. Dann ist er ein Schemen und kein Liebhaber. Als sie sich vollkommen festgerannt hatten, sagte er:
“Lass Liebe wachsen, aus uns, aus sich, aus der Zeit.”
Wenn Frank das gesagt hätte, wäre ich froh gewesen. Aus Antons Mund ist diese Feststellung nichtig, weil nur da etwas wachsen kann, wo ein Keim ist, wo ein Wesen meiner Art existiert.
Dann sagte Susanne… Ach, ich will gar nicht wiederholen, was sie noch alles sagten über die Zukunft, Weg und Steine auf dem Weg und Küssen, die das Ziel glauben. Es ist nur ärgerlich.
Ich kann nur hoffen, dass Frank einige seiner aus der Sonntagseinsamkeit geborenen Gedanken und Wünsche wahr zu machen versucht, und dass sich Anton und Susanne nicht übereilen.

Auf jeden Fall wachse ich langsam in einem so verwirrenden Dreieck. Machtlos sind wir Geister, wenn die Menschen nicht wollen.

Auf den Rand eines Glases habe ich Susanne und Frank gehoben. Sie beginnen den gefährlichen, sehnsüchtigen Gang. Jeder hat einen Halbkreis zu wandern, denn nebeneinander können sie nicht gehen. Sie balancieren, sie könnten ins Glas fallen oder zu Boden. Sie sehen den Kreis vor sich und den Punkt, wo er sich schließt, wo sie einander wiedertreffen werden. Sie schauen weniger auf den schmalen, gläsernen Weg, als dem anderen in die Augen, sie helfen ihm und führen ihn, Liebe voll … So klein sie sind, so groß ist der Kreis – so groß ihre Liebe, so klein der Glasrand.

Sie waren nämlich alle Drei zu einem Fest geladen. Anton und Susanne waren darüber hinaus auch innerlich geladen, aber nicht mit mir, sondern mit Komplikationen. Frank liebt Feste in der Trümmerstadt nicht. So begannen sie alle Drei das Fest ein wenig erwartungslos und missmutig. Vielleicht wurde es gerade darum so liebevoll.
Nachdem sich Anton recht sinnlos und unschön betrunken hatte, küssten meine beiden einander recht sinnvoll und schön. Ich hatte sie nur nebeneinander gesetzt und auf dem Lampenschirm hockend abgewartet; ich war dann sehr froh über den Erfolg. Nachher bereuten sie es wohl ein wenig, wegen Anton, und weil alle anderen um sie herum auch küssten. Aber nur ein wenig. Sie fanden es charakterlos, und wenn sie gewusst hätten, welche Freude sie mir gemacht haben …
Manchmal fühle ich fast beklommen, welche Macht in unsere Hand gegeben ist! Wir regieren Menschenherzen. Wir von weiter oben sollten engere Verbindung haben untereinander, eine gemeinsame Sprache finden. Wie viel könnten wir erschaffen und wie viel Wertloses verhindern.

Nun schlafen sie eng umschlungen. Ich habe mich leise niedergesetzt, um im tiefen Frieden ihrer Nähe mein Tagebuch zu schreiben. Wir haben geliebt und wir sind sehr glücklich. Oh, dass es das gibt…!
Dem ist ein schwieriger Tag für Susanne vorangegangen. Anton musste verreisen, und die Trennung machte sich so schwer, als hätte ihre Liebe ewige Dauer und Bestand. Wohl deshalb, weil sie nichts von ewiger Liebe wissen. Sie küssten einander immer wieder und waren traurig. Sie glaubten: der Trennung wegen; ich weiß: der Kleinheit ihrer Liebe wegen.
Susannes Zustand war fast beängstigend. Sie ahnt sehr deutlich von der Todesnähe ihrer Beziehungen zu Anton. Für einen so reinen Menschen ist es schrecklich, dem Mund die Sprache des Herzens zu verweigern. Als der Zug aus der Halle gefahren war, stand sie mit ihren Konflikten ganz verlassen unter den vielen Menschen auf dem Bahnsteig. Da habe ich sie zu Frank geschickt.
Er ist ja schon ein feiner Kerl. Erst war er etwas verwirrt, sie plötzlich vor seiner Wohnungstür zu finden. Aber nachdem sie einige Sätze gestammelt hatte, die jedenfalls ganz deutlich werden ließen, dass es so nicht weitergeht,  da nahm er sie lächelnd  und behutsam in die Geborgenheit seiner Arme und sagte ganz leise und schlicht:
“Nein, so geht es nicht weiter. Komm.”
Sie kam in sein Zimmer. Sie fühlte sich von Armen gehalten, wie sie Anton nie haben würde für sie.
Wenn die Menschen wüssten, wie glücklich sie uns allein durch die Süße ihrer gemeinsamen Atemzüge machen können. Ich darf demütig danken für den langen schönen Weg, der vor mir liegt.
Aber die arme Susanne muss nun ran. Wenige Augenblicke nach dem glückseligen Aufwachen neben Frank kam ihr der lange Faden in den Sinn, den sie mit Anton schon nutzlos abgewickelt hat. Und so ein nutzloser Faden kann einen Menschen schon sehr nachdenklich machen.
Sie kam mit Frank überein, dass sie einander ein paar Tage nicht sehen wollten, um sich zu prüfen. Menschen, die meiner noch nicht sicher sind, glauben oft, dass sie sich einem falschen oder schlechten Gefühl hingegeben haben.

Sollen sie sich also prüfen. Ich werde die Prüfungsfragen stellen. Noch unterschätzen sie mich, bald werden sie mich schätzen lernen.

Also Susanne ist durchgefallen. Am Schluss der Prüfung kam heraus, dass die Nacht mit Frank eine ganz große Sünde war, und dass sie büßen muss. Nun ist sie dabei, an Anton zu schreiben. Natürlich findet sie gar keine Worte, weil ich ihr über die Schulter schaue. Außerdem: Für Sünden, sie keine sind, finden sich schwer Worte der Buße.
Frank dagegen hat mit Auszeichnung bestanden: er fand die Nacht gut und schön, er will Fortsetzung und Bestand. Zunächst ist er bereit geduldig zu warten.

Das war mal wieder ein voller Tag.

Susanne war so durcheinander, dass sie nicht arbeiten konnte. Auch der nochmalige Versuch, an Anton zu schreiben, scheiterte kläglich. Unter Aufbietung all meiner und ihrer Kräfte konnte ich sie bewegen, zu Frank zu rennen. Sie waren etwas reserviert zueinander. Sie weinte. Er hat sie sehr standhaft und unbeholfen getröstet, anstatt… Na, hat er eben nicht. Immerhin fühlte sie sich sehr geborgen bei ihm, und in beiden keimte eine zarte Erinnerung an die Zukunft. Damit muss ich mich zufrieden geben.
Dann brachte er sie wieder nach Hause. Im Menschengewühl des Umsteigbahnhofes, als Frank gerade besonders eindringlich auf sie einsprach, trafen sie Anton. Es ist mir leider praktisch unmöglich, alle Sätze der folgenden Auseinandersetzung aufzuschreiben. Ich kann nur die wenigen Floskeln zusammenhanglos wiedergeben, an die ich mich noch erinnere.

Anton: “Wo kommst du denn her? – Wer sind Sie denn? – Sprich nicht dazwischen! – Dir hat nichts gefehlt! – Ich bin doch ganz ruhig. – Ich schreie ja gar nicht! Sie schreien! Ich will wissen, was los ist!? – Oh, ich könnte…!”

Frank: “Ich freue mich, Sie kennen zu lerne! – Könnten wir vielleicht … – Darf ich vielleicht noch mal … – Aber es wäre doch wohl besser… – Mit Schreien hat noch nie …”

Susanne: “Anton! – Du wolltest doch viel länger bleiben!? – Darf ich vorstellen? Herr – äh… reg dich doch nicht so auf! – Anton, ich bitte dich, gerade hier! – Komm, Frank!”

Mit dieser entscheidenden Aufforderung beendete Susanne jedenfalls diese ungestüme Unterhaltung. Anton sagte sehr verdutzt, als sie schon mit Frank im Gewühl verschwunden war:

“Aber Susanne, du kannst doch nicht einfach…”

Nichts einfacher als das: Sie können! Ganz leise und zaghaft beginnt das Uhrwerk ihrer Liebe zu ticken. Eine Damenarmbanduhr auf vielen Steinen. Muss aber eine weithin sichtbare und wirksame Kirchturmuhr werden mit lauten Schlägen.

Frank hat ein Dachstübchen gemietet, wo sie ungestört beieinander sein können, – von den fünftausend Mark. Bei ihm zu Hause ist der Bruder heimgekehrt, mit dem er das Zimmer teilen muss, und bei ihr können sie (vorläufig) sowieso nicht zusammenkommen. Die Dachstübchenvermieterin hat sich sehr dumm benommen, als Frank ihr sagte, dass er zuweilen mit einer jungen Dame zu kommen beabsichtige. Sie sei, so betonte die Vermieterin, eine moralische Frau und wolle das Zimmer wegen der wilden Ehe, die man dort zu führen beabsichtige, nicht an solche Zwei vermieten. Erst als ihr klar wurde, dass die jungen Leute nur zuweilen kommen würden, ihr somit weniger Arbeit erwüchse, auch die Lichtrechnung dementsprechend geringer würde, als bei einem seriösen Mieter, schwand die Moral, um ihrem Einverständnis Platz zu machen. Wie es denn oft mit der irdischen Moral einen Haken zu haben scheint, was man von der himmlischen nicht behaupten kann.

Anton hat ziemlich Rache ausgebrütet, und ich bekam schon Angst. Ich hätte ja keine Macht über ihn gehabt, hätte nur Frank und Susanne geistig-moralisch beistehen können, und das ist in solchem Zusammenhang nicht viel. Zufällig wurde jedoch Anton mitten in seine Rachepläne eine Möglichkeit geboten, nach dem “Westen” zu gehen, und er war vernünftig genug, sie nicht auszuschlagen. “Westen” bedeutet den Menschen heutzutage offenbar nicht nur eine Himmelsrichtung. Ich muss an Caroline und Adalbert denken, die damals nach “Süden” fuhren, und damit auch mehr als eine Himmelsrichtung meinten.
Ich habe Anton beim Packen seiner Siebensachen etwas zugeschaut. Er machte ein finsteres Gesicht, offensichtlich tat es doch in seinem kleinen Herzen etwas weh. Solche Menschen machen mich immer wehmütig, aber ich kann ihnen ja nicht helfen. Er sieht in eine trostlose Zukunft, und macht Susanne dafür verantwortlich. Dabei hätte gerade die Bindung an sie eine trostlose Zukunft gebracht, und zwar für beide.

Frank saß heute ein bisschen bedrüpst in seinem Dachstübchen. Er hat es mit zwei Lampen, über Kisten gebreitete Deckchen und viel Liebe sehr hübsch eingerichtet. Die eine Lampe gibt helles Licht, wenn sie lesen oder arbeiten wollen, die andere ist verhängt, wenn sie – nicht lesen oder arbeiten wollen.
Aber Susanne kommt nicht. Denkt er. Dabei habe ich sie gleich zu ihm geschickt, als sie erfuhr, dass Anton in den Westen geht. Nun hat sie angeklopft und ist eingetreten. Eine Weile hat Frank ihr erlaubt, staunend und froh die neue Umgebung zu bewundern. Dann ist er aufgestanden, hat sie in seine Arme genommen und gesagt:
“Willkommen bei uns!”
Ihr erster Einwand war: “Wie wird es im Winter hier sein?”
“Kalt!” sagt er.
“Es ist schön hier.” sagt sie dann.
“Ich freue mich, dass du endlich gekommen bist. Hier ist nun unsere Wohnung. Sieh, es ist direkt unter dem Dach. Alle guten Geister haben einen leichten Weg zu uns.”

Was ich bestätigen muss, sofern ich mich zu den guten Geistern rechnen darf.

Und Frank führt fort: “Und die bösen von unten, die müssen kraxeln und suchen, ehe sie uns hier oben entdecken.”
“Weißt du, warum ich gekommen bin?” fragt sie.
“Müßige Frage, müßige Antwort.” sagt er.
“Nein, weil ich dir sagen wollte, dass Anton in den Westen geht.”
“Aber nicht bloß deshalb?” fragt er.
“Müßige Frage, müßige Antwort.” sagt sie.

Wir hatten eine sehr schöne Stunde dort oben miteinander. Frank ist gar kein Stiesel mehr, ist aus seinem Jungensschlaf erwacht. Antons Weggehen hat ihm plötzlich klar gemacht, dass er nun sein Teil an der Verantwortung, die jede Bindung den Menschen auferlegt, zu tragen hat. Bisher hat er vor dieser Last Angst gehabt.
“Aber ich will sie tragen. Und wenn ich könnte… Aber der Gedanke ist wohl absurd, dass ich, um es dir zu erleichtern, auch deinen Teil der Verantwortung trage?”
“Das ist” sagt sie “eine zwar absurde, aber sehr liebevolle Liebeserklärung. Nein, du sollst und kannst nicht. Ich will sie tragen und haben.”
Frank nennt mich einen Engel. Zu viel der Ehre. Ich möchte geschmeichelt-geniert widersprechen, wenn er mich verstünde. Sie verstehen mich ja, aber nicht mit Worten; und das Widersprechen geht nun einmal nicht ohne Worte. Jedenfalls bin ich froh, dass sie mich erkannt haben und mit mir rechnen. Dass Frank nun aber glaubt, sie hätten mich beleidigt, – das ist ein bisschen übertrieben. Er meint, ich sei vielleicht böse, weil sie sich so früh ihrer Liebe hingegeben haben, als Anton noch da war und die Gefühle noch ungeformt. Ich kann doch gar nicht böse sein…
Ein bisschen früh war es ja, aber nicht    z u    früh. Wenn man daraus die Folgerungen zieht, wenn daraus die hohen Forderungen erwachsen, die meine beiden im folgenden Gespräch sich gemeinsam eroberten und erarbeiteten, dann habe ich keine Sorge.
“Wir haben viel zu schaffen, zu überwinden und – zu büßen.” sagt er.
“Und nichts zu bereuen!” jubelt sie.

Er regnete. Trümmer im Regen und knurrender Magen sind trübe Genossen, auch wenn man liebt. Etwas bedeckt-ironisch liebevoll, und sehr ziellos wanderten sie durch die nasse Stadt.
Er warf die Frage auf, ob es die Verliebten zu allen Zeiten so schwer gehabt hätten. Wenn ich ihm aus meinen früheren Tätigkeiten auf der Welt hätte berichten können, – er wäre still und zufrieden geworden. Geliebt und um das Geliebtwerden gerungen haben sie doch alle. Da hat es der Biedermeierherzog von Sachsen-Weimar nicht leichter gehabt als der ungekrönte Europäer von heute. Eher schwerer, denn eine große und echte Liebesbereitschaft durchzieht die heutige Welt; die wartet, oft allerdings sehr vergeblich…
Ich gewinne mehr und mehr Gestalt in ihren Gedanken und Gesprächen. Neulich war ich ein Engel. Heute sagte Susanne im Laufe des Gesprächs (zu Frank, nicht etwa zu mir):

“Du bist ein Schaf!”
“Und wer ist der Hirte?” fragte er.”
“Der ist da oben.” sagte sie und zeigt in die Wollen, aus denen die Nässe tropfte.
Beide schauten nach oben und freuten sich an den Großstadtregentropfen, die ihnen ins Gesicht fielen. Ihr Blick war so durchdringend und Liebe ahnend, dass ich mich hinter einer besonders dicken Wolke verstecken zu müssen glaubte. Umstehende lachten ein wenig, weil sie die Gesichter in den Regen und die Schirme nach unten hielten.

Natürlich bin ich ein Hirte, einer, der Zwei behütet. Über uns gibt es einen Hirten, der mehr als bloß Zwei behütet.

Wozu Gewitter gut sein können, weiß ich schon. Mein armes Paar hatte heute unter der besonders drückenden Schwüle zu leiden. Es war so schwül, dass sie der Natur vorausgewitterten. Aus Herz und Hirn kamen die Blitze, und aus dem Mund dann der Donner. Zunächst einmal hätten sie bei einem solchen Wetter nicht disponieren sollen: ein kleiner Mittagsschlaf, dann Kaffe und Marmeladenbrote und dann zu einem Freund, der irgendwo draußen ein kleines Haus hat. Der Mittagsschlaf beruhigte in keiner Weise, denn sie kamen wegen der Schwüle gar nicht zum Schlafen. Er machte ihr als Beruhigungsersatz einen ganz starken Kaffee, der sie noch mehr aufregte, weil er zu dünn war. Darüber regte sich Frank auf und behauptete mit einigem Recht, kein Kaffeekoch zu sein. Als sie zu dem Freund gehen wollten, kam der Glaser, den sie mit Hilfe von Zigaretten und noch mehr Worten in wochenlangen Anstrengungen überredet hatten, doch mal zu kommen, wegen der Korridortür. Er arbeitete langsam und reell, seine Arbeit war reeller als der Preis. Sie saßen währenddessen auf der Couch und warteten. Dann kämmte sie sich so lange die Haare, dass sie auch mit größtem sportlichem Können den vorgesehenen Zug nicht mehr erreichen könnten. Der Zug fährt nur alle Dreiviertelstunde. Wieder saßen sie eine halbe Stunde untätig im Stübchen. Ohne viel Liebesworte zu wechseln. Der natürliche Himmel glich sich unterdes dem ihren an: schwarze Wolkenmassen drohten unheilvoll und lastend. Dann gingen sie. Auf der Straße fällt ihm ein, dass er das Buch vergessen hatte, um dessentwegen sie zu dem Freund fahren wollten. Dann …

Es war furchtbar. Ich hätte mich in der Luft zerreißen können, und ich hätte es  meiner Art nach eher gekonnt, als all die Menschen, die zuweilen solchen Ausspruch tun. Die Menschen glauben, nur Geister könnten sie beruhigen, – wenn sie wüssten. Was sie zuweilen mit uns anrichten.
Ich bemühte mich vergeblich, ihre leidenschaftlichen Strahlungen zu fassen. Hatte ich einmal Susanne erwischt, war Frank fünfmal an mir vorbeigeschossen. So musste ich schließlich resigniert die Fäden hängen lassen. Trotz Schwüle war mir kalt.

Aber dann hielt der Zug auf freier Strecke in einem Wald. Es musste ausgestiegen werden, weil der Schaden in absehbarer Zeit nicht behoben werden konnte. Die ersten dicken Tropfen fielen, nachdem es schon lange gegrummelt und gewetterleuchtet hatte. Unser Pärchen hatte natürlich Mantel und Schirm vergessen und wurde nass wie im Meer.

Susanne fürchtete sich vor Gewittern. Mit jeder Entladung flüchtete sie sich an seine Brust. Wie unter das Dach einer schützenden Hütte. Sie sprachen wenig, ihre Strahlungen trafen sich wieder bei mir, und mir wurde trotz Regen wieder wärmer. Das Gewitter verzog sich bald, die Kleider klebten an den Körpern, von den Bäumen tropfte es, die Luft war rein. Wir bildeten das allerwärmste Dreieck. Sie waren still und ernst. Sie erkannte, ohne darüber Worte auszutauschen, was es bedeutet, wenn Menschen durch Liebeskraft ein Geistwesen über ihre Häupter rufen. Sie sahen mich mit Geistesaugen und legten ihr Wohl in meine Hand. Dort ruht es gut.

Als die Sprache wieder kam, war ich das Thema. Sie nahmen sich vor, lächelnd nach oben zu deuten, so bald innerliche Gewitter im Anzug seien. Das soll heißen: “Nimm auf Herrn Wir, auf seine Harmonie und Körperwärme Rücksicht. Ärgern wir ihn nicht. Er ist machtlos und kann uns nicht wiederärgern.”

Ich liebe Frank und Susanne.

Sie gehen ins Theater, in ein modernes Stück. Manchmal möchte ich sichtbar sein. Wir Drei würden ein schönes Paar abgeben. Ich könnte ja klein sein, könnte im dunklen Anzug wie eine Puppe auf der Armlehne zwischen ihnen sitzen. Nun, was nicht ist, kann noch werden. Von uns und unseresgleichen war nicht viel die Rede, obgleich viel geredet wurde. Als es zu Ende war, sagt er:
“Die Liebe kommt heute immer zu kurz in den Theaterstücken.”
“Nur in den Theaterstücken?” fragt sie.
“Ja, bei uns kommt sie wohl doch nicht zu kurz. Und so wie uns gibt es viele. Das ist die einzige Hoffnung. Aber die Dichter halten so eine Liebe vielleicht für märchenhaft.”
“Ist sie märchenhaft?”
“Ich möchte etwas über das Liebesleben dieses Dichters wissen. Wenn er nicht liebt, sollte man ihm keine Schreiberlaubnis geben.” fordert er.
“Ah, mein Herr Liebesrevolutionär!”
Und er sagt: “Ich verstehe gar nicht: gerade so graue Zeiten sollten doch das Märchenhafte in den Vordergrund stellen.”
“Ich halte die Liebe ganz und gar nicht für ein Märchen.” sagt sie.
“Nein, du hast recht, sie ist Wirklichkeit.”
“Nur Wirklichkeit?” fragt sie.
“Nicht nur.” sagt er.
“Und was ist der, der über uns geht und uns leitet?”
“Ja, der…” sagt sie und beendet damit das Gespräch.

Zum Glück, denn ich bin so verwirrt, dass ich selber schon nicht mehr weiß, was sie sind, was ich bin, und was Märchen ist.

Zu dumm! Gerade heute hatte ich ganz besonders viel mit ihnen vor, und nun haben sie so schlecht geschlafen, dass ich auch ganz müde bin.

Sie sitzen in ihrem Dachstübchen. Er benennt sie mit den Namen all ihrer mehr oder weniger einflussreichen Vorgängerinnen:
“Trude!” sagt er zu ihr. “Hertha, mit t-h, Angelika, Maria und Barbara und meine weit über alle geliebte Frau Susanne!”
Sie lächelt ihn an. “Du Dummkopf glaubst vielleicht, ich würde nun eifersüchtig!? Nein, ich habe mich an deine ungewöhnliche Liebeserklärungen gewöhnt. So sehr, dass ich keine andere mehr hören will. Ich bin stolz und froh, dass Susanne am Schluss dieser Reihe steht. Ich bin der große Punkt, die anderen waren ja nur kleine Kommatas. Du Dummkopf, ich liebe dich!”

Ich finde, sie sollten bald heiraten. Davor haben sie eine ganz wunderbare Scheu: Sie glauben sich noch nicht auf ihre Liebe verlassen zu können. Sie wollen nicht auf Worte bauen, sondern auf Wahrheit, wollen die Wahrheit wissen und fühlen.
Sie müssen mich als Wahrheit erkennen, noch gebrauchen sie Bilder für mich: Ich bin weder ein Ideengebäude, noch ein Engel oder Hirte und schon gar nicht nur ein Märchen. Mich zu einem Märchenonkel machen…! Zu wenig der Ehre! Die Sache ist doch ganz einfach: Ich bin da! Ich führe und warte.
Einmal glauben die Menschen, sie werden nur gelebt. Sie lassen mich zu sich und empfinden es wie eine Gnade, die sie unerwartet trifft. Das sind schöne Augenblicke. Dann gibt es die anderen schönen Augenblicke, die sie selbst und einander zu danken haben, dann meinen sie stolzbewegt, dass sie ihr Leben selbst leben und auf Unsereins verzichten können.
Beides, ihr Lieben. Ewig lebendige Wechselbeziehungen. Ohne mich seid ihr nicht denkbar und ohne euch kein Wir. Mein guter Wille genügt nicht. Wenn ihr einen schlechten Willen habt, bin ich machtlos, wie ein Hirte ohne Schafe, wie ein Engel ohne Menschen.

Morgens küssen sie einander die Augen. Das Auge ist durch den Kuss des geliebten Du geschützt, es sieht die Dinge im Tageslauf reiner und klarer, es leuchtet stärker in die Welt hinein.

“Alles, was du heute sehen wirst, ist geküsst, mein guter Mensch.” sagt er dann.

Spät in der vergangenen Nacht hielt ich die Stunde für gekommen, sie danken zu lehren. Sie danken nicht nur einander, sondern auch für das gemeinsam empfangene Geschenk: sie beten, schönster Dank menschlicher Seele. Die Arme beugen sich einander zu. Vier Hände – die schriftgefüllten Flächen dem Auge zugewandt – suchen, finden ihresgleichen, falten sich ineinander, eine vielfach gekreuzte Welt inmitten von unmessbarer Art. Und zu mir strömt es über mich hinaus…

Heute waren wir…

Nein, es ist ein so mächtiges Schneegestöber, dass ich im Moment nicht weiterschreiben kann.

***

Märchen für den Montag – Wie einer auszog, das Gute und Schöne zu suchen
… für den Dienstag – Märchen in der Müllerstraße
… für den Mittwoch – Prinz, Prinzessin und Bär
… für den Donnerstag – Philosophie einer Liebe
… für den Freitag – Wie Märchenbriefe gewechselt werden
… für den Sonnabend – Der Bär kann auch gut sein
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