Kommen und Gehen – Bild 1

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Kommen und Gehen – Erstes Bild

Zur Gestaltung des Bühnenraums

Die fünf „Fensterszenen“ sollen Übergänge sein. Bezüglich ihrer Gestaltung sind dem Findergeist keine Schranken gesetzt.

Für die übrigen fünf Szenen denke ich mir die Wirkung am stärksten, wenn die Bilder gut ausgeleuchtet in einem schwarzen Raum stehen, in sich jedoch vollkommen naturalistisch. Das übliche, mit dem Bühnenrahmen abschließende Bild würde die einzelnen Szenen zu kompakt und gewichtig machen; eine deutliche Stilisierung würde ihnen den durchaus beabsichtigten naturalistischen Charakter nehmen.

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Bühnenbild von Rolf Christiansen

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Erstes Bild

Treppenfenster in einem Bürohaus.

SIE (ist jung und hat anscheinend nichts anderes zu tun, als aus dem Fenster in den blauen Himmel zu schauen.)
Sehen Sie die Lerche dahinten? Wie sie in den Himmel fliegt? Jedes Jahr habe ich das Gefühl, als sei der Himmel noch blauer als im vorigen Frühling. Aber das ist sicher eine Täuschung. Wenn man den Himmel als leuchtende Glocke betrachtet, dann fühlt man sich eigentlich ganz geborgen in dieser Welt. Jetzt ist die Lerche schon ganz klein. Ich würde wohl gerne mal ein Märchen lesen, in dem es keine Vogelleichen gibt. Da fliegen die Vögel, wenn ihnen zum Sterben zumute ist, direkt in Gottes offene Hand, irgendwo da im blauen Himmel.

Nein, sicher ist der Himmel in jedem Frühling so blau, wie diesmal, im Jahre 1939. Da beginnt nämlich dieses Spiel „Kommen und Gehen“. Ich bin die Hauptdarstellerin und heiße Eva. Vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gehört. Außer mir spielt noch Peter mit, aber das haben Sie ja wohl schon aus dem Programmzettel ersehen, dass es ein Zwei-Personen-Stück ist. In wenigen Augenblicken werden wir uns kennenlernen. Wir haben uns viel vorgenommen: wir beide wollen in diesem Spiel ein Stück von der Gegenwart auf die Bühne stellen. Zwei Personen, werden Sie fragen? Das klingt seltsam im Zeitalter der Massen und Millionen, nicht wahr? Aber was ist denn diese Masse? Das sind doch nur lauter Menschen, um nicht zu sagen – lauter Liebespaare…

Jetzt habe ich doch die Lerche aus den Augen verloren. Ich sah den Beginn ihres Fluges, da drüben auf der Wiese im Park. (Spielt mit ihrem Ring). Erst hob sie sich ab vom jungen Grün der Bäume, dann vom alten Blau des Himmels. (Der Ring entfällt ihr.) Hoppla!

ER (taucht am Fenster auf. Er ist auch jung und hält ihr den Ring entgegen.)
Bitte sehr.

SIE
Oh, vielen Dank. (mondän liebenswürdig.)

ER (will gehen, wendet sich zurück:)
Ach, Sie sind das.

SIE
Ja, ich bin das.

ER
Kennen wir uns nicht?

SIE
Ein etwas plumper und alter Annäherungsversuch.

ER
Nein, anders. Ich habe Sie von da drüben gesehen, wie Sie Monologe in den Himmel hielten, und fand, Sie sollte lieber – Dialoge in den Himmel halten.

SIE (schaut ihn strafend-belustigt an.)

ER
Außerdem sah ich eine Lerche in den Himmel fliegen.

SIE
Ja, dann haben Sie allerdings recht: dann kennen wir uns wirklich. Und wissen Sie, woher?

ER
Nein.

SIE
Von der Lerche.

ER
Wie bitte?

SIE
Von der Lerche. Auf jener Lerche haben sich unsere Blicke getroffen.

ER
Vielleicht haben Sie eine ganz andere Lerche gesehen?

SIE
Sie sind ein bisschen unpoetisch, junger Mann. Bei solchem Frühlingswetter gibt es gar keine andere Möglichkeit, als dass sich unsere Blicke auf der gleichen Lerche trafen, auch wenn es zwei verschiedene waren.

ER
Sie haben anscheinend nichts anderes zu tun, als unlogische Behauptungen aufzustellen.

SIE
Ich glaube, dass Unlogik bei Frauen ein Reiz und kein Fehler ist.

ER
Oh. (Schaut sie an.)

SIE
Sie haben aber anscheinend nichts anderes zu tun, als Mädchen und Lerchen zu beobachten.

ER
Oh doch, ich musste auf meinen Chef warten. Von mir soll in der Abendausgabe ein Feuilleton über den Frühling erscheinen. Mein erstes Gedrucktes…

SIE
Na, wenn Sie ein Dichter sind, dann müssen Sie doch die Unlogik der Frauen – besonders im Frühling – in Kauf nehmen.

ER

Tu‘ ich auch, selbst wenn ich mich nicht als Dichter bezeichnet hören möchte. Würden Sie mir das mit der Lerche noch einmal erklären? Vielleicht kann ich es beruflich mal verwenden.

SIE
Dann bekomme ich aber Prozente!

ER
Wenn wir dann nicht schon in Gütergemeinschaft…. (Bricht ab).

SIE
Also, passen Sie auf! Durch unser gemeinsames Leben…

ER (unterbricht sie:)
Wieso gemeinsames Leben?

SIE
Schließlich scheint auf Sie die gleiche Sonne, wie auf mich.

ER
Wenn Sie das unter gemeinsamem Leben verstehen: dann allerdings.

SIE
Lassen Sie mich ausreden. Sie sehen das gleiche junge Grün seit heute morgen, den gleichen blauen Himmel…

ER (unterbricht:)
Der wie einen Käseglocke uns umgibt.

SIE
Ich empfand den Himmel auch wie eine Glocke. An Käse dachte ich dabei weniger.

ER 
Ich bin ein Realpolitiker

SIE
Bitte werden Sie mir nicht unsympathisch! Ich kann weder Realisten noch Politiker leiden.

ER
Wen können Sie denn leiden?

SIE
Sympathisch sind mir vor allen Dingen Männer, die mich nicht immer unterbrechen.

ER
Das ist ein bisschen viel verlangt.

SIE
Von Ihnen anscheinend wirklich. (Überlegt:) Was wollte ich eigentlich sagen?

ER
Sie wollten erklären, wieso sich unsere vier Blicke auf zwei Lerchen trafen, da diese doch nur eine war.

SIE
Das verstehe ich nicht.

ER
Ich fand es ja auch recht unlogisch.

SIE
Ach ja: ich sagte, dass auf Sie der gleiche blaue Himmel scheint –

ER
Dann kam meine Bemerkung mit dem Käse.

SIE (mit indigniertem Blick:)
Und dann betonte ich meine Sympathie für Männer, die mich nicht unterbrechen. Sonst –

ER (unterbricht:)
Ich erinnere mich…

SIE
Sonst stehen wir noch hier, wenn der Sternenhimmel über uns ist.

ER
Und das Gesetz in uns.

SIE
Herr, wenn ich Ihren Namen wüsste, würde ich Sie jetzt anbrüllen.

ER
Das war Kant. Ich heiße Peter.

SIE
Zum Anbrüllen und da wir uns noch Siezen –

ER
Wohlgemerkt: noch!

SIE
– brauche ich den Nachnamen.

ER
Den verschweige ich, weil ich nicht angebrüllt werden möchte. Peter reizt im Allgemeinen nur Zärtlichkeiten.

SIE
Im Allgemeinen vielleicht…

BEIDE (tauschen einen langen Blick und lächeln dann).

SIE (Leise:)
Auf uns scheint seit heute morgen der gleiche blaue Himmel – (Entdeckt auf der Straße ein Kind.) Schauen Sie, das Kind da unten. Ist es nicht süß? Jetzt läuft es. So klein und läuft schon. Das muss ich aus der Nähe sehen. Kommen Sie. (Geht.)

ER
So haben wir uns damals kennen gelernt. Ich hatte sie gleich von Anfang sehr lieb. Ich bin ihr damals natürlich gleich nachgelaufen. Bei dem Kind fand ich sie wieder. Sie erzählte ihm etwas von Blumen und Frühling. Sie liebt Kinder sehr. Ja… und abends im Park, da hat sie mir dann die Sache mit der Lerche erklärt. Der Flieder duftete… den Männern im Parkett sei es vertrauensvoll gesagt: es war ziemlich unlogisch; und den Frauen vertrauensvoll: aber wunderschön. Ich habe es bis heute noch nicht ganz verstanden. Aber ich wusste dann schon, was sie meinte – und war ganz ihrer Meinung.

Na, und Sie können sich ja sicher auch Ihr Teil denken. Da ist doch keiner im Parkett, der nicht schon einmal verliebt war. Und wer es noch vor sich haben sollte: umso besser für ihn. Naja… Wir sahen uns öfter und wurden ein richtiges Liebespaar. Aber die Zeit war damals für Liebespaare nicht besonders günstig. Es kam ein Tag, an den sich alle erinnern werden: der erste September 1939. Einer der schwersten Tage für alle Liebespaare in aller Welt. Ja, und nun wird es ein Kriegsstück. In den ersten Septembertagen spielt das nächste Bild. Damals, als das Kommen und Gehen für Eva und mich und für Millionen andere begann.

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Zu Kommen und Gehen

Claudia zur hiesigen Veröffentlichung

Presseschau und Zuschauerbriefe von damals

Autobiografischer Monolog von 1947 – Das Stück “Kommen und Gehen” berichtet

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