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M Ö G L I C H K E I T E N
Ein Stück Theater
von
Peter Podehl
Alle Rechte beim Verfasser
Peter Podehl
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ES KOMMEN VOR
Würfelbechermann
Ein ziemlich seriöser Herr
Ein energischer Mann
Eine Frau
Ein anderer Herr
Eine Betriebsnudel
Eine andere Frau
Empore
Hellsinn
Frau Hellsinn
Ein Bauer
Ein Redner
Ein Dirigent
Ein Führer
Ein Minister
Eine Ministergattin
AT 621 weiblich
Die Mutter
GN 4 männlich
Ein Polizist
Ein Verkäufer
Erste Stimme
Zweite Stimme
Dritte Stimme
Stimme von oben
Charlotte
Ich
I Vorbemerkung
/Wir müssen eine Gemeinschaft von mindestens sieben Menschen werden, um dieses Stück aufführen zu können. Die Rollen würden dann folgendermaßen verteilt:
1 Ein Würfelbechermann
2 Ein ziemlich seriöser Herr
3 Ein energischer Mann
Dritte Stimme
Ein Führer
Ein Polizist
Ein Dirigent
4 Eine Frau
Die Mutter
Eine Ministergattin
Frau Hellsinn
Eine Stimme von oben
5 Eine Betriebsnudel
GN 4 männlich
Zweite Stimme
Ein Bauer
Ein Redner
Ein Verkäufer
6 Eine andere Frau
Empore
AT 621 weiblich
7 Ein anderer Herr
Hellsinn
Ein Minister
Erste Stimme
Es kann auch ein größeres Ensemble ans Werk gehen, was insbesondere für die Gestaltung der unter 5 aufgeführten Rollen erleichternd wäre. Die Rollenpaare Empore – AT621 weiblich; Eine Ministergattin – Frau Hellsinn; Hellsinn – Ein Minister; m ü s s e n von e i n e m Menschen dargestellt werden.
Es ist also offensichtlich, dass wir auf Kostüm und Maske besonderen Wert legen müssen. Sie müssen schnell und deutlich charakterisieren und leicht wechselbar sein. Obwohl das Stück in der Zukunft spielt, sollten wir Kostüme von heute tragen, in entsprechender Pointierung.
Wir spielen auf einem viereckigen Podest, das eventuell nach vorne etwas geneigt ist. Der Raum davor bleibt hauptsächlich dem Würfelbechermann und dem ziemlich seriösen Herrn vorbehalten. Nicht viel mehr als das Podest hätte ein leichter Vorhang während der Umbauten zu verdecken. Was wir an Dekorationsstücken und Möbeln brauchen – es soll möglichst wenig sein – steht auf dem Podest oder lehnt daran.
***
*
II – Einleitender Anfang
/ Der allgemeine große Vorhang öffnet sich. Unser leichter Vorhang ist offen. Im erlöschenden Licht des Zuschauerraums erkennt man nur ein unordentliches Durcheinander von Dekorationsteilen, Möbeln und Requisiten auf dem Podest. /
II, 1
WÜRFELBECHERMANN
(Trägt Hose und Pullover und hat einen Würfelbecher umhängen, kommt nach einer kurzen Spanne völliger Dunkelheit mit einer Kerze in der Hand über das Podest, spähenden Gesichtes, wie es Kerzenträgern eigentümlich ist, stolpert über eine Latte und reißt mit ziemlichem Getöse etwas um.) Au! (Kommt vorsichtig vor und springt von dem Podest.) Entschuldigen Sie, ich konnte den Schalter nicht finden. Ich kann kaum etwas erkennen. Hoffentlich sehen Sie ein bisschen was von mir. (Verlegen:) Das mit dem Licht ist bloß, weil … Das ist nämlich alles… Es ist jedenfalls sehr problematisch. Ich habe Ihnen nämlich was mitzuteilen. Ja, wenn es etwas angenehmes wäre, dann könnte ich’s ja rundweg heraussagen… Aber so – möchte ich es doch ein wenig schmackhaft verzieren und – da gibt es so viele Möglichkeiten. So. Na, wenigstens wissen Sie jetzt schon, dass es sich um etwas Unangenehmes handelt. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind und … Leider kann ich das Gleiche von uns nicht -äh… Nun merken Sie vielleicht schon, dass hier etwas nicht stimmt. Was ich Ihnen hier sage, das steht nämlich alles nicht in meiner Rolle. Meine Rolle in diesem Stück Theater, das ich – wir hier spielen wollen – wollten, ist der Würfelbechermann. Hier ist der Würfelbecher. Ich bin der Mann. Und ich würfle, drehe um und heraus fällt nichts. So ungefähr ist meine Lage. Wie ein Engel ohne Flügel stehe ich da. Im Ernstfall wären natürlich Würfel drin im Becher…. also, die Sache ist die: … Aber daran liegt es im Grunde nicht. Es liegt im Grunde… Es ist eigentlich sehr traurig und beschämend. Dabei ist es menschlich durchaus zu verstehen. Wenn auch… Äh – Sie denken jetzt sicher, ich sei ein bisschen … Na, es ist aber auch, wissen Sie… (Rafft sich schließlich zusammen:) Ja also, wir haben einen schönen, handfesten, großen Krach gehabt. Wir haben uns (Schaut in den Würfelbecher:) zerwürfelt – äh: zerworfen. Das Unternehmen ist geplatzt und auseinander gelaufen. Ich bin übrig geblieben, mit dem Gepäck und den Sorgen. Sogar Lieschen, meine Freundin ist…, Na, lassen wir das. Ich möchte nun folgendes vorschlagen: Ich erzähle Ihnen jetzt das Ganze. Meinen eigenen Text, den kann ich ja dann richtig spielen. D.h., natürlich auch nur, wenn es sich um Monologe handelt und … Naja, das Ganze wird natürlich etwas fragmentarisch und ramponiert abrollen. Ich weiß selber noch nicht genau, wie… Ja, also das ist mein Vorschlag. Ich möchte das nun nicht diktatorisch durchführen, sondern mehr … demokratisch. Vielleicht haben Sie etwas dazu zusagen, meine Damen und Herren?!
ENERGISCHER MANN
(Im Publikum:) Ja, mir gefällt das Ganze nicht.
WÜRFELBECHERMANN
Da wir – also vielmehr: ich – erst am Anfang stehen – stehe, können Sie noch gar nicht wissen, ob Ihnen das G a n z e gefällt oder nicht. Ich fragte auch nur, ob Sie Vorschläge haben, was nun werden soll.
ENERGISCHER MANN
Nein, das nicht. Aber es gefällt mir nicht.
WÜRFELBECHERMANN
Hm. Andere Vorschläge, Wortmeldungen…?
EIN ZIEMLICH SERIÖSER HERR (Im Publikum)
Ja, vielleicht darf ich vorschlagen, dass Sie endlich Licht machen und uns gehen lassen.
EINIGE (Im Publikum)
Jawohl. – Skandal. – Sehr richtig.
/Licht geht an auf der Bühne./
WÜRFELBECHERMANN
Bitte. Man hat inzwischen den Schalter gefunden. Das von Ihnen geforderte Licht ist angegangen. Ich kann das meine ausblasen. (Tut es.) Tja, und damit könnten wir eigentlich die Veranstaltung beenden. Möchte vielleicht noch Jemand etwas sagen?
EINE FRAU (Im Publikum)
Ja, ich stimme mit meinem Vorredner insofern überein, als er mit vollem Recht elektrisches Licht verlangte. Ich unterstütze jedoch nicht seinen Vorschlag, dass wir alle gehen sollen.
EINIGE (Im Publikum)
Finde ich auch. – Sehr richtig. – Bravo!
EINE BETRIEBSNUDEL (Im Publikum)
Wenn Sie wenigstens ein Lied singen oder Mundharmonika spielen könnten.
EINE ANDERE FRAU (Im Publikum)
Ja, das wäre fein.
DIE BETRIEBSNUDEL
Was sagen die anderen verehrten Anwesenden zu einem bunten Programm?
WÜRFELBECHERMANN
Moment mal! Ich allein – das wird kein buntes, das wird ein ziemlich einfarbiges Programm!
DER ENERGISCHE MANN
Ich schlage vor, wir schreiten zur Selbsthilfe. Ich singe Bass! (Geht zur Bühne.)
DIE FRAU
Und ich tanze besonders gut Tango. (Geht auch zur Bühne, zieht Hut und Mantel aus und gibt sie dem Würfelbechermann.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Großartig! Und ich kann Goethe rezitieren. (Geht auch zur Bühne.)
DER ENERGISCHE MANN
Na also. Kann vielleicht jemand schublattlern? (Gibt Hut und Mantel dem Würfelbechermann.)
EIN ANDERER HERR (Im Publikum)
Nein, aber Klavierspielen, falls ein Instrument da ist. (Geht auch zur Bühne und gibt Hut und Mantel der Würfelbechermann.)
DIE ANDERE FRAU
(Tut, was nun offenbar schon als obligatorisch gilt und…) Das wird richtig gemütlich!
DIE BETRIEBSNUDEL
(Fehlt natürlich nicht beim Sturm auf die Bühne.) Ich erzähle Witze und könnte vielleicht mit der Dame Tango tanzen, obgleich Walzer eher mein Fach ist.
WÜRFELBECHERMANN
Und ich?
DER ENERGISCHE MANN
Sie könnten froh sein, dass die Sache so gut abläuft.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Hat auch Hut und Mantel dem Würfelbechermann übergeben.) Sie schreiben genau auf: Name, eventuell Künstlername und was Jeder kann.
DIE BETRIEBSNUDEL
Und dann machen wir ein feines buntes Programm!
WÜRFELBECHERMANN
(Laut:) Halt!
DIE ANDEREN
(Erstarren in atemloser Spannung.)
WÜRFELBECHERMANN
(Zum Publikum, in grotesker Kostümierung, mit den Kleidungsstücken:)
Wie stehe ich da? Nicht in Hut und Mantel, sondern in Hüten und Mänteln, wie ein Kleiderständer.
(Dreht sich einmal um sich selbst, hat auf dem Rücken ein Schild “Garderobe auf eigene Gewehr!”) Und wie stehen die anderen da? Erstarrt, festgefahren, in tote Bewegung, wie gewollt, aber nicht gekonnt. Der Herr, der Goethe rezitieren wollte, die Tango tanzende Dame. Der Mann mit dem bunten Programm. Wenn sie lange so stehen, werden sie Krämpfe bekommen und Schmerzen leiden und die Angst wird sie wie steigende Wasser umgeben, in sie dringen und sie nicht mehr verlassen – wie das Blut den Körper nicht verlassen kann ohne Wunde. (Geht von einem zum anderen.) Ist diese Geste schön? Ist diese Ecke wert, von Ihren Augen so angestarrt zu werden, meine Dame? Aber mein Herr, wollen Sie wirklich mit dieser Falte in die Ewigkeit eingehen? (Wieder zum Publikum:) Wonach schreit dieses Panoptikum? Nach Erlösung, nach Bewegung, nach erlösender Bewegung, nach bewegender Erlösung. Und darum, meine Damen und Herren, machen wir Schluss mit dem Scherz.
DIE ANDEREN
(Atmen hörbar erleichtert aus, nehmen etwas verdattert die Kleidungsstücke und gehen.)
/Vorhang zu.Umbau./
***
II, 2
WÜRFELBECHERMANN
(Vor dem Podest.)
Ja, es war ein unverbindlicher Scherz ohne ernste Folgen. Er ist vergangen, wie alles auf dem Theater vergeht. Der Würfelbechermann liebt solche Scherze. Er freut sich besonders, Ihnen mitteilen zu können, dass wir nun ernsthaft anfangen werden. Aller Anfang ist schwer – oder leicht? Jetzt habe ich doch das Sprichwort vergessen! (Denkt nach:) Ist – schwer. Richtig: Aller Anfang ist schwer. Naja, auf die bürgerlichen Sprichwörter ist nach so vielen Kriegen sowieso kein Verlass mehr. Zum Beispiel nur als Beispiel: Aller Anfang ist schwer und das dicke Ende kommt nach. Da kann man ja gleich Selbstmord machen und sich erseufzen. Sagen wir also: Aller Anfang ist schön –
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt mit einem schön gebundenen Buch in der Hand.)
WÜRFELBECHERMANN
– wenn man nicht gestört wird.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Beginnt zu rezitieren:)
Edel sei der Mensch,
hilfreich und gut –
WÜRFELBECHERMANN
Moment, Moment! Was ist denn?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich hätte jetzt gern rezitiert.
WÜRFELBECHERMANN
Aber das passt doch jetzt gar nicht!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Aber ich möchte jedenfalls keinesfalls vergessen werden. Es ist ein besonders schönes und zu beherzigendes Gedicht von Goethe. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Aller Anfang – wie gesagt: schön! Wenn dieses Stück anfängt, haben Sie die Möglichkeit, aufzuhören, Herr und Frau Sowieso zu sein. Der Würfelbechermann (Gesteigert:) verzau- verzau- verzaubert Sie zu lauter kleinen, unschätzbar wertvollen Teilchen unseres hochverehrten ganzen Publikums. (Verbeugt sich.) Ich nehme alle Ihre Namen auf mich und finde, dass wir nun wirklich anfangen sollten.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Schaut durch den Vorhang.) So. Wir können anfangen.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, dann fangen wir doch an mit der Kellerwohnküche. (Hilft, den Vorhang aufzuziehen und verschwindet.)
***
III – Kellerwohnküche
/In ziemlich düstere Beleuchtung erkennt man die Ecke einer Kellerwohnküche. In der Ecke selbst ein Herd mit einem großen Topf, in dem die MUTTER rührt. Weiter vorn auf eine Schemel hockt AT 621 WEIBLICH, in Schmerz gekauert. Sie trägt Trainingshosen unter einem billigen Rock, grobe Schuhe und ein reizloses Kopftuch. An den Wänden sind menschliche Figuren, grau und gespenstisch, mit Essnäpfen in der Hand./
III, 1
MUTTER
(Deutet auf die Figuren)
Alle Die denken genau so. Die essen ihr bisschen und sind still. Du musst Schluss machen. Ein Mann, wie dieser GN 4, der dich in solche Unannehmlichkeiten bringt, ist nicht für uns. Du heißt nicht Empore, also braucht er dich auch nicht so zu nennen. Dein Vater sagte, als er umkam, dass man sich auf dieser Welt nicht aufregen soll. Das waren seine letzten Worte. Er konnte Schmerz nicht leiden, und kam mit seinem Leben zurecht. Das ist wichtig.
AT 621 WEIBLICH
Ja. (Still:) Was soll ich denn tun?
MUTTER
Lügen! Du hast ihn nie geliebt. Er hat nie Empore zu dir gesagt. Sie nehmen uns sonst diesen Keller weg und bestrafen uns. Denke an diese Flüchtlinge! Sie wissen dann nicht, wo sie essen sollen. Wenn du nicht lügst und widerrufst, dann stoße ich dich aus diesem Keller auf die flache Erde, und die Flüchtlinge werden um die Löffel Suppe voller, die du gegessen hättest: – nein, ich bekomme ja dann deine Marken nicht mehr… Ich koche hier und tue, was ich kann, und du machst solche Sachen. Dein Vater hätte dich verhauen.
AT 621 WEIBLICH
Ja.
MUTTER
Ich konnte diesen GN 4 nicht leiden. Er redete immer so verzweifelhaftes Zeug zusammen. Wo ist er überhaupt?
AT 621 WEIBLICH
Ich weiß nicht. Irgendwo auf der Flucht.
III, 2
GN 4 MÄNNLICH
(Steht einsam, arm gekleidet in einem Lichtkegel.) Und die Verzweiflung hörte nicht auf, wenn die Sonne schien und sie blieb, wenn es regnete. Und als die letzte Kleiderkarte verfiel, waren noch 287 Punkte daran. Alles verfallen. Wie machen es bloß die anderen? In jedem Krieg werde ich regelmäßig magenkrank, weil ich das Fressen nicht vertrage. Ich wollte malen. Aber die Hände hielten den Pinsel nicht. Sie waren gewehrgewöhnt. Und alles Papier war bedruckt mit Zeitungen, die Leinwand für Transparente verbraucht. An ein Mädchen bin ich eines Tages gestoßen. Sie war nahe meiner Liebe. Ich nannte sie Empore, weil ich sie darüberstehend haben wollte. Das ist verboten. Man macht sich ja gar keine Vorstellung, wie verboten die Phantasie ist. Es hörte einer und meldet es. Nun bin ich verstoßen aus der schlechten Gemeinschaft. Es ist alles nichts mehr..(Verschwindet im erlöschenden Licht.)
III, 3
MUTTER
Wenn’s verboten ist, soll er’s lassen. Solche Aufregungen brauchen wir nicht. Soll dich lieb haben, braucht dich nicht auch noch Empore nennen. Soll dich mit deinem Namen AT 621 nehmen und gut. Was heißt Empore überhaupt?
AT 621 WEIBLICH
Etwas Höheres.
MUTTER
Ich war so froh, dass du einen Mann hattest. Nun sowas. … Nun geh. Geh zur Polizei und widerrufe alles, was sie verlangen, lüge alles, was du kannst. Dann hast du nichts mehr mit ihm zu tun und alles ist gut.
AT 621 WEIBLICH
(Steht auf und geht langsam.)
MUTTER
(Hoffnungslos:) Kind, denk doch an den Sommer, da wird es wärmer sein, und im Frühling blüht alles wieder…
/Vorhang zu. Umbau/
***
IV
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor das Podest.)
Damit wollen wir es für den Anfang genug sein lassen. Ich habe Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu machen: In Zukunft ist alles möglich. Deshalb auch spielt unser Stück in der Zukunft und heißt “Möglichkeiten”. Was Sie soeben sahen, das war also in der Zukunft. Ich weiß nicht in welchem Jahr. Jedenfalls in keiner erstrebenswerten Zukunft. Aber das Stück hätte einen anderen Titel, wenn wir nicht noch eine andere Zukunft für Sie parat hätten – zur Abwechslung. Die wird jetzt da oben aufgebaut. Die Zukunft ist mithin eine Sache des Bauens. Auf einer Bühne ist so ein Aufbau natürlich etwas leichter als im wirklichen, richtigen Leben, weil man im Theater immer genau weiß, was kommt. Nun kommt: Wie Hellsinn und Empore am Wasser Frühstückspause machen. (Will gehen.) Zur Orientierung muss ich noch hinzufügen, dass es sich hier um eine echte Empore handelt. Ein Mädchen, das wirklich so heißt, nicht bloß so genannt wird. Sie müssen mir das bitte glauben, auch wenn Ihr Scharfblick erkennen sollte, dass die so Genannte und die so Getaufte von demselben Menschen dargestellt werden, – aus bestimmten Gründen. Also: Wie Hellsinn und die echte Empore am Wasser Frühstückspause machen. (Geht.)
***
V – Am Wasser
/Ein einfacher Landungssteg ragt in den Fluss. Eine Trauerweide schaut hinüber. Auf den Planken sitzen, beinebaumelnd und vielleicht auch stullenessend HELLSINN und EMPORE./
V, 1
HELLSINN
Empore, wohin blinzelst du?
EMPORE
Weit weg ins Weltall.
HELLSINN
(Blinzelt auch:) Wie winzig und unwichtig ist so ein Menschenpunkt im Weltall.
EMPORE
Winzig und wichtig.
HELLSINN
Man sitzt so auf einem Landungssteg wie am letzten Ende der Welt.
EMPORE
Du bist trüsterig und altmodisch. Bekanntlich beginnt am Ende jeder Welt eine andere.
HELLSINN
Siehst du, so spricht meine Frau nie mit mir.
EMPORE
Und wie sprichst du mit ihr?
HELLSINN
Es ist schön hier. Die Glockenweide … Ihre Äste hängen herab; sie sieht traurig aus.
EMPORE
Du siehst traurig in sie hinein.
HELLSINN
Und du siehst lustig in sie hinein. Wie gut wir einander ergänzen. (Lacht.)
EMPORE
Ich finde das nicht komisch. Was ist denn bloß los mit dir? Seit Tagen kann man nicht mehr ordentlich mit dir arbeiten. Den Bericht kannst du auch nicht so absenden.
HELLSINN
Welchen Bericht?
EMPORE
Den Vierteljährlichen über deine Ehe. Du hast mich darin erwähnt. Was habe ich mit deiner Ehe zu tun?
HELLSINN
Du spielst eine große Rolle in meinem Leben.
EMPORE
Ach, Unsinn! Dann müsste ich doch was davon wissen.!
HELLSINN
Leider weißt du eben nichts davon.
EMPORE
Du, ich mag über so etwas überhaupt nicht mit dir reden. Zwischen uns ist keine Spur von solch einer Liebe. Wenn dich etwas Derartiges beschäftigt, dann bring das mit dir selbst in Ordnung, aber sprich nicht so sentimental davon im Anblick dieser wohllebendigen Natur.
HELLSINN
Du bist ziemlich hart.
EMPORE
Mein Mitleid brauchst du nicht, weil du nicht leidest.
HELLSINN
Und deine Liebe?
EMPORE
Die braucht ein anderer.
HELLSINN
Wer?
EMPORE
Ich kenne ihn noch nicht. Mein Verständnis sollst du haben. Und mit dem Verstand frage ich dich: Warum willst du die Minister mit der Mücke behelligen, die du für mich empfindest?
HELLSINN
Ich muss doch wahrheitsgetreu berichten, was meine Ehe irgendwie beeinflusst.
EMPORE
Aber nicht von Mücken. Wenn die das nun ernst nehmen?
HELLSINN
Sollen sie. Sie werden trotzdem sämtliche Augen zudrücken. Jeder andere Minister wird abgesetzt, wenn seine Ehe nicht in Ordnung ist. Ich nicht! Bei mir sagen sie, dass das Ministerium für Geldabschaffung in dem Moment aufgelöst wird, wo das Geld abgeschafft ist. Ich kann berichten, was ich will; und wenn es zehn Ehebrüche sind. Ich bin keinem verantwortlich und brauche keinem dankbar zu sein. Ich bin nicht gewählt, sondern gebeten worden. Das Volk kümmert sich einen Dreck um mich. Und wenn ich das Geld abgeschafft habe, dann bin ich arbeitslos.
EMPORE
Du wirst einen anderen Posten bekommen.
HELLSINN
Oh nein! Dann werden die Herren Kollegen die Augen nicht zudrücken, sondern den Bericht genau lesen, und befinden, dass meine Ehe für einen staatlichen Posten nicht gut genug ist. Aber fürs Geld abschaffen – da war ich ihnen gut genug.
/Es klopft ein Specht./
HELLSINN
(Horcht gespannt und dirigiert mit kleinen Bewegungen.)
EMPORE
Was ist?
HELLSINN
Der Specht hat aus einer Suite von Bach geklopft.
EMPORE
(Versteht nicht:) Was?
HELLSINN
Die Paukenstimme. Die Triolen waren nicht ganz sauber. Ich war doch früher Pauker im großen Orchester.
EMPORE
Siehst du, – das weiß ich nicht einmal. Und da willst du mich in deinem Ehebericht erwähnen.
HELLSINN
Doch! Musst mal meine Frau fragen. Das war schön. Besser als Geld abschaffen. Das habe ich gern gemacht. Ich stand ganz oben hinten, direkt gegenüber dem Dirigenten.
EMPORE
Dann kannst du doch wieder Pauker werden, wenn das Geld abgeschafft ist.
HELLSINN
Tja, weißt du, nach meinem letzten Konzert habe ich gebeten, die Pauken zu mir in die Wohnung zu schaffen. Dabei ist eine die Treppe herunter gefallen und völlig zerbeult unten angekommen. Am nächsten Tag haben die etwas dümmlichen Hausfrauen sie als Mülleimer benutzt. Das habe ich symbolisch genommen.
EMPORE
Ich würde die Dümmlichkeit der Hausfrauen nicht als symbolisch nehmen.
HELLSINN
Und die andere Pauke habe ich mir gestern seitdem zum ersten Mal wieder angesehen. Das Fell hängt schlaff in sie hinein. Rost hat angefangen zu fressen, und den Schlüssel haben die Kinder beim Schlittschuhlaufen verbummelt. Das ist alles.
EMPORE
Alles kein Grund, weshalb du nicht wieder pauken solltest. Kannst du nicht im Geschäft eine neue bekommen?
HELLSINN
Eine Blockflöte oder eine Ziehharmonika kann ich bekommen, aber kein Geschäft gibt einem Hausmusiker eine Pauke. Mit Recht gibt es Pauken nur für Berufsmusiker.
EMPORE
Was machen wir denn da
HELLSINN
Nichts. Ich glaube, ich kann sowieso nicht mehr pauken. Das Geld hat mich unmusikalisch gemacht.
V, 2
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt mit seinem Buch und beginnt zu rezitieren:)
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut, –
WÜRFELBECHERMANN
(Stürzt vor:) Mensch, nicht doch jetzt! Später!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Aber ich möchte jedenfalls in dieser Zukunft rezitiert haben. Sie erscheint mir angenehm. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
(Bleibt am Podestrand sitzen.)
EMPORE
Dein Junge hat mir neulich gesagt, du wärst kein Vater für Kinder. Das ist eigentlich ziemlich schlimm, nicht? Hast du mit deiner Frau gesprochen?
HELLSIN
Ja.
EMPORE
Ja? Sprechen ändert oft wenig.
HELLSINN
Ich muss das Geld so schnell als möglich abschaffen. An jedem Schein, an jeder Münze klebt der Dreck von Tausend Jahren. Wechsel, Betrug, Verbrechen, schlechter Tausch, Zinsen, schwarzes Pulver, weißes Pulver, Judaslohn, Abtreibung, Kinder im Bergwerk. Das bleibt alles an meinen Fingern haften.
EMPORE
Es ist gar nicht gut, dass du bei der Arbeit so viel mit mir zusammen bist.
HELLSINN
Was tust du, wenn die Arbeit getan ist?
EMPORE
Ich werde lieben. Bis dahin habe ich meinen Mann gefunden.
(Entdeckt den Würfelbechermann.)
HELLSINN
Und wohin blinzelst du jetzt, Empore?
EMPORE
Da sitzt ein Mann.
HELLSINN
Wo?
EMPORE
Da drüben, am anderen Ufer.
HELLSINN
(Hat ihn auch entdeckt.) Der sieht aber ziemlich altmodisch aus. He du! Was machst du denn da?
WÜRFELBECHERMANN
(Fühlt sich ein wenig ertappt.) Ich? Äh… Ich schaue Ihnen zu. Es ist sehr interessant.
EMPORE
(Zu Hellsinn:) Geh, das habe ich aber gar nicht gern.
HELLSINN
Ich auch nicht. Dann gehen wir. (Steht auf und geht.)
EMPORE
(Folgt ihm.) Du musst bald wieder pauken.
/Vorhang zu. Umbau./
***
VI
WÜRFELBECHERMANN
(Von seinem Sitz aus:)
Schade, jetzt habe ich sie vertrieben. Das Mädel gefällt mir, die ist süß. Nee, das passt gar nicht auf sie. (Leicht romantisch:) Empore, Mädchen aus der Zukunft. Klingt wie’n schlechter Schlager. Bezaubernd – oder vielmehr: charmant. Oder noch besser: reizend. Nein, da stimmt alles nicht. Mir fehlen die Worte, wie sie ist. Die muss ich kennen lernen. Und wenn Lieschen schimpft. In die Zukunft muss ich reinsteigen. Die hässliche Zukunft, – da möchte ich mich lieber fernhalten. Die wollen hier das Geld abschaffen…. Lächerlich! Wie wollen die denn dann bezahlen? Aber wie die so mit ihm geredet hat, und wie die so dasaßen. Eigentlich gar nicht so viel anderes, als wir hier in der Gegenwart. Bloß die Trauerweide nennen sie Glockenweide, und die Minister müssen nicht nur ihre Arbeit tun, – die müssen auch noch eine gute Ehe führen. Wenn’s bei denen zuhause nicht liebevoll zugeht, werden sie abgesetzt. Naja, das ist natürlich Zukunftsmusik. In der Zukunft ist – wie gesagt, – viel Musik möglich. Die andere Tonart ist aufgebaut. Die Würfel fallen. Man könnte einen Gong hauen. (Imitiert einen Gong:) Bong.
***
VII
/Das Licht geht aus./
WÜRFELBECHERMANN
Nanu, was ist denn los?
/Das scharfe Licht eines Scheinwerfers wandert im Folgenden blendend durch den Zuschauerraum./
ERSTE STIMME
Aber der Kerl muss doch irgendwo zu finden sein!
ZWEITE STIMME
Da ist er
ERSTE STIMME
Wo? Welcher?
ZWEITE STIMME
Da rechts von der Dame mit der braunen Handtasche.
ERSTE STIMME
Ach, Quatsch! Guck dir doch den Steckbrief richtig an und verdächtige nicht harmlose Theaterbesucher!
ZWEITE STIMME
Harmlos ist keiner.
DRITTE STIMME
Wen sucht ihr denn?
ERSTE STIMME
Den GN 4, der seine Olle “Empore” genannt hat. Dabei war sie eine ganz gewöhnliche AT 621 WEIBLICH.
ZWEITE STIMME
Den finden wir nicht.
ERSTE STIMME
Hier im Theater ist er jedenfalls nicht.
/Der Scheinwerfer erlischt. Vorhang auf./
Wie aus einem Automaten fallen dabei immer Goethes Verse aus seinem Mund…
***
VIII – Führerzimmer
/Hochmodern, geleckt geschmackvoll, breit. Sehr un-Gemüt-lich und ungefügt (nicht ungefügig). Die MINISTERGATTIN sitzt in einem Sessel. Sie trägt sich kitschig, in einer Mischung aus Eleganz und Volkstum. Der FÜHRER steht mit einem Glas in der Hand da./
VIII, 1
FÜHRER
(Zum abgehenden Würfelbechermann:) He, Sie! Kommen Sie her!
WÜRFELBECHERMANN
(Verdattert:) Ja, aber ich… (Will gehen.)
FÜHRER
Gehorsam verweigern, was? Herkommen!
WÜRFELBECHERMANN
Jawohl. (Geht hin.)
FÜHRER
Wie sehen Sie denn aus? Uniform?!
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich bin ja von früher.
FÜHRER
Ach so, – Maskenfest. Recht so, tobt euch nur aus! Bald habt ihr sowieso nichts mehr zu feiern.
WÜRFELBECHERMANN
Jawohl.
FÜHRER
Gehen Sie ins Gefängnis. Wenn der GN 4 männlich eingeliefert wird, – sofort zu mir melden. Na los!
WÜRFELBECHERMANN
Jawohl. (Geht leicht verdattert.)
VIII, 2
FÜHRER
Entschuldigen Sie, Holdeste, aber die hohe Politik verlangte mich.
MINISTERGATTIN
Aber mein Führer, ich wäre untröstlich traurig, wenn Sie meinetwegen die hohe Politik vernachlässigen würden. Sie ist wichtiger als die Frauen.
FÜHRER
Oh, nein. Sie wären es gewiss wert, sich in einem Rausch einmal zu vergessen.
MINISTERGATTIN
Ich wäre ausgezeichnet vor Millionen von Frauen aus dem Volke, die sich nach deinen Armen sehnen, mein Führer. Mein Mann ist ein Popanz.
FÜHRER
Er versteht nichts von Politik, – wie soll er da etwas von Frauen verstehen? Erst die ideologische Synthese jeglicher Handlung der Existenz macht Männer sowohl als auch Geschichte.
MINISTERGATTIN
Hier ist die Wahrheit ausgesprochen. Er ist ein Popanz.
FÜHRER
(Umarmt sie.) Oh, Sie sind hübsch gebaut.
MINISTERGATTIN
Unsagbares Glück beseligt mich, dass meine bescheidene Figur meinem Volksführer gefällt. Gefühl ist wenig, Rausch ist alles…
VIII, 3
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt mit einem Buch.)
FÜHRER
Was wollen Sie denn?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Goethe rezitieren.
FÜHRER
Überschrift?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Das Göttliche.
FÜHRER
Auf jeden Fall ändern.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Rezitiert.)
FÜHRER
Meine Dame, darf ich bitten, auch wenn die Zeit knapp ist. Goethe begleitet uns. (Verschwindet mit der Ministergattin hinter einem Vorhang.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Spaltet sich: der eine Teil rezitiert, sachlich richtig, mit falschem Gefühl, der andere schaut sich etwas verständnislos und fragend um.)
VIII, 4
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Um Gottes Willen, lassen Sie mich. Hier darf ich. (Fängt noch einmal an.)
WÜRFELBECHERMANN
Bitte, bitte. Wo ist denn -?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Deutet im Weiterrezitieren hinter den Vorhang.)
WÜRFELBECHERMANN
(Will hin.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Hält ihn zurück und schüttelt den Kopf. Wie aus einem Automaten fallen dabei immer Goethes Verse aus seinem Mund, immer routiniert richtig, wie es Unverständige beklatschen würden.)
WÜRFELBECHERMANN
Aber ich muss doch die Meldung machen!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Deutet mit einer unanständigen Geste an, was Führer und Ministergattin machen.)
WÜRFELBECHERMANN
Ach so!
GN 4 MÄNNLICH
(Erscheint wieder in einem Lichtkegel außerhalb des Zimmers.)
MINISTER
(Kommt eilends, trägt sich halb elegant, etwa ohne Krawatte, mit Homburg, sieht den rezitierenden Herrn, hört zu.) Ach, Goethe!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Nickt verständnisvoll im Weiterrezitieren.)
FÜHRER
(Kommt hinter dem Vorhang hervor.) So. Oh, welche Versammlung. (Zum Rezitierer:) Hören Sie zu: Die Überschrift wird geändert.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Rezitiert weiter.)
FÜHRER
Hören Sie doch auf!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Aber ich bin noch nicht fertig!
FÜHRER
Aber wir sind fertig. Also hören Sie doch auf.
MINISTER
Reizende Wortspiele, mein Führer.
FÜHRER
Das Gedicht kann bleiben. Ist ja auch Goethe. Überschrift wird geändert. Nicht “Das Göttliche”, sondern “Führervorbild”. So, nun können Sie gehen.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Jawohl (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Ich möchte melden, –
FÜHRER
Moment, erst mein lieber Minister. (Schüttelt ihm die Hände.) Mein Lieber, habe mir soeben erlaubt, Ihre Gattin zu be –
MINISTER
(Entzückt:) Reizendes Wortspiel, mein Führer.
FÜHRER
Im Übrigen habe ich überlegt, dass der Nihilismus bis zum Endsieg erkämpft werden muss.
MINISTER
Eine ideologische Notverständlichkeit, mein Führer.
FÜHRER
Der nächste Krieg wird unvermeidlich sein. Das Flüchtlingselend muss sofort zu einem Heldenepos umgestaltet werden.
MINISTER
Ich werde die Dichter entsprechend instruieren lassen. Habe soeben die großartigen neuen Bauten gesehen: Ich möchte sagen: Impokolossphänomenal!
FÜHRER
Werden wieder abgebaut. Die Stadt ist im nächsten Krieg nicht zu halten. Geld zum Abbau anweisen.
MINISTER
Geld spielt keine Rolle.
FÜHRER
So. (Wendet sich zum Würfelbechermann.) Sie!?
WÜRFELBECHERMANN
Melde, dass GN 4 männlich noch nicht gefasst wurde.
FÜHRER
Da steht er doch
WÜRFELBECHERMANN
Aber –
FÜHRER
Unfähig. Beförderung ausgeschlossen. Hauen Sie ab
WÜRFELBECHERMANN
(Geht.)
FÜHRER
(Geht, die Hände auf dem Rücken, langsam zu GN 4 männlich, um ihn herum und ins Zimmer zurück.)
MINISTERGATTIN
(Ist zum Minister gekommen.) Schnuckiputzipopanz.
MINISTER
Sei still, du benimmst wie –
MINISTERGATTIN
Nur keine Moralpauke, wir haben keine Moral mehr. Nur noch Pauken.
MINISTER
Trotzdem brauchst du nicht – (Bricht ab und grinst den auf ihn zukommenden Führer an.)
FÜHRER
(Steht breitbeinig GN 4 männlich gegenüber, jedoch eine Wand oder eine Tür zwischen sich und ihm. Laut:) GN 4 männlich, Sie haben ein Mädchen!?
GN 4 MÄNNLICH
Ja.
FÜHRER
“Jawohl” heißt das! Sie haben Sie “Empore” genannt?!
GN 4 MÄNNLICH
Ja.
FÜHRER
Wissen Sie, dass das verboten ist?
GN 4 MÄNNLICH
Ja.
FÜHRER
“Jawohl”, Mensch! Sie leugnen nicht einmal?!
GN 4 MÄNNLICH
Ich sage die Wahrheit.
MINISTERGATTIN
Es ist nicht zu fassen.
FÜHRER
Sie werden zu einem Exempel statuiert werden. Ich lasse Sie zum Tode verurteilen.
GN 4 MÄNNLICH
(Verschwindet wieder im erlöschenden Licht.)
VIII, 5
FÜHRER
(Zum Minister:) Sie unterrichten den Gerichtshof. Muss ich da noch irgendein Gesetz erlassen, damit der Mann zum Tode verurteilt werden kann?
MINISTER
Ich glaube, dass die Vorhandenen genügen werden.
FÜHRER
Sonst mache ich schnell noch eins.
MINISTER
Nein danke, wirklich nicht.
FÜHRER
Mensch, ich kann ja gar kein Exempel statuieren! Wäre doch Quatsch, wo jetzt Krieg kommt. Ich kann doch diesen herrlichen Infanteristen nicht vor der Zeit töten lassen.
MINISTER
Gar keine Bestrafung?
FÜHRER
Soll um Gnade winseln, die ich gewähren werde. Gefängnis, bis Kriegsausbruch.
MINISTER
Er wird dem Führer noch im Heldenhimmel treu sein.
FÜHRER
Und bevor die ersten Teppiche fallen, gehen wir wieder ins Führerhauptquartier. Darf ich Ihre Frau einladen mitzukommen?
MINISTER
Ehre, große Ehre.
FÜHRER
Es ist sehr schön dort. Ich habe eine herrliche Natur entwerfen lassen: Wiesen, Wald, ein malerischer See, wirklich zauberhafte Spaziergänge. Und jeden Tag werde ich Ihnen einen großen Strauß roten echten Kriegsmohn schenken.
/Vorhang zu. Umbau./
***
IX
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt und schüttelt sich.) Ach! Wie man so reinrutschen kann. Extra habe ich noch gesagt, dass ich mit d e r Zukunft nichts zu tun haben will, – und dann befiehlt der Führer und schon folge ich, gehorcht mein schlechteres Ich und sagt “Jawohl”. Abmurksen möchte ich mein schlechteres Ich. Das heißt: möchte? Muss! Ich bin nämlich kein schlechterer Kerl, als jeder andere, der den Krieg hasst und doch stramm gestanden ist und die Hände an die Hosennaht gelegt hat.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt.) Sagen Sie mal –
WÜRFELBECHERMANN
(Schnell:) Aber nicht wieder rezitieren!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Oh nein. Ich habe ja eben erst. Ich bin zunächst zufrieden. Was ich wissen sollte: Wo ich rezitiert habe?
WÜRFELBECHERMANN
Beim Führer.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Erschrocken:) Pst! Ist der denn wieder da?
WÜRFELBECHERMANN
In Zukunft wohl…
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich kann die Führer prinzipiell nicht leiden, aber dass der mich Goethe – wenn auch nicht ganz zu Ende – hat rezitieren lassen, war eigentlich kulturell ganz nett. War das denn die bessere oder die schlechtere Zukunft?
WÜRFELBECHERMANN
Na, was meinen Sie?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Hm, ja ich weiß nicht… Zugunsten des Führerprinzips –
WÜRFELBECHERMANN
Es war die schlechtere.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Unbeeindruckt:) So. Dann vergessen Sie mich also bitte nicht in der anderen. In dieser möchte ich – wie bereits betont – auch rezitiert haben. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Tja, also, ich konnte mir die vorhergehende Szene gar nicht richtig ansehen, weil ich mich vom erstbesten Führer kommandieren ließ. Nur mit Erstaunen habe ich gehört, dass bei denen das Geld auch keine Rolle spielt. Aber ich nehme an, es ist wohl trotzdem ein Unterschied. (Deutet auf das Podest.) Da ist der Unterschied aufgebaut, die andere Seite, das andere Ufer. (Setzt sich auf den Podestrand.)
***
X – Geldabgabeschalter
/Ein Schalter mit der Aufschrift “Geldabgabe”. Hinter dem Schalter EMPORE, davor ein Bauer, der in einem Dialekt spricht./
X, 1
BAUER
Nun pass mal auf, Empore: –
EMPORE
Du sagst meinen Namen so lustig!
BAUER
So? Na … Ich muss noch viel fragen. Ich habe das mit dem Gelb-Abschaffen noch nicht so ganz verstanden. Ich bin früher immer um die Schule herumgegangen, mit dem Vieh auf die Weide.
EMPORE
So. Und da ist das Denken ein wenig zu kurz gekommen, was?
BAUER
Ja. Aber auf der Weide war’s schön. Und wenn ein Vieh was hat, – das merke ich ihm jetzt schon auf eine ganz weite Sicht sofort an. (Nach einer kleinen Pause:) Bei den anderen geht’s Geldabschaffen schneller, was?
EMPORE
Etwas, ja.
BAUER
Auf meinem Hof habe ich ein Ehepaar. Arbeiten prima. Der Mann war mal Minister, heißt Balduin Hand.
EMPORE
(Lacht:) Ach, der!
BAUER
Was lachst du?
EMPORE
Ich kannte ihn. War ein Lieber, aber zum Minister-Sein fehlte ein bisschen Klugheit.
BAUER
Aber die Ehe ist prima. Und ich denke, darauf kommt’s an, nicht auf die Klugheit…?
EMPORE
Auf beides: klug und liebevoll.
BAUER
(Lächelt sehr verständnisvoll.) Aha… Meine Ehe ist auch gut, aber ich möchte Bauer bleiben. Morgens aufs Feld, nicht ins Büro.
EMPORE
Willst du mir nicht dein Geld geben?
BAUER
Ja, das ist es eben. Was gibst du mir denn dafür?
EMPORE
Nichts.
BAUER
(Triumphiert:) Aha! Das habe ich mir gedacht. Und wovon soll ich dann meinen Arbeitsanzug bezahlen? Sagst du mir das?
EMPORE
Ich gebe dir einen Zettel, dass du alles Geld abgegeben hast. Mit dem Zettel bekommst du überall, was du willst.
BAUER
Ohne Geld?
EMPORE
Freilich.
BAUER
Na gut, wenn du meinst. (Holt Geldscheine aus der Tasche, legt sie hin und lächelt sehr verschmitzt.) Da.
EMPORE
(Merkt, was los ist.) Du musst natürlich alles abgeben. Sonst bekommst du den Zettel nicht.
BAUER
(Listig:) Woher willst du wissen, wenn’s alles ist? (Holt aus der anderen Tasche einen zweiten Packen Geldscheine und legt ihn hin.) Da.
EMPORE
Du wirst doch nicht lügen?
BAUER
(Schnell und entschlossen:) Nein, nein, das nicht, Empore. (Holt noch zwei Packen aus zwei anderen Taschen und legt sie hin.) So. Das ist alles.
EMPORE
(Gibt ihm den Zettel.) Und hier ist der Zettel.
BAUER
Zählst du nicht?
EMPORE
Nein. Es wird doch sowieso abgeschafft.
BAUER
Richtig. Danke. (Will gehen, kehrt aber wieder um:) Ich muss noch was fragen: Ich kann doch nun nichts mehr verkaufen?
EMPORE
Nein.
BAUER
Was mach ich dann mit der Pauke.
EMPORE
(Interessiert:) Du hast eine Pauke?
BAUER
Bei mir im Keller steht eine Pauke. Schon als mein Urgroßvater Kind war, hat sie da gestanden. Es wird gemunkelt, dass sie früher einmal ein einem – na, in einem – mir fällt das Wort nicht ein, so ein altmodisches Wort. In einem K-
EMPORE
Krieg.
BAUER
Richtig. In so ‘nem Krieg soll sie aus der Stadt mal auf den Hof gekommen sein. Nun will ich sie endlich loswerden. Wie mach ich denn das?
EMPORE
Ist sie denn in Ordnung?
BAUER
Prima, wir haben sie gehegt und geputzt, wie alles, was bei uns im Keller steht.
EMPORE
Dann schenk sie dem Minister für Geldabschaffung.
BAUER
Braucht der eine?
EMPORE
Ja.
BAUER
Na, gut. Schenk ich sie ihm. Ist mir ganz recht. Wenn ich sie verschenken kann, brauch ich nicht mal feilschen. So, Wiedersehn, Empore. (Gibt ihr die Hand.)
EMPORE
Wiedersehn, mein Lieber.
BAUER
(Geht, wendet sich noch einmal um:) Wir haben uns gut verstanden, nicht?
EMPORE
Ja, sehr gut. Grüß deine Frau und Wiedersehn mit Pauke.
BAUER
Jaja. (Geht.)
X, 2
WÜRFELBECHERMANN
(Auf seinem Platz am Podestrand.) Da steht sie nun, steht da und verkörpert Zukunft am Schalter. Und da sieht man mal, dass es gar nicht auf den Schalter ankommt, sondern nur auf den Menschen dahinter. Ich möchte jetzt hingehen und einfach ein Gespräch mit ihr anfangen, aber ich trau mich nicht. Ich wüsste auch gar nicht, was ich zu meiner Zukunft sagen sollte. (Hat einen Einfall:) Mensch, ich könnte doch mein Geld abgeben, – (Steht auf.) – ganz harmlos, wie jeder andere Einwohner dieser Zukunft. (Hat einen hemmenden Einfall:) Ja, aber Lieschens Mantel? Der kommt morgen aus der Reinigung, und Empore verlangt doch das ganze Geld; und ich kann doch in der Zukunft nicht mehr schwindeln! Ach was, ich gehe. Und mit Lieschens Mantel wird mir schon etwas einfallen. (Zögert:) Allerdings… Komisch: Zu der einen Welt lässt man sich kommandieren ohne Widerspruch, und hier steht man da und ist verlegen und traut sich nicht. Wenn sie mich nun zum Beispiel auslacht, weil ich altmodisch aussehe? (Setzt sich.) Ich lasse es lieber. Ich seh mir das lieber von hier aus weiter an, – da kann mir nichts passieren. (Nach einer Pause:) Na, die scheinen aber auch nicht viel Lust zu haben, ihr Geld loszuwerden. Oder warten die etwa auf mich? Da können sie lange warten. Ich lass mich doch nicht auslachen! (Nach einer weiteren Pause, entschieden:) Na also, was ist? Die tun nichts. Da muss ich wohl – oder übel. (Steht auf und rüstet sich wie zu einem Sprung ins kalte Wasser.) Sei ein Mann, Würfelbechermann, und spring hinein! (Geht auf das Podest zum Schalter.)
X, 3
EMPORE
Guten Tag. (Reicht ihm die Hand.)
WÜRFELBECHERMANN
(Greift die Hand sehr ehrfurchtsvoll.) Guten Tag. Ich möchte hier … (Deutet auf “Geldabgabe”.)
EMPORE
Wo kommst du denn her?
WÜRFELBECHERMANN
Ich? Von früher. Ich habe eben der Zukunft die Hand gegeben.
EMPORE
Ich habe dich aber schon mal gesehen.
WÜRFELBECHERMANN
Sie erinnern sich? Am Fluss neulich. Ich saß am anderen Ufer.
EMPORE
Mit Hellsinn war ich da. Du hast uns zugeschaut und gestört.
WÜRFELBECHERMANN
Es tut mir sehr leid. Warum haben Sie mich denn auch nicht verjagt?
EMPORE
Verjagt? (Sucht, sich des Wortes zu erinnern:) Verjagt… Jagd, – jagen- ach so. Nein, warum denn? W i r fühlten uns doch gestört. Darum sind wir gegangen.
WÜRFELBECHERMANN
Komisch?
EMPORE
Wieso?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, also, wenn einer mich so gestört hätte, – den hätte ich doch verjagt.
EMPORE
Weil du von früher bist. Wir lieben die leisen, friedvollen und unschuldigen Wege.
WÜRFELBECHERMANN
Aha… Ja, ich kann mir das schon vorstellen.
EMPORE
Nun ist kein Fluss mehr zwischen mir und dir, nur noch ein Schalter.
WÜRFELBECHERMANN
Sagen Sie: Wieso duzen Sie mich?
EMPORE
Duzen? Was ist denn das?
WÜRFELBECHERMANN
“Du” sagen.
EMPORE
Wie soll ich denn sagen? Du ist doch das Mindeste, was man zum anderen sagen kann, außer er ist mit dem Kreuz verhaftet.
WÜRFELBECHERMANN
Das Mindeste? Was kann man denn sonst noch sagen?
EMPORE
Es gibt noch viele Möglichkeiten. Die sage ich Sie später.
WÜRFELBECHERMANN
Verzeihung!: Das heißt “Ihnen”.
EMPORE
So? Ja, ich kenne mich im Späthochdeutschen nicht so genau aus.
WÜRFELBECHERMANN
Und – soll ich nun auch “Du” sagen?
EMPORE
Natürlich! Du wirst doch nicht wollen, dass ich “Sie” sage!
WÜRFELBECHERMANN
Nein, um Gottes Willen!
EMPORE
Gottes Wille hat damit aber überhaupt nichts zu tun.
WÜRFELBECHERMANN
(Etwas verdattert:) Nein nein, entschuldige.
EMPORE
Deswegen brauchst du dich bei m i r nicht zu entschuldigen.
WÜRFELBECHERMANN
(Durcheinander:) Was? Nein… Wieso? (Lächelt etwas verlegen.) Nun möchte ich aber auch etwas wissen: Wenn “du” das Mindeste ist, wie heißt es dann im Höchstfall?
EMPORE
Wie kannst du das von mir verlangen? So früh! Wir kennen einander doch kaum!
WÜRFELBECHERMANN
Nein, ich wollte ja nur etwas unverbindlich wissen.
EMPORE
Unverbindlich ist der Tod der Liebe.
WÜRFELBECHERMANN
Der Liebe…? Habe ich jetzt richtig verstanden – oder …?
EMPORE
(Lächelt.) Richtig. Oder willst du wirklich nur dein Geld abgeben?
WÜRFELBECHERMANN
Nein, aber… Ich wage gar nicht mehr zu glauben…
EMPORE
Na, dann gib mal das Geld her. Es scheint dich zu belasten.
WÜRFELBECHERMANN
Zum ersten Mal in meinem Leben, dass mich Geld belastet. (Kramt in seinen Taschen.)
EMPORE
Dann ist kein Schalter mehr zwischen uns.
WÜRFELBECHERMANN
(Vorsichtig:) Man muss ja wohl – alles abgeben…? (Legt es hin.) Hier.
EMPORE
Was ist denn das für Geld
WÜRFELBECHERMANN
Wieso? Von früher natürlich. Ostgeld. Oder nehmt ihr nur Westgeld?
EMPORE
Was haben denn die Himmelsrichtungen mit eurem Geld zu tun?
WÜRFELBECHERMANN
Ach, das ist schwer zu erklären. Jedenfalls: Anderes habe ich nicht.
EMPORE
Nein, das behält man. Höchstens einen Schein für den Papierkorb. (Nimmt einen Schein.)
WÜRFELBECHERMANN
Was?
EMPORE
Den Rest kannst du wieder einstecken.
WÜRFELBECHERMANN
Schade. (Steckt die Scheine ein.) Nun bleibt der Schalter zwischen uns. Aber vielleicht besser so, wenn ich wieder zurück –
EMPORE
(Kommt vor den Schalter:) Du brauchst das Geld wohl?
WÜRFELBECHERMANN
Och… Nur wegen Lieschens Mantel. Der kommt morgen aus der Reinigung.
EMPORE
(Interessiert:) Du hast ein Lieschen? Wo ist sie denn?
WÜRFELBECHERMANN
Ich weiß nicht.
EMPORE
Was? Wie könnt ihr denn leben, wenn ich nicht wisst, wo ihr seid?
WÜRFELBECHERMANN
Och, so schnell stirbt man ja nun nicht. Es gab Krach.
EMPORE
Krach? Ist was runtergefallen?
WÜRFELBECHERMANN
(Etwas verlegen:) Nein, Krach mit dem Mund, mit der Stimme: – na, geschimpft haben wir. Wir quälen einander manchmal ein bisschen.
EMPORE
(Verständnislos:) Also, wenn ihr liebt, braucht ihr doch nicht zu quälen?
WÜRFELBECHERMANN
Warum nicht? Wir quälen u n d lieben.
EMPORE
Ihr müsst aber sehr viel Zeit und Kraft haben.
WÜRFELBECHERMANN
Oh, nein. Die Menschen meiner Zeit leiden an einem chronischen Zeitmangel. Und Kraft haben wir nach den vielen Kriegen und Spannungen erst recht nicht.
EMPORE
Sonderbar. Und wie soll das weitergehen?
WÜRFELBECHERMANN
Das weiß ich doch nicht! Ich regiere doch nicht.
EMPORE
Wer denn?
WÜRFELBECHERMANN
Na, die Regierung natürlich.
EMPORE
Und die gibt euch keine Kraft und lässt euch keine Zeit?
WÜRFELBECHERMANN
(Schüttelt den Kopf.) Minimal.
EMPORE
Na, bei euch möchte ich nicht leben.
WÜRFELBECHERMANN
Ich auch nicht! Ich meine …
EMPORE
Manchmal, wenn ich in den alten Bücher von euren Kämpfen und Qualen lese, von Sozialismus und Einsamkeit und all den anderen Belastungen, – dann überkommt mich oft Schmerz und eine große Sehnsucht euch zu helfen. Als ob es euch noch gäbe. Keine meiner Freundinnen kennt dieses Gefühl. Ich bin allein damit.
WÜRFELBECHERMANN
Aber uns gibt es doch noch! Ich bin doch verzaubert und träume. Ich stecke meinen Kopf aus dem Sack unserer Nacht in die Luft eures Tages. Es ist hohe Luft wie auf den Bergen.
EMPORE
Es handelt sich zwischen uns nicht um Tag und Nacht, sondern um früher oder später.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, früher oder später müssen wir wohl zu euch kommen. Am liebsten würde ich hier bleiben, aber Lieschen…
EMPORE
Du musst dich sowieso von ihr trennen.
WÜRFELBECHERMANN
(Schaut sie erstaunt an. Dann:) Ja, – ich weiß. Ich habe es immer gewusst, aber nie ausgesprochen.
EMPORE
Eine dürftige Liebe ist schlimmer als gar keine.
WÜRFELBECHERMANN
Aber ihr Mantel.
EMPORE
Bring ihr das Geld und komm wieder.
WÜRFELBECHERMANN
(Nachdenklich:) Ja… Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute ist? Man kann doch aus seiner Zeit nicht einfach aussteigen, wie aus einem Zug. Wer weiß, ob ich überhaupt fähig bin, hier…? Können wir es nicht probeweise versuchen?
EMPORE
Die Liebe kann man nicht versuchen.
WÜRFELBECHERMANN
Nein, ich meine, dass ich hier, in meiner Zukunft mal probeweise lebe.
EMPORE
Hier kann man nicht leben, ohne zu lieben. Deine Zukunft ist Liebe.
WÜRFELBECHERMANN
Also gar keine Auswege. Nur noch ein Weg…
EMPORE
Magst du mich nicht?
WÜRFELBECHERMANN
(Erschrocken:) Doch, Empore, das musst du nicht fragen. Ich mag dich über alle Zeiten gern. Aber ich wage nicht, an diese Möglichkeit zu glauben.
EMPORE
Wieder wagst du nicht zu glauben.
WÜRFELBECHERMANN
Ich stehe vor dir, wie ein kleines Kind vor den Geschenken unterm Weihnachtsbaum.
EMPORE
Würfelbecherkind.
WÜRFELBECHERMANN
Ich brauche deine Kinderliebe und deine große Liebe.
EMPORE
(Ergriffen:) Oh, wie viel…! Wie schön viel. Wie viel Schönheit. Ich werde mich über dich beugen und zu dir aufschauen. Ich werde dich erziehen und verehren, führen und folgen und -lieben – über alles. (Setzt sich auf den Podestrand.) Komm, leg deinen Kopf in meinen Schoß.
WÜRFELBECHERMANN
(Tut es.)
EMPORE
So liegen unsere Kinder, wenn ihre Mutter ihnen die ersten Weltzeichen deutet. Unsere Erziehung beginnt mit der Frage: Was ist der Mensch?
WÜRFELBECHERMANN
Was? Damit fangt ihr an? Damit kommt bei uns keiner zu Ende. Nicht mal Greise und Großväter. Ich hätte den folgenden Standpunkt: –
X, 4
HELLSINN
(Kommt.) Was machst du denn hier?
EMPORE
Ich erziehe das Würfelbecherkind.
HELLSINN
Hast du das eingefädelt, dass meine Frau dich ablöst, wenn ich hier bin.
EMPORE
Ja.
HELLSINN
Das ist doch Quatsch! Eine ganz unnötige Belastung für sie. Außerdem kennt sie die Arbeit doch gar nicht.
EMPORE
Du wirst ihr helfen. (Steht auf.)
HELLSINN
Soll sie sich auch noch mit diesen Schmutzscheinen abgeben?
EMPORE
Ich gehe dann zu euch nach hause zu den Kindern.
FRAU HELLSINN
(Kommt. Zu Empore:) So. Bitte beeil dich, Liebe. Ich habe vorhin etwas Wäsche aufgesetzt. Die kannst du gleich ausmachen, wenn du da bist. Und dass die Kinder nicht zu spät ins Bett kommen. Das Essen brauchst du nur zu wärmen. Ich habe alles vorbereitet.
EMPORE
Schön. Und die Schlüssel?
FRAU HELLSINN
Es steht alles offen.
EMPORE(Zum Würfelbechermann:) Ich muss eine Entgleisung verhüten gehen. Sei nicht traurig. Wir sehen einander wieder, – wenn du willst. Ich lasse dich ein wenig allein mit unserer ersten Frage. Lebt wohl! (Geht.)
FRAU HELLSINN
Leb wohl. (Zu Hellsinn:) So. Soll ich hinter dem Schalter bleiben?
HELLSINN
Ja, ich weiß nicht. Ach, das Ganze ist doch Unsinn. Na, ich gehe ins Büro.
FRAU HELLSINN
(Meint den Würfelbechermann:) Was ist denn mit dem Mann da?
HELLSINN
Mal fragen. Den hab ich doch schon irgendwo mal gesehen…? Verzeihung.
WÜRFELBECHERMANN
(Erschrickt.) Wie?
HELLSINN
Willst du Geld abgeben?
WÜRFELBECHERMANN
Was? Ja. Das heißt: nein. Ich hätte eine große Bitte: Kann ich hier etwas liegen bleiben? Ich muss nachdenken.
HELLSINN
Andere tun das unter Bäumen. Unter Schaltern ist mir das noch nicht vorgekommen. Aber, wenn du willst… (Zu seiner Frau:) Also, wenn was ist: Ich bin im Büro.
FRAU HELLSINN
Ich kann doch auch mal kommen, wenn nichts ist?
HELLSINN
Ja, meinetwegen. (Geht.)
FRAU HELLSINN
(Schaut sich um.) Und jetzt ist doch gerade nichts. (Folgt ihm.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XI
WÜRFELBECHERMANN
(Bleibt vorn am Podestrand liegen. Etwas leichtfertig:) Was ist der Mensch? Was ist der Mensch? Was ist der Mensch? Weiß nicht. Weiß nicht. Weiß nicht. (Schaut sich um.) Wo ist denn mein Standpunkt? Ich hatte doch eben noch einen Standpunkt! Ach, ich kann ja gar keinen Standpunkt mehr haben: Ich liege ja. Liegepunkt… Nein, ich fliege. Fliegepunkt. Standpunkt Himmel. Was ist der Mensch? I c h bin ein Mensch. Was ist mithin der Mensch? Ach, nicht nachdenken, nur verliebt sein. Empore…
/Unter mächtigem Aufbauschen des Vorhangs wird der Würfelbecher vom Podest geworfen./
WÜRFELBECHERMANN
Rums. Souterrain. Doch nachdenken. Von der Empore geschmissen. Außerhalb, mitten in die Gegenwart. Nicht weit von Lieschen. (Steht auf.) Und bei Ihnen, meine Damen und Herren…. Ach, war das schön! Da muss ich hin zurück, – nein vorwärts. Wenn Sie auch nur ein wenig Anteil nehmen, an meinem Schicksal, dann müssen Sie mir helfen. Denken Sie mit nach über die mir gestellte Kardinalfrage: Was ist der Mensch? Wenn ich Empore wieder sehe, muss ich eine Antwort wissen. Ich bin abhängig von Ihrer freundlichen Hilfe.
Tja, das Weitermachen wird mir verflucht schwer. Am liebsten würde ich den ganzen Karren aufhalten und das Stück nur noch in der angenehmen Zukunft weiterspielen lassen. Dann wäre ich auch viel schneller wieder bei Empore. Aber so ein Stück ist unerbittlich wie ein Traum. Das rollt wie ein Zug in die Entgleisung, wie ein Komet ins Weltall.
***
/Vorhang auf./
WÜRFELBECHERMANN
Der Vorhang ist auf. Ich möchte mich gar nicht umsehen. (Bleibt stehen.)
XII – Gitter dazwischen
/Es stehen Gitter unordentlich und labyrinthisch verteilt – ausweglos. Hinter einem Gitter kniet GN 4 MÄNNLICH./
XII, 1
GN 4 MÄNNLICH
(Ruft leise:) Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
(Dreht sich um.) Wer ruft denn da?
GN 4 MÄNNLICH
Ich. Komm her. Du bist von früher. Ich habe dir Letztes zu sagen.
WÜRFELBECHERMANN
(Geht zu ihm, jedoch das Gitter zwischen ihm und sich.) Was heißt das, “Letztes”?
GN 4 MÄNNLICH
Würfelbechermann, ich habe Gift genommen.
WÜRFELBECHERMANN
Warum?
GN 4 MÄNNLICH
Aus letzter Freiheit. Ich werde zum Tode verurteilt, aber ich sterbe ihnen vorher weg.
WÜRFELBECHERMANN
Ist das eure Freiheit?
GN 4 MÄNNLICH
Die letzte und einzige, die wir kennen. Die erste, zu leben aus eigener Kraft, haben sie uns lange genommen. In einsamen Gedankenstunden habe ich sie mühsam aus meinem Gehirn hervorgegrübelt. Ich kenne sie theoretisch. Nun nehme ich mir die letzte, praktische Freiheit: Freitod.
WÜRFELBECHERMANN
Aber sie haben dich begnadigt! Du sollst leben, weil ein Krieg kommt und sie Soldaten brauchen.
GN 4 MÄNNLICH
Gnade, Leben Krieg, Soldat…? Was heißt Gnade und Leben? Ich weiß nur, was Krieg heißt. Da werde ich regelmäßig magenkrank. Was heißt Gnade?
WÜRFELBECHERMANN
Gnade? Gnade ist, wenn …Herrgott, diese Gitter. Ich weiß in diesen Gittern nicht, was Gnade ist.
GN 4 MÄNNLICH
Das ist dumm. Ich hätte gern gewusst, was Gnade in eurer Zeit bedeutet. Es muss eine schöne Zeit gewesen sein.
WÜRFELBECHERMANN
Ja …
GN 4 MÄNNLICH
Warum will man wissen, was Gnade ist, wenn man Gift im Bauch hat? Warum ist man so ungenügsam? Sage ihr nicht, wie es um mich steht, Würfelbechermann! Ein lustiger Name: Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
Ich muss hier raus.
GN 4 MÄNNLICH
Ja, geh. Du kannst noch zurück. Steige weg. Ich werde diesen Gittern hier nie mehr entkommen. Meine Augen brechen eher als sie.
WÜRFELBECHERMANN
(Schleicht durch die Gitter hinweg.)
XII, 2
AT 621 WEIBLICH
(Geht mit hängendem Kopf durch die Gitter hindurch.)
GN 4 MÄNNLICH
(Ruft sie flüsternd an, als sie sich jenseits seines Gitters bewegt.) Empore.
AT 621 WEIBLICH
Ich bin nicht mehr Empore, war es nie, hat er nie zu mir gesagt. Ich bin At 621.
GN 4 MÄNNLICH
Empore.
AT 621 WEIBLICH
Ich habe alles widerrufen. Du wirst frei sein aller Fesseln, auch der Fesseln meiner Liebe.
GN 4 MÄNNLICH
Hast w a s widerrufen?
AT 621 WEIBLICH
Die Mutter wollte es. Feierlich habe ich bei der Polizei, bei Gott, bei dem Führer geschworen, dass wir uns nie geliebt haben, dass du mich nie Empore gehoben – genannt hast.
GN 4 MÄNNLICH
(Ergreift sie bei den Fußgelenken und schüttelt sie.) Empore.
AT 621 WEIBLICH
Und ich habe nie einen Namen für dich gefunden. Nie einen, der deiner Empore gleich kommen würde. Ich habe nur unsere armseligen Leben ein wenig verlängert. Wer weiß, wie wenig, denn es kommt wieder ein Krieg.
GN 4 MÄNNLICH
(Laut:) Empore!
AT 621 WEIBLICH
Nicht doch! Ich konnte es nie leiden, wenn du laut wurdest. Entschuldige, wenn ich das nochmal sage. Sei still. Es war schwer genug. Die Menschen sollen still sein, sagte mein Vater, als er umkam. Die Welt ist laut genug.
GN 4 MÄNNLICH
Empore, du hast mein Leben umsonst gerettet. Ich habe Gift im Leib.
AT 621 WEIBLICH
Also habe ich nur mein Leben gerettet? Das ist ein bisschen wenig für die vielen Lügen. Soll ich den Widerruf widerrufen? Hast du noch Gift?
GN 4 MÄNNLICH
Gift ist knapp. Es reichte gerade für mich.
AT 621 WEIBLICH
Ich werde in der Rüstungsfabrik alles vergessen.
GN 4 MÄNNLICH
Meine Augen… Letzter Blick in diese Welt: Gitter, – dahinter (Hallend:) Empore…!
(Stürzt und fällt leblos vom Podest.)
XII, 3
WÜRFELBECHERMANN
(Tritt an seine Stelle.) Was ist los?
AT 621 WEIBLICH
Nichts. (Steht auf.) Es ist vollbracht. Da stirbt der eine und da kommt der andere. (Sieht ihn an.) Aber der andere sieht sonderbar aus. Wer bist du?
WÜRFELBECHERMANN
Der Würfelbechermann.
AT 621 WEIBLICH
Komm doch her. (Verrätselt:) Woher nur? Woher…?
WÜRFELBECHERMANN
Es ist doch das Gitter dazwischen.
AT 621 WEIBLICH
Mach doch das Gitter weg. Das kannst du doch! Du siehst aus, als könntest du viel wegmachen und emporheben. Sie sind zu mir geschickt vom Bevölkerungsministerium? Kein Soldat? (Ergreift seine Hand durch das Gitter.)
WÜRFELBECHERMANN
Was?
AT 621 WEIBLICH
(Schaut die Hand an, befühlt sie.) So ungefähr muss das Glück aussehen, wie diese Hand. (Zieht ihn an der Hand ungeschickt zu sich.)
WÜRFELBECHERMANN
Au! Lassen Sie doch meine Hand!
AT 621 WEIBLICH
Habe ich weh getan? Wie konnte ich? (Küsst die Hand.)
WÜRFELBECHERMANN
Nicht doch! Lassen Sie mich gehen!
AT 621 WEIBLICH
Du willst wieder gehen? Du gehörst doch zu mir. Du suchst mich doch. Ich bin AT 621 weiblich.
WÜRFELBECHERMANN
Wer?
AT 621 WEIBLICH
AT 621 weiblich. Ich habe widerrufen, und es sollte mir ein Mann zugeteilt werden. Bist du das nicht?
WÜRFELBECHERMANN
Aber nein, ich gehöre doch gar nicht hier her.
AT 621 WEIBLICH
Nicht hier her? Wohin denn? (Verrätselt:) Wohin nur? Wohin…? Lass uns fliehen, bevor der andere kommt. Hebe die Hände empor, sage “Hokuspokus” und diese Gitter sind verschwunden. Du bist doch ein Zauberer…?
WÜRFELBECHERMANN
In eurer Welt ist auch der Zauber gestorben.
AT 621 WEIBLICH
Aber mein Herz schlägt doch noch! Nenne mich Empore.
WÜRFELBECHERMANN
(Entgeistert:) Ich kann dich doch nicht Empore nennen…! (Weicht zurück.)
AT 621 WEIBLICH
Ich suche dich. (Läuft an den Gittern entlang.) Es muss doch einen Weg zu dir geben. Hoffnung ist die ewige Nahrung der Armen. Einen Weg zurück… (Verschwindet in den hinteren Gittern.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XIII
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor das Podest.) Es gibt natürlich einen Weg zurück. Sie will ja nichts anderes als in unsere Gegenwart zurück. Um Ihnen eine Möglichkeit zu geben, unsere Gegenwart mal wieder aus eigener Anschauung zu erleben, – machen wir jetzt alle zusammen eine Pause. Bitte vergessen Sie nicht, mir zu helfen. Sie wissen doch: Was ist der Mensch?
/Pause./
***
XIV
WÜRFELBECHERMANN
(Geht bei geschlossenem Podestvorhang über die Bühne zu einem Telefon, hebt ab und wählt.) Hallo, Fräulein?
–
Ja, Fräulein, bitte verbinden Sie mich mit dem Publikum im {Name des jeweiligen Theaters oder Raumes, in dem gespielt wird}.
–
Wie? Nein, nicht das Publikum von gestern. Das interessiert mich nicht. Ich möchte mit den Zuschauern sprechen, die jetzt im {Name des Theaters} sitzen.
–
Doch, doch, Sie können stören. Auf meine Verantwortung.
Danke.
Hallo?! Ah, mein liebes Publikum. Hier spricht Ihr Würfelbechermann. Guten Abend und – gute Pause wünsche ich gehabt zu haben. Ich bin froh, dass ich Sie telefonisch erreicht habe. Ich bin Ihnen dadurch sehr verbunden. Von Zeit zu Zeit telefoniere ich nämlich leidenschaftlich gerne, – ich habe den Hörer so gern in der Hand. Ja, stellen Sie sich mal vor: Früher, da gabs überhaupt noch kein Telefon. Na, das müssen Zeiten gewesen sein! Naja, die Leute von damals, die kannten gar nicht die Vorteile, die so’n Telefonieren mit sich bringt. Naja, ich kann doch zum Beispiel meinem Gesprächspartner die Zunge rausstrecken, und der merkt das nicht. Mit Ihnen, mein liebes Publikum, würde ich mir das natürlich nicht erlauben. Nein, bestimmt nicht. Ehrenwort. Also wirklich… Aber bei Lieschen habe ich das neulich gemacht. Naja, die hat mich aber auch so gequält, ich sollte ihr ein Liebesgeständnis machen. Und da habe ich ihr gesagt: “Aber Lieschen, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe!” (Streckt mit der letzten Silbe lang die Zunge heraus.) Ja, Sie lachen, aber eigentlich war das ziemlich hässlich. Ich meine, selbst wenn es sich zum Auseinandergehen neigt, – und das tut es bestimmt -, sollte man… Naja, haben Sie Bekannte in der Pause getroffen? Wissen Sie, was mir passiert ist? Ich sitze am Radio und höre Sportnachrichten, – wer kommt da angelaufen? Lieschen! Ausgerechnet. War ziemlich unerfreulich. Bin schon wieder bei Lieschen. Ja, ich habe auf {Name zweier Rennpferde, die am selben oder am Vortag der Aufführung gestartet sind} gesetzt, aber die Ergebnisse kamen noch nicht durch. Übrigens ist mir eine sehr hübsche Antwort eingefallen auf die Frage: Was ist der Mensch? – Die Frucht der Pause… Also, ich meine nicht etwa, der Mensch sei die Frucht der Pause… Nein, das scheint mir ein bisschen abwegig. Nein, die Frucht der Pause ist es, dass mir eine Antwort eingefallen ist. Das ist eigentlich paradox, nicht? Denn das Wesen der Pause ist doch gerade Unfruchtbarkeit. Naja. Nun wollen wir mal unser Plauderminütchen beenden und wieder ein bisschen würfeln. Sonst ist auch die Leitung zu Ihnen, mein liebes Würfelbecherpublikum – ich erlaubte mir, Sie so zu nennen, ausnahmsweise, – so lange besetzt. (Bleibt am Apparat.)
***
XV – Am Museum
/ Der obere Rand eines übernatürlich großen Papierkorbes, mit einer Tür darin. /
XV, 1
EMPORE
(Kommt und müht sich, eine Pauke zur Tür zu schleppen.)
WÜRFELBECHERMANN
(Steht noch am Telefon. Sieht Empore.) Hallo?! Ja, ich muss aufhören. Empore ist da. Also. Auf Wiedersehen. Auf Wiederhören – vielmehr: … Jedenfalls: Auf Wieder! Bis gleich. (Legt auf, rennt auf das Podest und greift zu.) Moment.
EMPORE
(Erschrickt ein wenig bei seinem Anblick.) Du – bist wieder da?
WÜRFELBECHERMANN
Ja.
EMPORE
Und willst mir helfen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja. Wohin soll sie denn?
BEIDE
(Fassen die Pauke an.)
EMPORE
Hier, zur Tür.
BEIDE
(Stellen die Pauke vor die Tür.)
EMPORE
(Nach einer kleinen Pause:) Dass du heute kommst …. Was hast du gemacht?
WÜRFELBECHERMANN
Pause.
EMPORE
Hast du Lieschen gesehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, denk mal! Ausgerechnet! Die lief mir direkt in die Arme.
EMPORE
Dann hattest du gewiss die Arme ausgebreitet.
WÜRFELBECHERMANN
Nein. Wieso? Ach, das mit Lieschen ist nicht so einfach. Wir haben viel durchgemacht miteinander, und uns recht und schlecht geplagt.
EMPORE
Recht und gut wäre besser. Mit Leben und Liebe plagt man sich nicht, man macht sie nicht durch. Das ist doch viel zu kostbar, um einfach bis zum Tode abgelebt und abgeliebt zu werden. Wir dürfen doch nicht so abgenützt ins Grab steigen.
WÜRFELBECHERMANN
Wenn du nur deinen Mund aufmachst, weiß ich, dass etwas Kluges dabei herauskommen wird. Du brauchst es eigentlich gar nicht mehr auszusprechen.
EMPORE
Also hattest du gar keine richtige Pause?
WÜRFELBECHERMANN
Ach, wann kommen wir Abendländler des 20. Jahrhunderts schon mal zu einer richtigen Pause? Wir beschäftigen uns doch hauptsächlich mit Fortschritt!
EMPORE
Heute wird das Ministerium für Geldabschaffung abgeschafft. Ich werde frei.
WÜRFELBECHERMANN
Hoffentlich kann ich mich auch frei machen.
EMPORE
Die Pauke habe ich für Hellsinn besorgt.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich weiß, von dem Bauern. Hellsinn wird sich freuen.
EMPORE
Und: – Was ist der Mensch?
WÜRFELBECHERMANN
Ach so, ja. (Ziemlich zuversichtlich:) Mir ist was eingefallen. Pass auf: Die Pessimisten sagen: ein Gott, der will, aber nicht kann, und die Optimisten: ein Tier, das kann, aber nicht will.
EMPORE
Was? Das verstehe ich nicht.
WÜRFELBECHERMANN
Wieso? Das ist doch ganz einfach. Pass auf: –
EMPORE
Nein, das kannst du mir nicht e r k l ä r e n. So eine verspielte Antwort, die schmeißen wir hier in den Papierkorb.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich wollte dich die ganze Zeit schon fragen: Was ist das für ein Monstrum?
EMPORE
Unser Museum. Es hat die Form eines Riesenpapierkorbs. Es liegt unter der Erde, weil wir für sowas keine Luft bebauen wollten. Da schmeißen wir alles rein, was wir nicht mehr brauchen können: Nebelideen, alte Patente, falsche Gefühle, Bücher von Dichtern, die leichtfertig die Ehe gebrochen haben, unlösbare Probleme…
WÜRFELBECHERMANN
In das Museum möchte ich mal rein.
EMPORE
Ich werde fragen, ob du das darfst. Es ist eine kleine Auflösungsfeierlichkeit des Ministeriums da unten.
WÜRFELBECHERMANN
Ich hatte noch eine Antwort: Der Mensch ist die Frucht der Pause.
EMPORE
(Nach einem kurzen Nachdenken:) Ja, schön. (Küsst ihn leicht.) Danke. Unseren Kindern geben wir eine einfachere Antwort.
WÜRFELBECHERMANN
Finde ich die da unten im Papierkorb?
EMPORE
Oh nein, die liegt hier auf der Straße. Da spielen die Kinder damit. Und wehe dem, der sie je in den Papierkorb schmeißen sollte.
WÜRFELBECHERMANN
Ich habe auf euren Straßen nicht gespielt. Sag mir eure Antwort.
EMPORE
Der Mensch ist die Hälfte eines Liebespaares.
WÜRFELBECHERMANN
Reizend!
EMPORE
Was hat das mit Reizung zu tun?
XV, 2
HELLSINN
(Kommt.) Empore. (Zum Würfelbechermann): Was willst du denn schon wieder hier?
EMPORE
Er möchte gerne mal in den Papierkorb.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wenn ich bitten dürfte.
HELLSINN
Nein, das können wir nicht gestatten. Stell dir mal vor, wenn jeder da aus der Vergangenheit kommen würde. (Zu Empore:) Nun komm, es ist schon wieder viel zu spät. (Geht zur Tür. Die Pauke ist im Weg. Mürrisch:) Was soll denn die Pauke hier direkt vor der Tür?! (Geht in den Papierkorb.)
EMPORE
Das kann ja heiter werden! (Zum Würfelbechermann:) Warte. (Geht in den Papierkorb.)
WÜRFELBECHERMANN
Wie stehe ich da? Wie ‘ne Hälfte… wie ‘ne schlechtere Hälfte.
XV, 3
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt.) Würfelbechermann, welche Zukunft ist das hier?
WÜRFELBECHERMANN
Die bessere.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Großartig. Da wird doch wohl mal Jemand kommen.
WÜRFELBECHERMANN
Anzunehmen. Keine Zukunft ohne Menschen. Sagen Sie … Ich hätte eine Frage: Was ist der Mensch?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Lacht.) Wissen Sie eine Antwort nach zweitausend Jahren?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, die Hälfte eines Liebespaares.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ist ja reizend. Reizend formuliert. Echt weiblich. Haben Sie sicher von einer Frau. Ist natürlich Quatsch, aber reizend.
WÜRFELBECHERMANN
Das können Sie Ihrer Frau erzählen.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Witzig:) Nee, die glaubt mir das nicht. (Lacht.) Ja, ich werde mal mein Gedicht eben durchsprechen. (Schnurrt “Edel sei der Mensch” ab, unterbricht sich:) Wie banal ein Gedicht von Goethe klingt, wenn man es nur mal so repetitierenderweise durchspricht. (Schnurrt weiter.)
XV, 4
FRAU HELLSINN
(Kommt aus dem Papierkorb.) Ach, diese Luft da unten.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Ist verstummt und verbeugt sich nun vor jedem der Herauskommenden.)
HELLSINN
(Kommt.)
FRAU HELLSINN
Na, findest du es hier nicht schöner?
HELLSINN
Ach, mir ist das egal. Meinetwegen brauchte überhaupt keine Feier zu sein. (Die Pauke stört.) Diese dämliche Pauke.
REDNER
(Kommt aus dem Papierkorb.) Natürlich ist es hier viel schöner. Im Papierkorb kommt man sich so weggeschmissen vor.
EMPORE
(Kommt ebenfalls wieder. Schnell zum Würfelbechermann. während die anderen sich gruppieren.) Schnell! Dass Hellsinn es nicht sieht. Ich hole dich wieder raus.
WÜRFELBECHERMANN
Danke. (Verschwindet im Papierkorb.)
REDNER
In dieser schöneren Luft möchte ich aber nun doch dem ganz kleinen Kreis eine Rede halten. Ich glaube, der Äther hat diese Rede nötig.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tritt entschlossen, wenn auch devot vor.) Es würde passen… Darf ich vielleicht erst einmal? Kleine künstlerische Umrahmung kann nie schaden. (Rezitiert.)
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut. –
FRAU HELLSINN
Was soll denn das?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Indigniert:) Ich muss mich doch sehr wundern. (Fängt wieder an:)
Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut. –
EMPORE
Sei doch ruhig! Was hast du denn?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Bereits entschieden beleidigt:) Du? Sie? Äh… Das ist doch Goethe!
EMPORE
Naja, das wissen wir. Aber das passt doch gar nicht hier her!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Aber ich bitte Sie: Keine Feier ohne Goethe!
REDNER
Uns passt er aber trotzdem nicht. Bitte geh oder sei still.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Merkwürdig familiärer Ton. (Geht.)
XV, 5
REDNER
Mein lieber ganz kleiner Kreis. Wir pflegen sonst keine Reden zu halten, wenn Minister abgesetzt werden. Es ist eigentlich nie ein entsprechender Anlass vorhanden. Meist hat eine Ehe nicht zuvor den liebevollen Weg beschritten, oder es ist sonst etwas Unrechtes geschehen. Aber heute haben wir es immerhin auf einen Redner und drei Zuhörer gebracht. Wohl noch nie ist ein Minister mit solchen Ehren abgesetzt worden.
HELLSINN
Komm, mach schnell. Das ist doch alles Unsinn.
REDNER
Gut, wenn du meinst… Ich will mich in meiner Rede ganz nach den Wünschen meiner Zuhörer richten. Feiern wir etwas anderes, etwas weniger Persönliches. Die kleine Gemeinde findet sich am Rande des Papierkorbs. Das Geld füllt nicht mehr Taschen, Gehirne und Kontobücher. Jenseits des Randes, im Papierkorbkellermuseum füllt es einige Glaskästen. Ich erinnere mich nicht, je einen bedeutungsvolleren Gegenstand in die Glaskästen des Papierkorbs versenkt zu haben.
XV, 6
WÜRFELBECHERMANN
(Erscheint ein wenig aufgeregt und verstört mit einem Museumsglaskasten in der Tür.) Hier, da habt ihr eine Sache unter Glas, die ich miterlebe. Ich konnte damit nicht allein bleiben. In den Glaskästen da unten liegt überall meine Leiche, – wie Schneewittchen. (Stellt den Glaskasten hin und erklärt, wie ein Lehrer vor der Klasse:) Es ist alles genau grafisch dargestellt, statistisch und historisch nachgewiesen. Moment, – da müsste ich ja auch sehen können, wo das hinführt…? (Verfolgt mit dem Finger auf der Glasscheibe.) Hier! So… Was? Wie ist denn das möglich geworden? Ach so…, na das hätte ich nicht gedacht. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. (Schaut seinen Finger an.) Staub gewischt wird nicht in eurem Papierkorb. Hier, – ich habe Staub auf den Fingern, der bei euch auf meiner Gegenwart liegt. Ich wünschte, Sie könnten sehen, wie wir uns um diesen Fall erhitzen: Da wird gelogen, geschrieen, gejubelt, geschäumt, auch geschossen und gestorben – Und oft weinen die Frauen… Und nun ist es Papierkorbinhalt, mit Staub und kleinen Zettelchen versehen. (Sieht wieder in den Kasten.) Moment mal! Ihr habt was vergessen. Eure Historiker sind nachlässig. Hier, – wenn hier die Menschen “Ja” gesagt hätten, als man ihnen das Paradies versprach, dann wäre es ganz anders gekommen, – viel schlimmer. Ja, dann gäbe es euch überhaupt nicht! Ihr verdankt euer Leben unserem “Nein”! Hier wollten die Barbaren ihre Standarte aufpflanzen. Ihr habt die andere Möglichkeit vergessen. Wollt ihr sie sehen?
HELLSINN
(Etwas leichtfertig:) Du kannst wohl zaubern? Her mit der Barbarei!
XV, 7
FÜHRER
(Steht in einem gespenstischen Lichtkegel vor der kleinen Gemeinde und hält eine Rede:) Ich fordere daher die uneingeschränkte Militarisierung des Friedens und die Verstaatlichung der Anarchie. Vor allen Dingen aber fordere ich die rücksichtslose Bekämpfung des Schleichhandels mit Geist. Und wenn eine größenwahnsinnige Clique glaubt, mit Gott gegen uns kämpfen zu können, dann werden wir nicht davor zurückschrecken, auch die letzten noch erlaubten Reste Gottes zu liquidieren. (Verschwindet im erlöschenden Licht.)
XV, 8
REDNER
Und ich sage nun: Hellsinn, weg mit dieser Barbarei! Und der größte Dank aller Menschen an dich, der du das Geld ermordet, – liquidiert hast!
EMPORE
Und dank dem Würfelbechermann, als er “Nein” sagte, als man ihm das Paradies der Hölle schenken wollte.
REDNER
Ich wollte eigentlich noch viel sagen, aber –
HELLSINN
Menschenskind! Nun hört doch bloß mal auf.
EMPORE
(Stellt sich vor die kleine Gemeinde.) Nein. Ich muss noch drei Worte sage. Hellsinn! Du siehst nicht froh aus, wie nach getaner großer Arbeit.
HELLSINN
Ich bin auch nicht froh. Du weißt ganz genau, –
EMPORE
(Schnell:) Ja, – ich weiß. Wir wollen so nicht auseinander gehen. Die anderen kennen deinen Ehebericht. Ich – kenne deine Ehe. Und ich bin glücklich, –
HELLSINN
Wenn du nur glücklich bist!
EMPORE
(Zunehmend irritiert:) Hellsinn, ich bitte dich! Ich bin glücklich, dass… Ich schenke dir etwas, das dich freuen wird: eine Pauke. Möge sie dich wieder ins rechte Gleis pauken, und dich so frei machen, dass –
HELLSINN
Was soll ich denn mit der Pauke? Was hast du dir dabei gedacht?
EMPORE:
(Traurig:) Ich dachte…
REDNER
(Versucht einzulenken:) Ich denke, wir beenden nun unsere kleine Feierlichkeit. Frei von den Geldern der Erde möge die Musik dich wieder umgeben.
HELLSINN
(Steht auf.) So. Jetzt halte ich eine Rede! Das ist alles Quatsch! Ich macht schöne Worte wie in einem Jungfernverein. Glaubt ihr denn wirklich, mit einer kleinen Heiterkeit könnt ihr mir helfen? Ihr mir helfen? Mit Reden und Pauken? Ich will auch gar nicht eure Hilfe! Ich fühle mich sauwohl. Der Redner, den dieser komische Knirps da gezaubert hat, – das war doch noch ein Kerl! Der liebt bestimmt die Frau, die ihm Spaß macht und nimmt nicht ununterbrochen Rücksicht. Der redet auch nicht drumrum. Und ich tu’s auch nicht mehr. Hier: Ich schmeiße euch meine Wahrheit vor die Füße: Ich liebe Empore! Ich liebe Empore. Mehr als früher, mehr als meine Frau. Alles andere ist mir egal. Ich will nicht mehr edel sein, und immerzu bereit und… Meine Frau ist mir egal, meine Kinder sind mir egal. Ich liebe Empore. (Geht zu ihr.)
EMPORE
Komm mir nicht zu nahe.
REDNER
(Hat aus seiner Tasche ein schwarz-weißes Kreuz geholt, das er an Hellsinns Brust befestigt.) Ich verhafte dich mit dem Friedensstrafkreuz. Du weißt, was es dir auferlegt. Die Gemeinschaft stößt dich aus und auf dich selbst zurück. Empore wird dir dieses Kreuz abnehmen, wenn du sie darum bittest, wenn du dich ent-schuldet hast. Man wird “Sie” zu dir sagen. (Geht.)
HELLSINN
(Zu seiner Frau:) Entschuldige, aber … sieh mal –
FRAU HELLSINN
(Mit Überwindung:) Ich sehe nichts an Ihnen. (Geht.)
EMPORE:
(Zu Hellsinn:) Sie werden mich bald bitten, Ihnen das (Deutet auf das Kreuz.) abzunehmen, nicht wahr? Komm, Würfelbechermann. (Will gehen.)
WÜRFELBECHERMANN
(Will ihr folgen.)
HELLSINN
(Geht ihnen nach.) Ich komme auch mit, Empore.
EMPORE
Sie wissen, dass Sie mir mit diesem Kreuz nicht folgen dürfen. Es sei denn, um mich zu bitten, es Ihnen abzunehmen. Aber so weit kann es noch nicht sein.
HELLSINN
Ich weiß schon, was das Kreuz mir auferlegt. Ich gehe auch nicht dir nach, sondern dem Würfelbechermann. Und da er dir folgt, schlage ich dem Kreuz ein Schnippchen! Denkt doch nicht, dass es so leicht sei, Hellsinn zu bestrafen.
WÜRFELBECHERMANN
Es ist sehr leicht, Herr Minister. Ich werde Empore nicht folgen. (Geht nach der anderen Seite.)
HELLSINN
(Bleibt verdutzt stehen. Dann geht er zur Pauke.)
DIE DREI
(Bilden ein großes Dreieck.)
EMPORE
(Traurig:) Wirst du Lieschen sehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ich weiß nicht. Es gibt viele Möglichkeiten. (Geht.)
EMPORE
Komm wieder… (Zu Hellsinn:) Was meinst du: Ob er Lieschen sehen wird?
HELLSINN
(Erstaunt, dass sie ihn anspricht:) M i c h fragst du?
EMPORE
(Mit leisem Lächeln:) Ja, entschuldige, du kannst es ja gar nicht wissen….
HELLSINN
Es scheint dich ja sehr zu interessieren?!
EMPORE
(Schaut ihn erschrocken an:) Ja. (Geht schnell weg.)
HELLSINN
(Setzt sich auf die Pauke und schaut ihr nach.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XVI
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor das Podest. Humorig:) Nun finde ich mich besonders edel. Ich habe in einer Zeit, in der ich noch gar nicht lebe, ein Opfer gebracht. Und ich wäre kein Mensch, wenn ich dabei nicht selbstvoll an den Lohn gedacht hätte! Die sind mir doch nun verpflichtet. Ich knüpft ein Band. Bande knüpfen ist vorteilhaft.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt. Ziemlich entrüstet:) Hören Sie mal! Was soll denn das?!
WÜRFELBECHERMANN
Was?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Na, ich komme ja nicht zu Potte mit meinem Gedicht. Nirgends lässt man mich zu Ende kommen. Was ist denn das für ein Theater, wo man nicht mal Goethe rezitieren darf?!
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich weiß auch nicht was das für –
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Also, ich bitte Sie, Ihren ganzen Würfelbechereinfluss einzusetzen, dass ich mal zu ende rezitieren darf. Egal wo. Und wenn ich Goethe in der negativen Zukunft beenden muss. (Empört sich noch einmal:) Es ist ja gradezu ein Skandal, eine Kulturschande, wie Goethe in Zukunft behandelt wird. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Mensch, ich habe ganz andere Sorgen. Tja, also vorhin, zu Anfang, da hieß es für mich: Wie sag ich’s meinem Publikum? Jetzt heißt es viel komplizierter: Wie sag ich’s meinen Haaren? Vielmehr: Ihren Haaren. Vielleicht könnten Sie so gut sein und mal rausgehen, und ihre Haare dalassen. Ich habe nämlich eine kleine Ansprache zu richten. Moment mal: wenn Sie rausgehen, würden Sie wahrscheinlich Ihre Haare mitnehmen. Das hätte auch keinen Zweck. Hmm.. Also, ich weiß keine andere Lösung: Ich bitte Sie sehr um Entschuldigung, dass Sie diese Ansprache an Ihre Haare mit anhören müssen. (Zieht einen Zettel hervor. Entdeckt etwas im Zuschauerraum.) Da sitzt ja eine Glatze. Also, jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich machen soll. (Leicht verärgert:) Ach was! Ich lese einfach vor. Mir ist vollkommen egal, ob da Glatzen mithören, oder nicht. Also: (Liest:) “Meine sehr verehrten Langen und Kurzen! Ich wende mich an Sie alle, unbeschadet Ihrer farblichen oder gefärbten Unterschiede. Ich kenne keine Haarspaltereien mehr, nur noch Haare! Es könnte passieren, dass Sie sich sträuben, oder gerauft werden. Und ich bitte Sie: Sträuben Sie sich nicht. Setzen Sie jeder Raufung den entschiedensten Widerstand entgegen. Hinterher würden Sie sich nämlich ärgern, sich gesträubt zu haben. Oder gerauft worden zu sein.” So weit die Ansprache an die Haare.
***
/Vorhang auf./
XVII Straße
/Eine transparente Häuserfront ist vor dem Podest aufgestellt. Fenster und Türen sind durch Rahmen erkenntlich. Stufen führen vorn in der Mitte vor dem Podest durch eine “Tür” ins Hausinnere. Am hinteren Podestrand ist ebenfalls eine Häuserfront sichtbar, sodass der Eindruck einer Straße entsteht. Eine PUPPE VON HELLSINNS FIGUR UND KLEIDUNG liegt zusammengekauert auf der Pauke./
XVII, 1
WÜRFELBECHERMANN
Und nun ein paar Worte über das, was hier zusammengewürfelt ist. (Geht aufs Podest.) Ich stehe jetzt auf der Straße. Das hier sind Fenster und Türen. Sie, meine verehrten Damen und Haare – äh, Herren befinden sich sozusagen im Haus. Es ist ein gewöhnliches Mietshaus in der ekelhaften Zukunft. Natürlich viel höher, als sich das hier aufbauen lässt. Das Haus steht buchstäblich über den Horizont hinaus. Sie könnten sozusagen auch aus dem Fenster sehen. Aber fallen Sie nicht raus.
EINE PUPPE VON KINDLICHER FIGUR
(Fällt aus einem oberen Stockwerk auf die Straße.)
WÜRFELBECHERMANN
(Erschrickt, will hingehen, zieht sich aber in die Nähe der Pauke zurück, weil er jemanden kommen sieht.)
XVII, 2
MINISTER
(Kommt, sieht die Leiche, wartet an einer Ecke.)
AT 621 WEIBLICH
(Kommt aus dem vorderen Haus aufs Podest, schaut sich um, geht zum Minister, bettelt:) Eine kleine Gabe.
MINISTER
Betteln? Jetzt, wo man in allen Rüstungsfabriken Überstunden machen und steinreich werden kann?
AT 621 WEIBLICH
Kleine Gabe – für den Modesalon.
MINISTER
Da hört sich doch alles auf! Was wollen Sie arme Person denn im Modesalon? Drehen Sie den Gashahn auf oder springen Sie aus dem Fenster.
AT 621 WEIBLICH
Wir wohnen im Keller und sind zu arm für eine Gasleitung.
MINISTERGATTIN
(Kommt.) Mit wem sprichst du denn da?
MINISTER
Sie will Geld für den Modesalon.
MINISTERGATTIN
Bettelweib! Gehen Sie arbeiten! Verdienen Sie sich das Geld für den Modesalon auf anständige Weise!
AT 621 WEIBLICH
(Geht.)
XVII, 3
MINISTERGATTIN
Also, was ist mit dir, Schnuckiputzi?
MINISTER
Tja – ich bin weiterhin in Ungnade beim Führer. Er verzeiht mir nicht, dass ich die Verstaatlichung der Anarchie nicht beschleunigt habe. Der Überstaatssekretär wollte mich gar nicht empfangen. Ich ging aber einfach rein. Und da sagte er mir, ich solle froh sein, dass es nur ein Einberufungsbefehl und kein Haftbefehl sei.
MINISTERGATTIN
Und? Was wirst du nun tun? Dem Führer zu Füßen fallen?
MINISTER
Wo denn? Er ist doch schon vor Kriegsausbruch ins Hauptquartier.
MINISTERGATTIN
(Sentimental:) Siehst du, dahin wollte er mich mitnehmen und mir jeden Tag einen Strauß roten Kriegsmohn schenken.
MINISTER
Ja, daraus wird nun nichts.
MINISTERGATTIN
Weil du ein Popanz bist.
MINISTER
Tja, ich muss nun in die Kaserne. Was wirst du tun?
MINISTERGATTIN
Was bleibt mir denn übrig, als in den Modesalon zu gehen?
MINISTER
(Entsetzt:) Nein!
MINISTERGATTIN
Natürlich. Du kannst mir doch nicht zumuten, dass ich Polizistin werde!
MINISTER
Das werde ich zu verhindern wissen. Ich habe überall meine Beziehungen.
MINISTERGATTIN
Du? Wer die Gnade des Führers verliert, verliert auch seine Beziehungen.
MINISTER
Es könnte doch sein, dass ich lebend zurückkomme.
MINISTERGATTIN
Oder als Krüppel. Dann sind wir ein armes Ministerehepaar a. D. Nein, nein. Gib mir nur das Geld für den Modesalon.
MINISTER
Nein, also ich kann mir das nicht antun.
XVII, 4
POLIZIST
(Kommt mit einem Handkarren voller Uniformstücke und Listen, sieht die Leiche. Zur Ministergattin:) Ausweis.
MINISTERGATTIN
(Gibt ihm den Ausweis.)
POLIZIST
(Sieht sich den Ausweis aufmerksam an.)
MINISTERGATTIN
(Will ihren Mann mit sich fortziehen.)
POLIZIST
Halt! Wie wollen Sie denn ohne Ausweis leben? (Prüft weiter.)
MINISTERGATTIN
(Leise:) Ich will ja nicht. (Zu ihrem Mann:) Gib mir das Geld!
MINISTER
Nein. Du weißt, dass der Modesalon verboten ist. Und ich war schließlich Minister.
POLIZIST
(Gibt ihr den Ausweis zurück:) Zur Polizei eingezogen. (Setzt ihr eine sehr große Mütze tief ins Gesicht, schmeißt ihr ein paar klotzige Filzstiefel hin, gibt ihr einen viel zu weiten Mantel, Karabiner und Revolver mit Tasche.) Anziehen, umschnallen, ausrüsten. Erster Sold in der Tasche. Fürstlich! (Klingelt mit einer Glocke wie ein Ausrufer und liest dann von einem Blatt Papier:) “Achtung! Folgsames Volk! Das Volk hat euch den Krieg zu erklären. Es gelten alle bei früheren Kriegsausbrüchen verordneten Verordnungen. Darüber hinaus befiehlt zum 186. Kriegsausbruch das Volk dem Volk:
- Ideologische Notverständlichkeit kriegerischer Fortsetzung eingeschlagener Politik mit anderen Mitteln ist vom Volk einzusehen und dementsprechend zu handeln, zu rüsten und zu morden.
- Selbstmord jedoch ist streng verboten und zieht bei Missglücken die Todesstrafe nach sich.
- Bimmelnde, kriegserklärende Polizisten ziehen fahrende Bekleidungskammern mit sich, um das nicht werktätige Volk sofort zu polizistisieren.” (Bimmelt.)
MINISTER
(Will gehen.)
POLIZST
Halt! Wohin denn?
MINISTER
Zur Truppe. Ich habe die Einberufung.
POLIZIST
Moment. Da die Truppen verschoben werden, sind Truppenverschiebungen im Gange. Ausweis.
MINISTER
(Gibt ihm den Ausweis.)
POLIZIST
(Gibt ihn der Ministergattin:) Lesen!
MINISTERGATTIN
(Hat sich in ein widerliches Flintenweib verwandelt, liest monoton, ohne Pause:) “IRF 4891 männlich. Geboren 11.7.678 in BX; erlernter Beruf: römisch drei Schrägstrich 17586 klein A; ausgeübter Beruf: römisch eins, Schrägstrich eins, groß A; Arbeitsamt: 64532 Schrägstrich klein A 881; Wohnungsamt: 467583 Schrägstrich klein C minus 15; Kartenstelle: 6419 Schrägstrich römisch – (Muss atmen.)
POLIZIST
(Hat in Listen verglichen und bei jedem Posten genickt.) Was ist denn?
MINISTERGATTIN
Musste atmen. (Liest weiter:) “767; Wehrnummer: 1486 Schrägstrich römisch drei Schrägstrich 740 groß B klein IFB Atombombenabwehrbekämpfung.
MINISTER
Was ist denn das?
POLZIST
Die neue Geheimwaffe des Führers, die gegen die Atombombenabwehr eingesetzt wird. Polizistin! Führen Sie den Mann zur Atombombenabwehrbekämpfungskompanie 234 in der 849. Kaserne. Die ist gleich um die Ecke. Waffengewalt ist anzuwenden.
MINISTERGATTIN
(Legt die Pistole an die Schläfe.) Zu Befehl!
POLZIST
Nehmen Sie die Pistole von der Schläfe! Sie sind doch hier nicht im Modesalon.
MINISTERGATTIN
(Verbessert ihre Haltung.) Zu Befehl. (Zu ihrem Mann:) Nun geh, du Popanz, ich habe Waffengewalt über dich.
MINISTER
(Geht.)
MINISTERGATTIN
(Folgt ihm als hätte sie nie Stöckelschuhe getragen.)
POLIZIST
(Zieht lachend mit seinem Karren hinterher.)
XVII, 5
AT 621 WEIBLICH
(Kommt, vorsichtig umherspähend.) Keiner gibt mir Geld für den Modesalon. Und ich muss doch. Ich habe schon fünf Überstunden versäumt. Die prügeln mich tot. (Sieht Hellsinn, untersucht ihn vorsichtig, fasst in seine Taschen.) Der hat kein Geld, armer Toter.
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt vor.) Was tun Sie denn da?
AT 621 WEIBLICH
(Erstaunt und froh:) Würfelbechermann?! Ich sehe dich wieder?!
WÜRFELBECHERMANN
Was suchen Sie denn bei dem Herrn?
AT 621 WEIBLICH
Nichts mehr. Ich bin selig, denn ich habe dich ja wieder…
POLIZIST
(Kommt mit dem Karren wieder, wartet an der Leiche auf jemanden.)
AT 621 WEIBLICH
Polizei! (Verschwindet im vorderen Haus, bleibt am Türrahmen – also vor dem Podest – ab und zu herauslugend, zu sehen.)
MINISTERGATTIN
(Ist dem Polizisten gefolgt.)
POLIZIST
Und das kann ich dir sagen: Wenn alles zugrunde geht, – die Polizei bleibt übrig. Wir zeugen dann ein neues Geschlecht von Polizisten. (Anzüglich:) Machst du da mit?
MINISTERGATTIN
(Zuckt die Achseln.)
POLIZIST
(Meint die Leiche:) Was ist denn das?
MINISTERGATTIN
Ne Kinderleiche.
POLIZIST
(Hat Hellsinn entdeckt. Schüttelt ihn.) Und hier ist ‘ne Männerleiche.
WÜRFELBECHERMANN
Verzeihung, der Herr schläft auf seiner Pauke.
POLIZIST
Im Moment schläft man bei uns nicht. (Versucht vergeblich, Hellsinn zu wecken.) Der Mann ist tot. Kommen Sie mit.
WÜRFELBECHERMANN
Warum?
POLIZIST
Weil Sie der Mörder sind. Das heißt – (Blättert in seinen Listen:) Sie haben Glück. Eigentlich leben wir in einem Rechtsstaat. Aber weil Krieg ist, wird jeder Mann gebraucht. Besonders Mörder. Haben Sie keine Einberufung?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
POLIZIST
Komisch. (Nimmt wieder seine Liste zur Hand.) Jahrgang?
WÜRFELBECHERMANN
Zweiundzwanzig.
MINISTERGATTIN
(Zum Würfelbechermann:) Was hatte der Tote für Augen?
POLIZIST
Hier: 722.
WÜRFELBECHERMANN
Verzeihung: 1922! Das heißt natürlich… Wieso? Das Stück spielt doch in der Zukunft.
MINISTERGATTIN
Was?
WÜRFELBECHERMANN
(Etwas verdattert:) Ich meine, das kann doch nicht stimmen: 722 nach Christus?
MINISTERGATTIN
Wer ist denn das?
WÜRFELBECHERMANN
Jesus Christus.
POLIZIST
Nie gehört.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wann war denn das Jahr 1?
POLIZIST
Ist denn das die Möglichkeit! Haben Sie denn nie Religionsunterricht gehabt?
WÜRFELBECHERMANN
Wieso? Doch – eben.
POLIZIST
Na und? Haben Sie im Religionsunterricht nicht gelernt, dass unsere Zeitrechnung von der Gründung des Dritten Reichs im ehemaligen Deutschland datiert?
WÜRFELBECHERMANN
Ach so! Naja, ich erinnere mich. Aber das dauerte doch nur 12 Jahre?
POLIZIST
Richtig. Aber dann kam bekanntlich Führer II und richtete es noch mächtiger und herrlicher wieder auf.
MINISTERGATTIN
Die Schläfe des Toten ist durchsichtig wie Glas, als ob er träumte. Woher kannten Sie ihn?
WÜRFELBECHERMANN
Von woanders.
POLIZIST
Der ganze Fall ist sehr verdächtig. Hier liegt Sabot-, wenn nicht gar Spionage vor. Ich werde die Justizbürokratie in Bewegung setzen. Polizistin! Bewachung von Leiche und Mörder. Weisung abwarten. Waffengewalt ist anzuwenden.
MINISTERGATTIN
(Salutiert.) Zu Befehl!
POLIZIST
(Schiebt ab.)
XVII, 6
MINISTERGATTIN
Warum haben Sie ihn denn ermordet?
WÜRFELBECHERMANN
Er ist ja gar nicht tot. Er schläft.
MINISTERGATTIN
(Untersucht Hellsinn. Erstaunt:) Tatsächlich. Er atmet ganz ruhig. So ruhig möchte ich auch einmal atmen können. Und Sie wissen nicht, was er für Augen hat.?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
MINISTERGATTIN
Schade. Und sein Beruf?
WÜRFELBECHERMANN
Er ist Minister gewesen.
MINISTERGATTIN
Ach, dann hätte er ja mein Mann sein können.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, hätte…
MINISTERGATTIN
Und er kann hier ganz bestimmt nicht aufwachen?
WÜRFELBECHERMANN
Nein. Was soll er auch? Wünschen Sie es ihm? Jetzt, bei Kriegsausbruch?
MINISTERGATTIN
Nein, es hätte gar keinen Sinn. Es hat gar keinen Sinn. (Zieht den Mantel aus.) Die Pistole im Rücken meines Mannes hat mir auch nur wenig Freude bereitet. Ich will ihn zudecken, er könnte frieren. (Tut es.) Nein, wenn er die Augen hier nicht aufmacht, – hat es keinen Sinn mehr. Ich gehe doch in den Modesalon. (Schnürt das Koppel um die elegante Taille, hängt den Karabiner über die elegante Schulter und will – eine schreckliche Witzfigur – gehen.) Halt, das Geld! (Holt es aus der Manteltasche und geht.)
XVII, 7
AT 621 WEIBLICH
(Kommt schnell aus dem “Haus”.) Würfelbechermann, lass uns fliehen. Ich habe dich gesucht, seit du in den Gittern verschwunden warst. Du mein Abgott, mein Ideal!
WÜRFELBECHERMANN
(Unangenehm berührt:) Was sind das für Worte?
AT 621 WEIBLICH
Woher soll ich andere nehmen?
WÜRFELBECHERMANN
Wohin willst du denn immer fliehen?
AT 621 WEIBLICH
So gib mir Geld.
WÜRFELBECHERMANN
Ich habe kein Geld für dich!
AT 621 WEIBLICH
Nein, du hast nur für deine Empore.
MINISTER
(Kommt aufgeregt:) Wo ist meine Frau?
WÜRFELBECHERMANN
Zum Modesalon.
MINISTER
Aber sie braucht nicht. Ich werde nicht Soldat. (Rennt weg.)
AT 621 WEIBLICH
Kein Geld. Keine Liebe. Keine Flucht….
WÜRFELBECHERMANN
Was ist das für ein Modesalon?
AT 621 WEIBLICH
Ein ehemaliger Modesalon… (Sieht die Kinderleiche. Mit erstauntem Bedauern:) Och, der kleine SNZ 784. (Ruft nach oben:) Was hat er denn getan?
STIMME VON OBEN
Konsum hat er gespielt. Mit richtigem Geld. Wie ich ihn verdreschen wollte, ist er aus dem Fenster gesprungen. Warten Sie, ich hole gleich das Geld.
AT 621 WEIBLICH
(Fasziniert:) Geld? (Untersucht den Jungen. Findet eine Waage in seinen Händen.) Eine Waage. (Findet Geld.) Und hier ist Geld! Oh, wie viel! So, nun kann ich meinen Tod kaufen. (Rennt weg.)
/Vorhang. Umbau./
***
XVIII
WÜRFELBECHERMANN
(Hat die Waage genommen und ist vom Podest gesprungen.) Er hat Konsum gespielt. Er wird nie wieder Konsum spielen, der kleine SNZ 784. Lassen Sie uns etwas spielen. Lassen Sie uns die beiden Zukünfte wiegen, mit denen wir uns nun schon seit längerer Zeit beschäftigen. Ich meine: Es ist ja ziemlich klar, welche die schwerere ist, – Aber trotzdem. (Würfelt.) So, hier habe ich jetzt die hässliche Zukunft zusammengewürfelt. (Schüttet sie in eine der Schalen, die sinkt. Würfelt wieder.) Und hier die andere, in die wir alle doch wohl wollen. (Schüttet sie in die andere Schale. Die Schalen halten sich die Waage.) Nanu? Das kann doch nicht stimmen. Das ist doch unmöglich, dass es bei Empore genau so schwer ist, wie bei dem Führer. Das ist ja eine vollkommen unempfindliche Waage. Das wollen wir doch gleich mal ausprobieren. (Schüttet die Schaleninhalte aus.) So, raus mit den Zukünften. Und nun würfle ich in die eine Schale das Theater. (Tut es. Die Schale sinkt.) Und in die andere das Leben. (Tut es. Die letztere Schale hat weitaus mehr Gewicht.) Doch. Die funktioniert. Das Theater hat es sich doch zu allen Zeiten leichter gemacht. Das Leben war immer um etliche Pfund schwerer. Vielleicht habe ich vorhin nicht richtig gewürfelt. (Schüttet wieder aus und würfelt.) So, hier kommt jetzt also rein: Kellerwohnküche, Angst, Einberufung und Willkür. (Füllt eine Schale, die sich daraufhin senkt. Würfelt weiter.) Und hier: Geldabgabeschalter, Verständnis, Papierkorb und Verhaftung mit dem Kreuz. (Füllt die andere Schale, die weitaus leichter bleibt.) Na also. Das wäre ja auch zu komisch gewesen. So. (Lässt die Waage stehen.) Jetzt entschuldigen Sie mich bitte ein paar Minuten. Ich will nur zum Radio, ob die {Pferdenamen, wie oben} gewonnen haben. (Geht.)
***
XIX Orchester und Radio
/Von einem Orchester ist nur das Dirigentenpult und der Platz des Paukers sichtbar. In einer davon entfernten vorderen Ecke des Podests befindet sich ein Gewirr aus Drähten. HELLSINN liegt auf der Pauke./
XIX, 1
HELLSINN
(Erwacht, steht auf, sieht sich verwundert den Mantel an, wirft ihn hinter das Podest und kämmt sich gähnend.)
FRAU HELLSINN
(Geht mit einem leeren Netz vorüber.)
HELLINN
(Tritt ihr vorsichtig in den Weg.) Ah, Guten Morgen.
FRAU HELLSINN
(Bleibt einen Augenblick stehen, schaut ihn an, geht dann weiter.)
HELLSINN
Wohin gehst du?
FRAU HELLSINN
Zitronen einkaufen. Für die Kinder.
HELLSINN
Und? Wie geht es dir und den Kindern?
FRAU HELLSINN
(Schüttelt den Kopf und geht dann weiter.)
HELLSINN
Wenn sie Zitronen holt, muss es ihr ganz gut gehen. (Geht zum vorderen Podestrand und balanciert herum.) Wenn sie in die Apotheke gegangen wäre, hätte ich mir Sorgen gemacht. Das heißt, Zitronen sind natürlich bei Fieber auch sehr gut, und wenn eines erkältet ist… Ach was, Zitronen sind auch für Gesunde sehr gesund. (Erinnert sich seiner Träume:) Es brach ein Krieg aus. Träume kommen aus uns, lehrt die Wissenschaft. Es brach ein Krieg in mir aus. (Erinnert sich weiter:) Ich hatte kein Geld. Und ein armes Geschöpf wollte welches von mir für ein modisches Kleid. Und ich wusste im Traum nicht, ob ich glücklich sein sollte, weil ich das Geld los war, oder unglücklich, weil ich dem armen Geschöpf nicht helfen konnte.
XIX, 2
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt vor dem Podest heraus, deutet auf das Kreuz:) Ah, ausgezeichnet?
HELLSINN
Ja.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ausgezeichnet. Ich selbst habe auch das Kriegsverdienstkreuz erster Klasse für ausgezeichnete, vorbildliche (Betont:) und mustergültige Schreibarbeit hinter der Front erhalten.
HELLSINN
Kriegsverdienstkreuz sagst du?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Verzeihen Sie. Ich habe leider nicht die Ehre, Sie zu kennen… Ach so, du warst wahrscheinlich auch bei der 12. Panzergrandier?
HELLSINN
(Verständnislos:) Bitte?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ja… Wie heißt den Ihr Kreuz?
HELLSINN
Friedensstrafkreuz.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Friedensstrafkreuz? Das verstehe ich nicht.
HELLSINN
Ich verstehe ja deins auch nicht.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich möchte wissen, was am Kriegsverdienstkreuz nicht zu verstehen sein soll. Wofür haben denn – du das Kreuz bekommen?
HELLSINN
Ich war Minister für Geldabschaffung und –
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Interessiert:) Ach, das ist ja putzig. Ich habe meins auch für Geldabschaffung bekommen. Und zwar war ich Sonderreferent in der Hauptabteilung Papierwesen. Wollen Sie Goethe hören?
HELLSINN
Ja, bitte.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Beginnt sein Gedicht zu rezitieren.)
HELLSINN
(Unterbricht nach der zweiten Zeile:) Ach nein, das bitte nicht. Das passt so gar nicht zu meiner gegenwärtigen Situation.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Wenn man dieses Gedicht unpassend findet, – das ist ein sehr schlechtes Zeichen. (Geht.)
HELLSINN
(Balanciert weiter, meint das Kreuz:) Ja, ein gutes Zeichen ist das nicht. Man hat mich mit der absoluten, abstrakten Freiheit bestraft: Ich schwanke ohne Bindung am Podestrand. Niemand spricht mit mir, nur ein ausgezeichneter Herr, der auch ein Kreuz trägt. Ich bekomme Essen, ein Dach überm Kopf, und wenn’s lange genug dauert auch einen neuen Anzug. Den kann ich mir allerdings nicht aussuchen – er muss mir passen, wie eine Uniform. Ich arbeite nicht und höre nicht das Geschrei meiner Kinder. Und in dieser absoluten Freiheit träume ich von Kriegsausbruch. Und ich wünschte, es würde jetzt ein Fremder kommen und mich fragen, wie man von hier zum Platz der Liebe kommt. Oder zur Straße des Wohlwollens. Aber niemand fragt mich. Die absolute Freiheit verurteilt mich zum Monolog.
XIX, 3
WÜRFELBECHERMANN
(Kommt mit einem Radio und sucht herum.)
HELLSINN
(Sieht ihn, für sich:) Ob der mit mir spricht? Dieser Reisende zwischen den Zeiten? Ich probiere. (Spricht ihn an:) Guten Morgen. Wie geht’s?
WÜRFELBECHERMANN
Danke. Haben Sie gut geschlafen?
HELLSINN
Ein bisschen schlecht geträumt. Mit so’m Kreuz träumt sich’s nicht gut.
WÜRFELBECHERMANN
Ja ich weiß. Der Kriegsausbruch, die Frau Polizistin …
HELLSINN
Richtig! Du warst ja dab- (Plötzlich:) Woher weisst du denn, was ich geträumt habe?
WÜRFELBECHERMANN
Ich würfle auch in Träumen.
HELLSINN
Was hast du denn da?
WÜRFELBECHERMANN
Ein Radio. Ich habe im Pferderennen gesetzt. Ich muss wissen ob {Pferdenamen, wie oben} gewonnen haben. (Sucht weiter.)
HELLSINN
(Für sich:) Er spricht zwar mit mir, aber es fällt mir manchmal schwer, ihm zu folgen.
WÜRFELBECHERMANN
(Hat die Drähte entdeckt:) Ah, hier können wir es installieren. Hier wird geerdet. (Macht sich zu schaffen.)
HELLSINN
Und wo willst du himmeln?
WÜRFELBECHERMANN
Himmeln? (Lacht:) Reizend. (Verbessert sich:) Ich meine: hübscher Ausdruck. Das nennt man doch Antenne.
HELLSINN
Warum nicht Himmel?
WÜRFELBECHERMANN
Weil man wohl einen Stöpsel in die Erde stecken kann, denn sie ist ja sehr nah. Aber in den Himmel kann man wohl keinen Stöpsel stecken, – der ist doch weit weg.
HELLSINN
Willst du nicht Empore wiedersehen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja. Nur schnell die Sportnachrichten.
BEIDE
(Arbeiten mit den Drähten herum.)
XIX, 4
DIRIGENT
(Kommt mit Taktstock und Partitur.)
BAUER
(Folgt ihm mit Paukenschlägeln.) Du, Dirigent…
DIRIGENT
Ja, bitte?
BAUER
Ich bin Bauer.
DIRIGENT
Ja, und?
BAUER
Ich habe gestern von meinem Bauernhof eine Pauke hierher gefahren. (Sieht die Pauke.) Da steht sie ja. Ja, das ist sie. Und wie ich sie ablade, – da stehen ein paar Musikanten. Die geben mir alle die Hand und meinen, ich bin der neue Pauker. Dann sagen sie mir, dass ich heute früh Probe habe. Und nun bin ich da.
DIRIGENT
Früher war doch in diesem Orchester der Hellsinn. Das Geld ist doch abgeschafft. Warum paukt er denn nicht wieder?
BAUER
Ja, ich weiß auch nicht.
DIRIGENT
Ja, dann wollen wir’s mal probieren.
BAUER
Ja, ich freu mich ja schon die ganze Nacht aufs Pauken. Ich fürchte halt nur, dass mir gewisse Fachkenntnisse abgehen könnten.
DIRIGENT
Das werden wir sehen. (Geht zum Pult, schlägt die Partitur auf.)
BAUER
(Geht zum Platz des Paukers.)
DIRIGENT
(Beginnt ein unhörbares und – bis auf den Pauker – unsichtbares Orchester zu dirigieren.)
HELLSINN
(Wird beim ersten “Ton” aufmerksam und geht in die Nähe des Dirigenten. Das Interesse am Radio schwindet.)
XIX, 5
EMPORE
(Kommt. Sieht den Würfelbechermann, geht schnell und froh zu ihm hin.) Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
(Ist schon ziemlich in den Drähten verwickelt.) Ah, Empore. Grüß dich.
EMPORE
Was tust du denn da?
WÜRFELBECHERMANN
Ich installiere das Radio wegen der Sportnachrichten, weil ich doch gewettet habe.
DIRIGENT
(Klopft ab.) Triolen, Paukerle, Triolen in D. Nochmal Nummer 9. (Dirigiert.)
EMPORE
Haben wir nichts anderes zu tun?
WÜRFELBECHERMANN
Das läuft doch nicht weg. Aber die Nachrichten laufen weg. Radio ist unerbittlich.
EMPORE
Glaubst du, nur das Radio ist unerbittlich?
BAUER
(Hat auf einen deutlichen Einsatz des Dirigenten wild gepaukt.)
DIRGENT
(Klopft ab. Etwas ungehalten:) Erstens Triolen, lieber Pauker, zweitens in D. Bambaba – bambaba – bambaba – ba. Also noch mal Nummer 9. (Dirigiert.)
EMPORE
Ich habe Angst vor deinem Radio.
WÜRFELBECHERMANN
(Mitleidig:) Aber Empore.
EMPORE
Ich kenne mich nicht damit aus.
WÜRFELBECHERMANN
(Ein bisschen angeberisch:) Na, dann verlass dich in diesem Fall mal ausnahmsweise ganz auf mich.
BAUER
(Hat wieder wild gepaukt.)
DIRIGENT
(Klopft wütend ab.) Triolen, du Pauker. Kennst du denn keine Noten?
BAUER
Nein.
DIRIGENT
Und du bildest dir ein – ?
BAUER
Ich bilde mir gar nichts ein. Das Ganze ist ein Unglücksfall. Werd du nicht laut, weil ich keine Noten kenne. Sonst frag ich dich, wie man eine Kuh melkt.
DIRIGENT
Das weiß ich nicht.
BAUER
Na, alsdann.
DIRIGENT
Ich weiß nur, dass du nicht pauken kannst.
BAUER
Ich will auch gar nicht mehr. (Kommt zum Dirigentenpult.)
HELLSINN
Verzeihung, lieber Dirigent.
DIRIGENT
(Dreht sich um, erkennt ihn und will ihm erfreut die Hand drücken.) Mein lieber Hell – (Sieht das Kreuz, zieht die Hand zurück.)
HELLSINN
Könnte ich nicht aushelfen?
DIRIGENT
Ich schätze deine – äh, Ihre Fähigkeiten, aber –
HELLSINN
(Schaut auf sein Kreuz.) Ach so. (Geht zu Empore.) Empore, bitte nimm mir das ab.
EMPORE
Warum?
HELLSINN
Ich muss arbeiten, pauken.
EMPORE
(Nimmt ihm das Kreuz ab.)
HELLSINN
(Atmet erleichtert auf und rennt zum Dirigenten.) Und nun?
DIRIGENT
(Schüttelt ihm die Hand.) Ich freue mich sehr. (Zum Bauern:) Nichts für ungut, lieber Bauer.
BAUER
Aber! Alles für gut, lieber Dirigent. Es war mein Fehler. Ich habe geglaubt, das macht Spaß. Meine Kühe warten. (Gibt Hellsinn die Schlägel und geht.)
HELLSINN
(Rennt zum Platz des Paukers.)
DIRIGENT
Wir beginnen noch einmal von vorne. (Dirigiert.)
HELLSINN
(Paukt zuweilen, glücklich und sachlich, die Härte der folgenden Szene manchmal wirksam kommentierend.)
XIX, 6
WÜRFELBECHERMANN
Was machst du denn jetzt mit dem Kreuz?
EMPORE
Soll ich dich verhaften?
WÜRFELBECHERMANN
Mich? Wieso denn?
EMPORE
Aber hier haftet es wohl besser. (Befestigt es am Radio.)
FRAU HELLSINN
(Ist mit einem Netz voller Zitronen gekommen. Sieht Hellsinn und Empore. Rennt zu Empore.) Empore! Hast du’s ihm abgenommen?
EMPORE
Ja. Er bat mich darum. Er müsse arbeiten, pauken. Und da unsere gemeinsame Arbeit sowieso getan ist –
FRAU HELLSINN
(Unterbricht: ) Ja, nachher, entschuldige. Ich muss ihn pauken hören. (Setzt sich beim Dirigenten und hört zu.)
WÜRFELBECHERMANN
Halte doch bitte mal diesen Draht hier.
EMPORE
(Entschieden:) Nein.
WÜRFELBECHERMANN
(Schaut sie etwas verwundert an.) Na schön. Ich hab’s nämlich gleich, und dann ist alles vorbei.
EMPORE
Alles vorbei?
WÜRFELBECHERMANN
Ich meine, wenn ich die Sportnachrichten gehört habe. Wir müssen ja dann nicht gleich abstellen. Vielleicht kommt noch eine hübsche Musik. Ich kenne Leute, die hören sich den ganzen Tag allen Quatsch an, bloß weil sie hoffen, dass irgendwann einmal was Schönes kommt. Hoffnung ist die ewige Nahrung des Radiohörens.
EMPORE
Als du dein Geld abgeben wolltest, warst du mir näher.
WÜRFELBECHERMANN
Da waren die Sportnachrichten auch weiter weg.
EMPORE
Bei uns wird nicht viel Radio gehört.
WÜRFELBECHERMANN
So ‘ne Errungenschaft sollte allen zugute kommen. Da waren wir ja schon weiter.
EMPORE
Vielleicht. Aber gewiss nicht näher.
WÜRFELBECHERMANN
Außerdem könntest du mir ruhig anrechnen, dass ich dich vorhin von Hellsinns Verfolgung befreit habe.
EMPORE
Anrechnen? Gute Taten taugen nicht fürs Rechenheft.
WÜRFELBECHERMANN
Ich hab’s!
XIX, 7
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommt mit einem Megaphon und liest einblendend und ohne Unterbrechung fortfahrend:) {die neuesten Nachrichten}
EMPORE
(Hört unangenehm berührt zu.)
WÜRFELBECHERMANN
(Kommentiert erstaunt eine Nachricht:) Wann? Das ist ja – (Bricht ab.)
EMPORE
Was ist denn?
WÜRFELBECHERMANN
(Ungehalten:) Sei doch still! (Sich nervös entschuldigend:) Nachher.
EMPORE
(Nach einer Pause:) Bitte tu das weg, Würfelbechermann.
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
EMPORE
(Wieder nach einer Pause. Etwas stiller und schwächer:) Es tut mir weh.
WÜRFELBECHERMANN
(Gereizt-geduldig:) Liebes, jetzt kommen gleich die Sportnachrichten. Du könntest wirklich ein bisschen Rücksicht – (bricht – von der Nachricht wiederum gefesselt – ab.)
EMPORE
(Ist zusammengesunken, lallt in größter Schwäche:) Ich habe Rück – sicht genommen. (Fällt vom Podest, Radio und Drähte mit dich reißend.)
WÜRFELBECHERMANN
(Ruft:) Empore! Vorsicht!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Bricht ab und geht.)
WÜRFELBECHERMANN
(Aufgescheucht und durcheinander:) Empore! Das ist doch – Empore! Die Sport – (Sucht sie.) Wo bist du denn? (Ruft dem ziemlich seriösen Herrn nach:) Hallo, Empore! Was soll das denn? (Rennt weg.)
XIX, 8
DIRIGENT
(Hat die Schlusstakte dirigiert.)
HELLSINN
(Kommt vor.)
DIRIGENT
(Verabschiedet sich vom “Orchester”:) Ich danke euch. Bis morgen. (Geht mit Taktstock und Partitur.)
HELLSINN
(Zu seiner Frau:) Hellsinnige, wofür hast du denn die vielen Zitronen gekauft?
FRAU HELLSINN
Ich will Zitronenspeise machen.
HELLSINN
Darf ich den Topf auslecken?
FRAU HELLSINN
Nein. Ich nehme dich wieder in volle Verpflegung.
BEIDE
(Gehen eingehenkt ab.)
/Vorhang zu. Umbau./
***
XX
WÜRFELBECHERMANN und DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Kommen im Gespräch.)
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Ich beschwöre Sie also!
WÜRFELBECHERMANN
Ja doch!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Es ist die letzte Chance. (Geht.)
WÜRFELBECHERMANN
Der geht mir langsam auf die Nerven. Aber in einem Punkt hat er recht: Es ist die letzte Chance, Ihnen, meine Damen und Herren, etwas zu sagen, was ich bisher verschwiegen habe. Aber nun muss es heraus, denn das Stück geht unweigerlich seinem Ende entgegen.
In Israel gibt es Farmen, auf denen das Geld abgeschafft wurde. Diese Gemeinden leben in strenger Zucht, etwa so, wie wir uns das mit Empore und Hellsinn vorzustellen versuchten. Dort wurde aus der Möglichkeit also bereits Realität. Auch wir würden Ihnen dieses Stück Theater gerne vorspielen, ohne einen Pfennig zu verlangen. Leider aber steht das Ministerium für Geldabschaffung in Bonn aber noch nicht auf der Tagesordnung. Aber wir wollen erste Schritte machen. Deshalb haben wir kein Eintrittsgeld verlangt. Bei uns soll der Arme soviel Anspruch auf einen guten Platz haben, wie der Reiche. Unser Stück soll nicht gekauft werden, wie die Katze im Sack, auch nicht wie die Katze ohne Sack. Wenn man für eine Eintrittskarte Geld bezahlt, so kann man sich selbstzufrieden hinsetzen, und mit fug und recht “Ware” verlangen. Diesen Warencharakter wollten wir dem Stück nehmen. Wir können allerdings nicht verhindern, dass wir wie Bänkelsänger dastehen, wenn wir zum Schluss um den Obolus bitten. Dessen Höhe richtet sich nach Ihrer Wertschätzung. War Ihnen dieses Theaterstück keinen Groschen wert, so geben Sie neun Pfennige, war es Ihnen ein Opfer wert, so bringen Sie ein Opfer.
***
XXI – Modesalon
/Geschmackvolle, großstädtische, gespenstische Eleganz. Samtportieren, vollkommen leere, schöne Auslageschränke. Auf dem Ladentisch eine Registrierkasse, dahinter der ausgezeichnet gekleidete VERKÄUFER. Eine Schlange Frauenpuppen mit verrückten Hüten und rassigen Handtaschen steht vor der Kasse./
XXI, 1
VERKÄUFER
(Betätigt die Kasse, gibt der ersten Puppe einen Zettel.) Bitte, gnädige Frau. Vielen Dank. Sie kommen gleich dran. Der Rest geht wie vereinbart an Ihre Erben.
WÜRFELBECHERMANN
(Geht zum Verkäufer.)
VERKÄUFER
Verzeihung, mein Herr, aber dies ist ein D a m e n salon.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, ich wollte auch nur einige Fragen stellen.
VERKÄUFER
(Misstrauisch:) Ich weiß Bescheid. (Laut:) Meine Damen. Bitte seien Sie unbesorgt. Dies ist zwar ein verbotenes Unternehmen, aber die Geschäftsführung hat alle Vorsorge getroffen, dass Sie von einer Razzia nicht behelligt werden können. Im Falle der Gefahr löse ich eine Bombe aus, die den ganzen Salon in die Luft sprengt. (Zum Würfelbechermann:) Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?
WÜRFELBECHERMANN
Ja, wieso nicht?
VERKÄUFER
(Erstaunt:) Ja, sind Sie denn nicht von der Polizei?
WÜRFELBECHERMANN
Nein.
MNISTERGATTIN
(Kommt zum Verkäufer.)
VERKÄUFER
Ah, guten Tag, gnädige Frau Minister. Nun? Hat das letzte Stündlein geschlagen? Hat’s keinen Sinn mehr?
MINISTERGATTIN
Ich werde doch noch dran kommen?
VERKÄUFER
Selbstverständlich, gnädige Frau. Nur muss ich Sie leider bitten, sich hinten anzustellen.
MINISTERGATTIN
Natürlich. (Stellt sich ans hintere Ende der Puppenschlange.)
WÜRFELBECHERMANN
Darf ich also fragen?
VERKÄUFER
Bitte!
WÜRFELBECHERMANN
Also: Was ist das für ein Unternehmen?
VERKÄUFER
Sie befinden sich im ersten Haus am Platze. Der Modesalon für die obere Gesellschaftsschicht, stets bemüht, die Dame erstklassig zu bekleiden und – (Lächelt.) in der Abendgarderobe zu entkleiden.
WÜRFELBECHERMANN
Aber hier ist doch nichts!
VERKÄUFER
Wir haben Krieg, mein Herr. Und der vergangene Frieden war so kurz, dass eine Wiedereröffnung der Konfektion nicht lohnend erschien. Wir hatten den Frieden über geschlossen und haben heute erst mit Kriegsausbruch wieder aufgemacht.
WÜRFELBECHERMANN
Und was verkaufen Sie jetzt?
VERKÄUFER
Morde, die Mehrzahl von Mord. Garantiert schmerzlos, hygienisch und sicher. Eine Erfindung des Seniorchefs. Im vorletzten Weltkrieg eingeführt, hat sich seither bestens bewährt. Die Damen der oberen Gesellschaftsschicht, die den Mut zum Selbstmord nicht finden, wenden sich vertrauensvoll an uns, und wir töten sie nach den neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften in nahezu technischer Vollendung.
WÜRFELBECHERMANN
Und – wie?
VERKÄUFER
(Lächelt.) Das ist natürlich Geschäftsgeheimnis. Da man sich aus politischen Gründen weigert, das Verfahren zu patentieren, kann ich darüber leider keine Auskunft geben. Aber Sie können um das Haus herumgehen: Sie hören keinen Schmerzensschrei. Auch Blutspuren sind nicht zu finden. Ein Beschwerdebuch liegt aus, aber keine unserer werten Kundinnen hat es bisher benutzt. (Gibt ihm eine Geschäftskarte.) Darf ich Ihnen vielleicht ein Kärtchen überreichen, für die Frau Gemahlin und den weiblichen Bekanntenkreis. Mit den besten Empfehlungen.
WÜRFELBECHERMANN
Und das Geschäft geht gut?
VERKÄUFER
(Deutet auf die Schlange:) Zuerst nahmen wir 80, heute können wir 2500 pro Tod verlangen. Leider fehlt es uns an der gemäßen Unterhaltung. Wir hatten Jazzmusik, aber die Kundinnen verlangten mit einem gewissen Recht etwas dem Anlass entsprechend Ernsteres.
WÜRFELBECHERMANN
Da wüsste ich jemanden.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Stürzt vor.) Das ist mein Stichwort. Ich habe alles gehört. (Zum Verkäufer:) Mein Herr, ich zitiere Goethe.
VERKÄUFER
Großartig. Stellen Sie sich dort an die Wand und fangen Sie gleich an.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Stellt sich auf den angegebenen Platz und rezitiert im folgenden sein Gedicht – bis zum Ende!)
XXI, 2
AT 621
(Kommt zum Verkäufer, will ihm Geld geben.)
MINISTERGATTIN
Hinten anstellen.
VERKÄUFER
(Hochmütig zu AT 621:) Was wollen Sie denn hier?
AT 621
(Reicht wieder scheu das Geld hin:) Einmal bitte.
VERKÄUFER
(Misst sie von oben bis unten.) Das kostet 2500. So viel werden Sie wohl nicht haben. Sie befinden sich in einem Salon für die Oberschicht.
AT 621
Doch, ich habe so viel.
VERKÄUFER
(Schlägt um.) Oh, dann selbstverständlich, gnädige Frau. Ich muss Sie nur leider bitten, sich hinten anzustellen. Am Tag des Kriegsausbruchs ist immer besonderer Andrang.
MINISTERGATTIN
Das Bettelweib soll sich hinten anstellen
AT 621
Bettelweib? Ich kann mir für mein Geld kaufen was ich will. Alte Zicke.
MINISTERGATTIN
Miststück.
AT 621
Scheißhure.
VERKÄUFER
(Ruft beschwichtigend:) Aber meine gnädigen Frauen! Wir wollen doch hier keinen Streit mehr anfangen! Bedenken Sie, an wessen Schwelle Sie stehen! Wir haben durchgehend geöffnet, Tag- und Nachtdienst. Sie kommen alle dran.
AT 621
(Stellt sich hinter die Ministergattin. Grummelnd:) Bettelweib…
MINISTERGATTIN
Es war ja nicht so bös gemeint, Kindchen. Schließlich ist jeder neugierig und will keinen vorlassen.
XIX, 3
MINISTER
(Kommt und sucht seine Frau.)
MINISTERGATTIN
Was willst du denn?
MINISTER
Ach, da bist du ja, Gott sei Dank! Komm. Ich brauche nicht mehr Soldat werden. Stell dir vor: Der Kommandeur war eine uralte Beziehung von mir. Er hat mich gleich in den Aufsichtsrat einer der Fabriken gesteckt, die die neue Geheimwaffe produzieren. Also komm.
MINISTERGATTIN
Nein. Es ist eine uralte Weisheit, die dir jede Hausfrau bestätigen wird. Wenn man einmal in einer Schlange steht, soll man unter keinen Umständen weggehen.
VERKÄUFER
(Vermisst ein Geräusch.) Was ist denn bloß? Da fehlt doch was.
WÜRFELBECHERMANN
Goethe.
VERKÄUFER
Richtig. (Zum ziemlich seriösen Herrn:) Warum schweigen Sie?
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
Na, ich bin fertig.
VERKÄUFER
Immer gleich wieder von vorn. Wofür wollen Sie sich denn bezahlen lassen? Und drehen Sie mal den Kopf zur Wand. Es war ein bisschen laut.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tut alles, was ihm geheißen.)
MINISTER
Also bist du fest entschlossen?
MINISTERGATTIN
Ja.
MINISTER
Dann will ich auch nicht mehr leben. (Geht zum Verkäufer.) Sagen Sie: – (Flüstert.)
VERKÄUFER
Tja, mein Herr, das ist aber ein D a m e n salon.
MINISTER
Ja, ja, ich weiß, aber – (Flüstert wieder, gestikuliert und schmiert.)
VERKÄUFER
(Zuckt die Achseln.) Tja, das ist sehr schwer, mein Herr. An sich distanziert sich unser Unternehmen prinzipiell von dergleichen dunklen Geschäften. (Schaut das Schmiergeld an:) Aber, in diesem Falle wird es sich wahrscheinlich ermöglichen lassen. Sie wollen zusammen sterben; das ist schließlich zu verstehen. Bitte warten Sie doch dort drüben.
MINISTER
(Wartet.)
WÜRFELBECHERMANN
(Geht nach einer langen Pause langsam zu AT 621.) Nun?
AT 621
Warum sprechen Sie mich jetzt an? Jetzt hat es für niemanden mehr Sinn.
WÜRFELBECHERMANN
Ja, da haben Sie eigentlich recht. (Geht woanders hin.)
VERKÄUFER
(Nach einer kleinen Pause.) Meine Damen, lassen Sie sich doch ein wenig schunkeln. (Zum ziemlich seriösen Herrn:) He, Sie!
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Unterbricht seine Rezitation.) Bitte?
VERKÄUFER
Sprechen Sie doch mal so, dass man dazu schunkeln kann.
DER ZIEMLICH SERIÖSE HERR
(Tut, wie ihm geheißen.)
ALLE
(Sprechen leise das zerhackte Gedicht und schunkeln dazu. Auch die Puppen schunkeln.)
/Es klingelt./
VERKÄUFER
So, die nächsten vier Damen bitte.
XXI, 4
POLIZIST
(Kommt.) Halt, Razzia!
VERKÄUFER
Meine Damen, Sie wissen Bescheid. Keine Aufregung!
POLIZIST
Ist das hier der berüchtigte Modesalon?
VERKÄUFER
(Aggressiv:) Es ist der berühmte Modesalon. Und ich rate Ihnen, so schnell als möglich zu verschwinden.
POLIZIST
Verhaftet wegen Drohung gegen die Staatsgewalt. (Zur Ministergattin:) Verhaftet wegen Fahnenflucht.
MINISTER
(Schüchtern:) Erlauben Sie mal –
POLIZIST
Auch verhaftet.
MINISTERGATTIN
(Zu ihrem Mann:) Popanz bis in den Tod.
POLIZIST
(Zu AT 621:) Verhaftet wegen Leichenfledderung. Alles verhaftet. Ich werde befördert.
VERKÄUFER
Jawohl, Sie werden befördert, Herr Wachtmeister. (Zündet die Bombe an.) Fürchten Sie nicht, meineDamen: die Zündschnur brennt.
POLIZIST
Was?
WÜRFELBECHERMANN
Moment! Lassen Sie mich raus.
POLIZIST
Verhaftet.
VERKÄUFER
Meine Damen,- ich bitte um Entschuldigung wegen Massenabfertigung.
/Eine Explosion begräbt Menschen und Puppen unter den Trümmern des Modesalons. Vorhang bleibt auf./
***
XXII – Epilog
/Die Darsteller stehen auf, klopfen sich Staub aus den Kleidern und gehen ab, bis auf Charlotte und mich. Wir gehen nach vorn und sprechen den Epilog. Er ist bis zur Entdeckung der Waage kein Dialog./
ICH
Das Theater ist aus. (Deute nach hinten.) Die Trümmer sind ein wirksamer Schluss.
CHARLOTTE
Das Theater ist aus, nicht das Stück. Das hört nicht auf. Denn immer wieder liegen die Möglichkeiten vor uns.
ICH
Hinter uns liegt der Modesalon, liegt die Versöhnung des Paukers Hellsinn mit seiner Frau.
CHARLOTTE
– Hängt unerlöst das Schicksal des Würfelbechermanns, wie ein Luftballon in einem Baum.
ICH
Man hätte natürlich einen anderen Schluss dichten können. Der Würfelbechermann hätte in den Armen Empores zu reiner Menschlichkeit finden können.
CHARLOTTE
Das Radio des Würfelbechermanns hat Empore von dem Podest gestoßen.
ICH
Man hätte diesen Sturz symbolisieren sollen. (Mit einem Schuss Ironie:) Empore, Inkarnation der Zukunft, opfert sich, um der leidenden Gegenwart, verkörpert im Würfelbechermann, zu helfen.
CHARLOTTE
Wir sollten also noch ein Stückchen dichten, wie Würfelbechermann und Empore zusammenkommen, aber unsymbolisch.
ICH
Unsymbolisch? Dann würde das Stückchen länger werden, als das Stück, viel länger als unsere Theatergeduld, ja vielleicht länger als unser aller Leben.
CHARLOTTE
Es ist nicht zu spielen, nicht zu dichten.
ICH
Dieses Stückchen Liebe müssen wir alle miteinander leben.
CHARLOTTE
Heute damit anfangen.
ICH
Nie damit aufhören, solange Zeit und Raum d i e s e r Welt unsere Grenzen sind.
CHARLOTTE
Nie aufhören … (Entdeckt die Waage.)
Was liegt auf der Waage?
ICH
In diese Schale (die niedrigere) hat der Würfelbechermann Wohnküche, Angst, Einberufung und Willkür getan; in die andere Geldabgabeschalter, Papierkorb, Verständnis und Verhaftung mit dem Kreuz. Da ist es leichter.
CHARLOTTE
Dann können wir dem Stück doch noch einen Schluss geben. (Flüstert etwas in die leichtere Schale: die Waage gleicht sich aus.)
ICH
Was hast du getan?
CHARLOTTE
Ich habe die Liebe dazugeflüstert.
ICH
Ist sie so schwer?
CHARLOTTE
Die Liebe ist eine Last, und wir Würfelbecherleute müssen sie auf uns nehmen.
WIR
(Gehen langsam ab.)
*****