Kommen und Gehen – Bild 8

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Bühnenbild von Rolf Christiansen

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Kommen und Gehen – Achtes Bild

Wohnzimmer.
Mit geringen Veränderungen ad libitum (etwas kriegsverkommen), wie zweites und sechstes Bild. Weihnachtsbaum.

SIE (kommt von hinten.)
Guten Morgen, lieber Baum! Gestern sollte er kommen. Unter deinen Zweigen, grüner Freund, wollte ich als Geschenk in seine Augen schauen und seinen Mund küssen. Wir wollten nicht sprechen, weil Worte so klein sind. Ich habe mir alles so deutlich vorgestellt. Aber gestern nicht zum ersten Mal. Schon in der Maisonne habe ich mir alles deutlich ausgemalt. Dann in der Sommerhitze, ganz deutlich, oder im Herbststurm auf der regennassen Straße. Oder in der Adventszeit unter den Mistelzweigen den ersten erlaubten Kuss, obwohl wir Mistelzweige ja nicht mehr brauchen. Wir tun’s auch so. Und nun kann ich es mir für Sylvester vorstellen oder an meinem Geburtstag oder zu Ostern… Oder – im Himmel, wo du vielleicht schon bist und wo ich erst hinkomme als alte Frau. Vielleicht wirke ich dann wie deine Mutter. Und wie soll ich das Leben bis dahin ertragen?

Entschuldige, lieber Baum, die lange Rede, aber deine Brüder werden dasselbe erlebt haben. Es ist 1945 ein Fest, wo sehr viele Selbstgespräche gehalten werden, weil so viele Menschen so grenzenlos allein und einsam sind. (Geht links ab.)

(Man hört, dass die Wohnungstür offen bleibt.)

ER (kommt in seiner Uniform von links.)
Die Tür ist offen. Ich konnte herein, ein altbekannter Fremder. Guten Morgen. Ich bin der Besuch, der immer ein paar Wochen kam, ein bisschen Ehe probierte. (Zu den Sachen:) Sie erinnern sich? (Geht herum, entdeckt Bekanntes.) Daheim und bewohnt. Von ihr bewohnt. Ihr Weben ganz deutlich hier in der Luft… Was willst du eigentlich, Peter, Lächeln oder Weinen? So oft habe ich mir das vorgestellt. Am ersten Feiertag…

(Der Kessel pfeift.)

ER (geht hinten ab.)

(Das Pfeifen hört auf.)

SIE (ist mit einer Kaffemühle in der Hand gekommen, beim Aufhören des Pfeifens bleibt sie im linken Türrahmen stehen.)

ER (kommt von hinten wieder und bleibt im Türrahmen stehen.)

BEIDE (schauen sich an, heben die Arme zueinander und gehen. Die Hände fassen sich wie ein Wunder. Die Arme öffnen sich. Sie stehen aneinander und umarmen sich mit einem leisen Laut.)

ER
Eva…

SIE (schaut ihn unter Tränen lächelnd an.)

ER (küsst ihr die Tränen vom Antlitz.)
Es kann auf dieser Welt kein größeres Glück geben, als deine Tränen aus dem lächelnden Antlitz zu küssen. Weine doch weiter.

SIE
Die dumme Kaffemühle. (Stellt sie weg, reibt sich die Augen.)

ER
Nicht reiben. Das ist zu kostbar, – diese Perlen – zu einmalig.

SIE (schiebt ihn etwas von sich weg.)
Du, ich kann es wieder nicht fassen. Oh Gott, warum machst du mir die ersten Worte so schwer.

ER
Gott kann es wohl nicht ändern. In unserem Finden liegt mehr, als Worte auszudrücken vermögen.

SIE (zieht ihn wieder an sich, legt ihren Kopf an seine Schulter und atmet glückselig aus.)
Nein nein, jetzt ist es mir schon klar. Ja, Peter, ja, du bist mein Peter. Bist du mein Peter geblieben?

ER
Jetzt bin ich überhaupt erst dein Peter geworden.

SIE
Du, das ist er. Hab vielen Dank, dass du ihn mir doch noch beschert hast. (Zu ihm:) Schau her, wie er sich jetzt freut. Ich habe ihm gestern Abend so viel von dir erzählt. Und jetzt eben noch… Ja, da hatte ich mein letztes Selbstgespräch mit ihm. Nun wollte er wohl daraufhin deine persönliche Bekanntschaft machen.

ER
Guten Tag, Herr Tannenbaum.

SIE
Ja, sei nur höflich zu ihm, er leuchtet abends so schön.

ER

Tausendmal habe ich mir das Wiedersehen vorgestellt. In allen Variationen. Ich wusste ja nicht, ob die Wohnung überhaupt noch existiert. Du wusstest wenigstens, wo du es dir vorstellen konntest.

SIE
Ich konnte es mir allerdings auch im Himmel vorstellen, denn ich wusste ja überhaupt nicht einmal, ob du überhaupt noch lebst. Wie viele vergebliche Suchpostkarten habe ich losgelassen. Warum hast du nicht geschrieben?

ER
Ich lag mit einem Kopfschuss im Lazarett und schrieb ganz wirre Briefe. Ich durfte auch keine Briefe empfangen. Die Poststelle passte da auf. Dr. Benedikt leitete sie.

SIE
Dr. Benedikt? Die Poststelle? Die Vase.

ER
Ja, dein Dr. Benedikt. Er ging in seinem Pflichtbewusstsein auch so weit, dass er nach meiner Genesung sämtliche Post zurück hielt. Eva. Durch diesen Mann habe ich nichts von dir erfahren, bis vor fünf Tagen, als ich entlassen wurde.

SIE
Und ich wusste nichts von dir.

ER
Er muss dich furchtbar geliebt haben.

SIE
Ja, furchtbar ist das richtige Wort. Er hat uns viel Leid zugefügt. Hasst du ihn darum?

ER
Ich kann nicht mehr hassen. Weder Dr. Benedikt, noch Hitler, noch sonst wen. Nur noch einer Sache gilt mein Hass: dem Hass und mit ihm dem Schlechten, dem Gemeinen, dem Unsachlichen. Ich habe erkennen müssen, dass dieser grausame Mensch liebens- und bemitleidenswert sein kann. (Holt die Vase aus der Tasche.)

SIE
Die Vase!

ER
Ja, ich fand sie bei ihm.

SIE (zögernd:)
Ich habe – damals –

ER (unterbricht:)
Ich weiß alles. Ich weiß, wie oft du mit ihm beisammen warst in den unendlich vielen Tagen unserer Ehe, die wir getrennt verlebten. Ich will darüber kein Wort verlieren. Es war so schön, das von ihm und nicht von einem Dritten zu erfahren. Bevor ich entlassen wurde, ließ er mich rufen und gestand alles, das mit der Post und wie er dich verehrt und geliebt hat. Und als ich die Vase im Zimmer entdeckte, erzählte er mir die ganze Geschichte. Aus seinem Mund erfuhr ich sie nun doch. Endlich. Sie ist ja sehr alltäglich. Erschütternd aber war, wie er immer mehr zusammenfiel bei der Erzählung, irgendwie von der eigenen Schuld erdrückt. Er bat mich dann um Verzeihung, und ich reichte ihm lächelnd die Hand. Da kam in das harte Gesicht ein so leerer, müder und doch empfangsbereiter Ausdruck… Dann schenkte er mir die Vase (Stellt sie unter den Baum.) Und ich schenke sie dir nun zu Weihnachten zurück.

SIE
Wenn du nun nicht mehr hassen kannst, dann kannst du doch sicher auch nicht mehr eifersüchtig sein.

ER
Ohne Grund gewiss nicht.

SIE
Glaubst du, dass ich dir jemals Grund dazu geben werde?

ER (umarmt sie.)
Nein. Ach, jetzt wird überhaupt alles viel besser.

SIE
Und ich habe gar nichts für dich für Weihnachten.

ER
Du konntest doch nicht wissen, dass ich komme.

SIE
Nein, das konnte ich nicht. Wie sehr Gefühle trügen… Ich erinnere mich, dass ich oft durch die Straße förmlich getrieben wurde, weil ich so bestimmt zu wissen glaubte, du wärst da und könntest nicht herein. Ich rannte bis zum letzten Treppenabsatz, den Kopf immer nach oben. Und dann die Enttäuschung, wenn vor der Wohnungstür niemand stand. Niemand hinein wollte, niemand… Vielleicht hätte ich ein Geschenk für dich besorgt, wenn ich dieses Gefühl an einem der letzten Tage gehabt hätte. Aber es war nichts.

ER
Du hast doch etwas für mich besorgt, oder vielmehr für mich bewahrt. Und ich bitte dich, es mir zu schenken: Dich selbst.

SIE
Ach, ich bin doch keine Überraschung.

ER
Doch, für mich immer wieder.

SIE
Ja?

ER
Außerdem würde mir auch das genügen, was ich schon kenne.

SIE
Naja, aber so ein richtiges Weihnachtsgeschenk …

ER
Sei nicht so hartnäckig. Du kannst mir das Schönste schenken, was es für mich auf dieser Welt gibt. Und dich erinnere mich, dass du sehr glücklich warst, als du es mir zum ersten Mal schenktest. Der Ring… erinnerst du dich?

SIE
Am nächsten Morgen rücktest du ein.

ER
Heute bin ich wieder gekommen.

BEIDE (umarmen und küssen sich.)

ER (schließlich:)
Außerdem kannst du mir doch sicherlich einen Kaffee kochen zu Weihnachten.

SIE
Einen Kaffee?, ja natürlich, sogar gleich. (Geht hinten ab.)

ER
Erster Feiertag…

SIE (kommt wieder mit der Kaffeemühle, will ab.)
Kaffee, Kaffee…

ER (befiehlt:)
Kuss.

SIE (gehorcht und geht ab.)
Kuss, Kussssss

(Man hört die Kaffeemühle im Folgenden.)

ER
Friedensweihnachten. Feiertag, – das klingt so feierlich. Der erste Feiertag war eigentlich der Inbegriff von Frieden und Faulheit in meiner Kindheit. Die furchtbar gesteigerte Spannung der Adventszeit hatte aufgehört. Am Heiligabend sagte der Vater dann immer „Da haben wir die Bescherung,“ um seine Rührung zu verbergen. Dann schlief man mit dem schönsten Geschenk. Und dann das Aufwachen mit dem neuen Besitz. Man liest in den neuen Büchern, man fährt mit dem neuen Auto über die Bettdecke, man probiert. Apropos: man probiert.

SIE (kommt mit einem Zivilrock.)

ER
Du kannst mir wohl die Wünsche von den Augen ablesen?

SIE
Oh nein, viel mehr. Direkt vom Herzen. Da. (Befühlt das Herz und geht nach hinten ab.)

ER (wechselt die Kleidung, geht nach hinten zum Fenster, um es als Spiegel zu benutzen, schaut hinaus, geht plötzlich bewegt durch das Zimmer.)

SIE (kommt mit einem Tablett.)
Peter, ich habe gar kein Brot im Haus. Dafür habe ich auf fast alle Marken mehr oder weniger schmackhaften Friedenslebkuchen gekauft.

ER (zerstreut:)
Ist ja egal.

SIE (schenkt Kaffee ein.)
Was hast du denn?

ER
Ich? Oh, ich habe aus dem Fenster geschaut.

SIE (setzt sich.)
Komm, setz dich und erzähle, was du gesehen hast.

BEIDE (frühstücken im Folgenden)

ER
Ich sah zwei Beinamputierte auf Krücken durch die Straße gehen. Der eine kam von links, der andere von rechts. Gerade gegenüber von unserem Fenster begegneten sie einander, ohne auf den anderen auch nur aufmerksam zu werden. So, als ob sie beide gesund wären. Und nun stelle ich mir vor, dass jeder der beiden aus dem Lazarett kommt, um die Mutter zu besuchen. Und die Mutter des einen wohnt ganz in der Nähe vom Lazarett des anderen.

SIE (beschwichtigend:)
Peter.

ER
Merkst du eigentlich die entsetzlich gähnende Sinnlosigkeit der Begegnung? Dieses vollkommen aller menschlichen Vernunft und Logik Spottende?

SIE (entschieden:)
Ja, ich merke es, aber ich will nicht. Will nicht am ersten Feiertag, wo ich dich wiederbekommen habe.

ER
Du musst aber. Jeden Tag musst du es dir vor Augen halten. Offene Augen. Weg mit der Verdunkelung! Der Krieg ist aus.

SIE
Ja, er ist aus. Er hat sehr viel Kraft gekostet und … Wir können manchmal nicht mehr. Du kommst aus der Ruhe eines Lazaretts und hast die Nachkriegszeit mit ihrem Unfrieden und ihren ergebnislosen Konferenzen nicht miterlebt.

ER
Oh, ich habe auch Zeitung gelesen. Und mich manchmal gewundert über die kindlichen Fragen auf den Konferenzen und die Unruhen in China und Indien und Palästina und Persien und Griechenland und Ägypten und Italien und Spanien und Bolivien und Argentinien. Die Tageszeitung ist ein Witzblatt geworden, wenn man bedenkt, dass das Frieden sein soll.

SIE
Ja, aber ein sehr grausiges Witzblatt. Du hast dich gewundert über diese Meldungen im ersten Friedensjahr. Wir haben geschaudert, denn wir sahen, wohin sie führen: zu weiterem Hungern und Schlange Stehen und Beschwerlichkeiten.

ER
Woher kommen sie?

SIE
Ich weiß es nicht. Aus dem Gären dieser Zeit. Dieser Krieg war doch wie eine riesige Flut. Die muss sich nun verlaufen und von den Menschen eingedämmt werden. Noch wandert sie ruhelos und stiftet weiteren Unfrieden. Das Lesen der Tageszeitung ist für jeden fühlenden Menschen eine Qual geworden, vielleicht auch für die wirklich denkenden. Wenn jeder Blick aus dem Fenster auch eine Qual sein soll, dann werde ich wahnsinnig.

ER
Dann werde wahnsinnig. Wenn alle Menschen wahnsinnig werden, vielleicht kommt dann die Einsicht.

SIE
Die Deutschen unter Hitler sind auch wahnsinnig gewesen und kamen immer weiter weg von der Einsicht. Wir müssen alle nach den neuen Maßen suchen, die alten sind ungültig geworden. Aber geduldig müssen wir suchen, nicht wahnsinnig.

ER
Vielleicht hast du recht. Hitler hat vielleicht in seine zwölf Jahre das gepresst, was er in tausend Jahren zu vollbringen gedachte. Vielleicht müssen wir ihm dafür sogar dankbar sein. Nach wirklichen tausend Jahren hätten wir vielleicht unser Wesen und die Inhalte verloren gehabt. Schau: so wie wir heuten für einen Wintermantel ein anderes Maß nehmen, als der Schneider Karls des Großen für den Krönungsmantel, so müssen wir uns heute schneller mit den Dingen abfinden, an die zu gewöhnen man früher Generationen Zeit hatte. – War ja ein toller Satz.

SIE
Toll! Noch mal!

ER
Kann ich nicht. Jedenfalls: der Zeit gerecht werden. Aber wie kann man das bei Hunger, Not und Elend?

SIE
Bist du wirklich so hart geworden, Peter? Wir beide – (Dringlich:) Ist das nichts?

ER
Wir beide?

SIE
Ja. Ein Liebespaar.

ER
Es geht doch wohl um mehr. Es geht um die Menschheit.

SIE
Was ist denn die Menschheit? Eine Ansammlung von Liebespaaren.

ER
So könnte man vielleicht in einem modernen Lustspiel argumentieren. Das ist ein Bonmot. (Geht wieder auf und ab.) Hat doch mit den wirklichen Problemen nichts zu tun.

SIE
Schade.

ER
Die Ruhe des Lazaretts war schön, aber gefährlich. Ein wenig Kaspar Hauser. Ich glaubte, in eine Welt entlassen zu werden, die den rechten Weg geht, zumindest weiß. Nun muss ich sehen, dass sie ihn bestenfalls händeringend sucht. Ich suche ihn auch.

SIE
Die Liebe ist es nicht?

ER
Du bist wieder weiblich.

SIE
Ich bin seit meiner Geburt weiblich. Du solltest es am besten wissen.

ER
Ich weiß es ja, Eva. (Geht zu ihr.) Ach Gott, Eva, bändige doch in mir, was da wieder kommt.

SIE (wird ängstlich)
Was kommt denn?

ER
Wie ein Motor ist das, den man von Zeit zu Zeit anwirft. Dann arbeitet er und lässt keine Ruhe und keine Gedanken aufkommen.

SIE
Peter, ich habe Angst um dich.

ER
Nicht um mich, Eva. Höchstens – um uns beide.

SIE (erschrocken:)
Nein, Peter. Nein, wir müssen nun endlich einmal leben. Wir sind ein Ehepaar. Ich erwarte ein Kind von dir.

ER
Red doch keinen Unsinn.

SIE
Doch. In zehn Monaten etwa.

ER
Du, wenn ich mir vorstelle, dass ich mich morgen auf eine Behörde anmelden muss und dass ich anstehen muss, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Und dann das Arbeitsamt, und dann muss ich Geld verdienen und bekomme einen Chef. Nein! Ich kann das nicht. Ich muss weg. Fliehen.

SIE
Peter, vor diesen Dingen kann man nicht fliehen. Wie oft habe ich ähnliche Gedanken, wenn ich nach Heringen oder sonst was anstehe. Ein so mechanisierter Krieg musste notgedrungen die Mechanisierung des einzelnen Lebens mit sich bringen. Es ist heute bestimmt nirgends in Europa anders.

ER
Ich bin zutiefst deprimiert.

SIE
Keine Superlative bitte. (Klar und entschieden:) Du hast dieses Leben zu leben. Und ich, deine Frau, verlange von dir, dass du es mit mir lebst. Ich habe sechs Jahre lang auf dich gewartet, sehr geduldig. Aber ich fühle keinerlei Neigung, weiterhin zu warten. Auch ich will nun dieses, mein Leben leben. Und wenn du mich jetzt wirklich wieder verlässt, dann könnte etwas geschehen, was ich schaudere auszusprechen: meine Liebe zu dir könnte erlöschen.

ER
Vielleicht wäre das gut. Vielleicht soll ich ganz allein und ganz einsam sein. Es ist eine unzähmbare Unruhe in mir. Ach. Alle Worte vermögen das nicht auszudrücken. Eva, du kannst mich gar nicht aufgeben.

SIE
Doch, Peter, überschätze die Größe meiner Liebe nicht. Deine Flucht würde mich nämlich demütigen. Ich weiß, dass ich ohne dich in meinem Herzen nicht glücklicher würde. Aber ich würde weiterleben. Nenne mich weibisch oder wie du willst.

ER (unruhig:)
Ich gehe ja nicht. Bin ja ein Bürger, werde mich schon abfinden. Können wir nicht zusammen gehen? Können wir nicht ein Märchen leben? Wir gehen ganz unbekümmert um Not, Elend, Nachkrieg, Friedlosigkeit und Hunger durch diese Welt – auf unseren Wegen.

SIE
Wohin?

ER
Nach Tibet. Es gibt Menschen, die ganz ernsthaft behaupten, dass in den Klöstern Tibets Europas Geschichte gemacht wird, nicht hier.

SIE
Tja, vielleicht wollen aber die Menschen etwas von uns hier. Haben wir nicht Verpflichtungen?

ER
Ja? (Geht weg von ihr.) Nein, ich muss weg von dir. Ich spüre nichts von derartigen Verpflichtungen. Ich will nicht fliehen, nur suchen!

SIE
Peter, wieder gehen?

ER
Und kommen. Kommen und Gehen ist das Gesetz, dem wir unterworfen sind, das Gesetz des Lebens.

Dinge kommen, Dinge gehen. Unaufhörlich ziehen sie an uns vorbei. Gute, schlechte, leichte, ferne Dinge. Wir können zupacken oder sie ziehen lassen. Krieg hieß ein Ding. Es wurde aufgegriffen, groß gemacht, weil die Menschen egoistisch sahen, nicht das Ding. Die guten Dinge zogen traurig, unbenützt weiter, – jahrelang…

Menschen kommen und gehen. Beinamputierte aus Lazaretten, Menschen mit ausgestreckten Armen und offenen Händen, verschlossene Gestalten, Besessene. Wir können umarmen, wir müssen Verstockte aufzuspüren suchen, Unleidliche zu meiden trachten. Einer hieß Hitler. Er war klein und gering und wurde zum Gott gemacht. Die guten, wertvollen Menschen starben und verdarben. Bitter ist das Ende dieses Missgriffs.

Wie unzählige, laufende, ineinander verwobene Bänder ist das Leben, unaufhörliches Kommen und Gehen; tausendfältig, bunt, schillernd… Dieses Gesetz, – ich muss ihm gehorchen. Gehen…

SIE
Wohin?

ER
Ich weiß es nicht.

SIE
Und was tun?

ER
Suchen! Suchen! Suchen!!! (Verzweifelt:) Und wenn ich nichts finde, ich muss gesucht haben. Das Leben ist qualvoll geworden. Aber du hast Recht: es muss so gelebt werden, wie es ist. (Geht links ab, kommt wieder, bleibt in der Tür stehen.) Ich habe unendliche Sehnsucht nach dir. Ich liebe dich. Weißt du, was ich können müsste? Ich müsste vor die knien können, ich müsste meinen Kopf in deinen Schoß legen können und weinen können. Oh, wer weinen könnte… Ich kann es nicht. Es läuft alles über… Ich muss das Gefäß suchen. Anders kann ich es nicht sagen. Mit dem Gefäß komme ich wieder. (Geht links ab.)

SIE (erwacht aus einer Starre, schreit:)
Peter! (Nach einer Pause, leise:) Kommen und Gehen. (Lässt den Kopf auf den Arm fallen.)

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Zu Kommen und Gehen

Claudia zur hiesigen Veröffentlichung

Presseschau und Zuschauerbriefe von damals

Autobiografischer Monolog von 1947 – Das Stück “Kommen und Gehen” berichtet

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